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Annette Brüggemann: satellite feeds / supa sista

Vorgestellt von Kerstin Dümpelmann

satellite feeds

wir sind kalte sterne
wie die briefleserin am offenen fenster (vermeer)
von 1657, in ihren weißen händen
hält sie den purloined letter
echos fortlaufender pferde...
gescannt!

später BERLIN auf dem screen:
lunar-park, interstellar
elche grasen in der
unsichtbarkeit der ströme
das musst du dir mal reinziehen


(satellite feeds)


ich surfe hindurch mit erhobener hand
der heißen sonne entgegen



Sucht man in diesem Gedicht nach etwas, was als Thema durchgehen kann, bietet sich eine gute Auswahl an. Auf kleinstem Raum tummeln sich Anspielungen auf den großen Bruder MEDIEN, sei es mit Vermeers Gemälde, dem purloined letter, einem Fernsehbildschirm, dem PC-screen, dem surfbaren Internet oder dem zappbaren Satelliten-TV. Dazu noch die Allgegenwärtigkeit des Elektrosmogs, auf dessen Wellen der Surfer, Bezwinger von Touchpad und Keyboard, siegessicher der Glückseligkeit entgegenfiebert.

satellite feeds ist ein bildgewaltiges Gedicht, das sich aber nicht in der Idylle des Bildes ergeht. Gerade das verstört, treibt es doch den Leser vor sich her und lässt ihn zu keiner Zeit auf dem gerade Gefundenen ausruhen. Dabei sind Brüggemanns Bildwelten doch so verführerisch.

Mit den kalten Sternen und Vermeers Briefleserin drängt sich die Realität-Abbild-Debatte in der ersten Strophe geradezu auf. Kalte Sterne existieren nur noch als Abbild ihrer selbst, als Lichtreisende auf dem Weg durchs All, Absender unbekannt. Ähnlich in der Malerei. Die Stimmung der ersten Strophe ist eine nostalgische Versenkung – bis zum erkennenden (oder erbosten?) Hochschrecken. Gescannt? Ist die Briefleserin einer grobpixeligen Kunstpostkarte zum Opfer gefallen? Das Abbild vom Abbild?

Metropolenwechsel von Delft nach BERLIN. Während dessen hat sich die Zeit ein wenig weiter gedreht (die kalten Sterne sind immer noch unterwegs). Medienwechsel von Leinwand zur Screen. An Stelle der echoenden Pferdehufe gibt es nun Elche, die in unsichtbaren Strömen baden. Das scheint jemandem zu missfallen. Oder nicht?


Das Gedicht eröffnet mit einem Nichts und endet in Zerstörung. Jetzt muss sich die heiße Sonne nur noch zum kalten Stern wandeln und der Zyklus ist perfekt. Fressen-und-gefressen-werden, die satellite feeds, erinnert an eine digitale Abwandlung der Darwinschen Überlebensstrategie. Die briefleserin am offenen fenster funktioniert auch als Kunstpostkarte oder zumindest gescannt! Du, also das ich und wir, bist Ursache und Wirkung, Surfender und Gesurfter, die Motte, die zum Licht taumelt. Aha. Natürlich ist diese Lesart eine medienkritisch motivierte. Ist das verwunderlich? Annette Brüggemann ist vom Radio geschult.

Sie malt in ihren Gedichten weder Gemälde, noch singt sie Lieder. Sie erzählt auch keine Geschichten, denn sie weiß um die kurze Aufmerksamkeitsspanne des Menschen.



supa sista


im herzen der wildnis gefahr
ich muss in den lavastrom
springen, ich muss die sprache
um den canyon wickeln


im meinem zimmer geht die sonne
auf, als wäre dies ein naturgedicht
ist es aber nicht
dies ist ein hellgrünes demotape
eine leuchtende blue box
ein ausgelutschter ally-mythos


ein cowboy wäre mit einem
move aus dem bild geritten
ich aber bleibe & schweige
schweige & bleibe


beame
mich hinein
in die bildröhre
bin ein manga
eine türkis blitzende eidechse
in der wüste nevada
eine sista william blakes


(nobody)


king, kosmos
& stäubchen



ich muss die sprache um den canyon wickeln, ist wohl die schönste Zeile in supa sista. Anders als satellite feeds benutzt es sich selbst als poetologischen Exkurs. Es kann keiner tranquilen Besinnung eine romantische Reflexion entlocken, auch wenn es sich bleibend & schweigend & schweigend & bleibend noch so viel Mühe gibt. Trotzdem geht die Sonne auf im Zimmer, der Gedankenschmiede des Poeten. Das Gedicht schwankt zwischen Kritik und Zuspruch, ist gefangen in romantischen Motiven, die von zeitgenössischen durchbrochen werden. Dabei sind die lyrischen Urkräfte in Romantik und Gegenwart gar nicht so verschieden. Magnetisierend zerren Natur und Fortschritt, lavastrom und bildröhre an der Dichterin, der sista william blakes.

Bescheidenheit im Geiste (nobody) und ironischer Größenwahn (king, kosmos & stäubchen) lösen das Gedicht auf. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Während satellite feeds diese Frage zumindest im Sinne eines Themas zu begegnen vermag, zerfasert supa sista in der Suche nach lyrischer Orientierung und Re-Positionierung. Wie schwer man die beiden Gedichte nehmen sollte, lässt sich kaum entscheiden. Ich lese sie als Oden an den Moment, deren Nährlösung bunte, rasante und uneindeutige Augenblicke sind. Das ist tragisch-komisch. Andere mögen es krisenhaft nennen.