NRW-Anthologie > Beitrag

NRW-Anthologie

Texte aus Nordrhein-Westfalen
Weitere Beiträge
  • Paul Anton Bangen: IM BANN DES MÖRDERBETTES!

    Kommentiert von Marc Degens
    [18.12.2017]
  • Leander Scholz: Fünfzehn falsche Sekunden (Auszug)

    Vorgestellt von Enno Stahl
    [14.12.2017]
  • Klopfzeichen

    von Horst Landau
    [08.11.2017]
  • Thomas Krüger: Dieter Bohlen hat...

    Walter Gödden über einen neuen Gedichtband von Thomas Krüger
    [01.11.2017]
  • Katrin Askan: Miraflores (nach dem Menü)

    Vorgestellt von Kerstin Dümpelmann
    [15.10.2017]
  • aufblendabend|abblendtag

    von Sven-André Dreyer
    [14.09.2017]
  • freisprechanlage

    von Manfred Enzensperger
    [02.08.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

Einige wolkige Momente kreieren...

Enno Stahl über Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht

"Ein paar Wolken mehr oder weniger da oben,
das ist mir egal... das ganze Bild kann ich nicht
überblicken."


Dieses Blau heute ist phantastisch.


Ich komme gerade in dem Moment ins Zimmer. Es ist
unaufgeräumt. Auf dem Fußboden liegt
die Zeitung von gestern, die nicht zu Ende

gelesen wurde. Soll ich sie zu Ende lesen?
Etwas Unnützes überredet mich, es nicht zu tun.

Ein paar Wörter... ein paar,
die mir gefallen.

Ich mag das und auch das Tempotaschentuch,
das die ganze Nacht dort vor dem Bett gelegen
hat.

 

Wenn ich "hoch" genug gekommen bin,
werden diese Sachen klarer.


Ein weiches Stück Papier,
ein Tempotaschentuch,


in dem du bist.

Ich hebe es vom Boden auf und putze mir damit die Nase.
Das ist ein schöner Kontrast zu dem Blau,
das zwischen den Wolken ist, die auch gleich draußen


über dir sind. Du siehst hoch; du siehst "Wolken".
Es sind dieselben, die in dem Wort Wolken sind,


auf diesem Blatt Papier, in meinem Zimmer,
in mir drin,
blau.

//Es ist ein Moment: ein Augen/Blick im eigentlichen Sinne - in dem Rolf Dieter Brinkmann aus dem Fenster schaut und den Ausschnitt wahrnimmt: jenen Ausschnitt, den jede Wahrnehmung letzlich bedeutet, weil das ganze Bild lässt sich nicht überschauen - dieses Bild = das Ganze: ist nicht nur eine Projektion der optischen Organe, sondern Stimulus einer Gesamtsituation - am Morgen: wenn ich hoch genug gekommen bin: den Kopf noch in den Wolken - aus Traum & Schlaf = den Kreislauf-Niederungen... und die unmittelbaren Gegenstände des Alltags Form gewinnen (welche Form? Besitzen sie tatsächlich eine festlegbare Gestalt? Oder sind sei nur Illusion: labile flexible Gebilde = Wolken, die von Zeitpunkt zu Zeitpunkt sich verändern bzw. ganz vergehen). Die Wolken also sieht man, fühlt man - es ist auch diese Leichtigkeit des sonnigen Morgens in der Engelbertstr. 65, 4. Stock, und aus dem Dachfenster kann man den Himmel sehen, der blau ist, aber nicht wolkenlos: was einen guten Kontrast macht - genau wie das Spermataschentuch von gestern, mit dem man sich gleichwohl die Nase putzen kann, denn es ist ja nur ein Teil von dir und macht so-oder-so keinen Unterschied: nein! Es gestattet im Gegenteil eine Art (Selbst-)Vergewisserung - dass die Dinge da sind, handhabbar, materiell, überschaubar... Und so gesehen anders als die Wolken: denn diese sind durchaus nicht greifbar, auch wenn das "Wort" begreifbar ist: es sind die Wolken meiner Vorstellung: die ich sehe, wenn ich das Wort auf seinen lebendigen Vorstellungsinhalt hin abschmecke - ebendiese Wolken sind die einzigen "Wolken", die ich erkennen kann: die für mich wirklich existieren - und es sind ebenjene, die zum Gedicht werden: die "auf dem Papier sind" = schwarz auf weiß und dennoch weiß... Zu einem gegebenen Zeitpunkt an einem gegebenen Ort in einem gegebenen Bewusstsein... Und dort geschieht das Erstaunliche: sie wechseln die Farbe und werden BLAU! So wird deutlich, dass Wolken & Azur kein Gegensatz sind, sondern die beiden Teile einer einzigen Anschauung - einer Anschauung, die transportierbar sein mag (z.B. mit Hilfe eines Gedichts) und doch grenzenlos subjektiv bleiben muss, weil sie Ergebnis einer situation, einer Bündelung von Sinnesreizen ist, die so und auf diese Weise nur das Subjekt der Anschauung erfahren kann. Und wenn es umgekehrt alle maßgeblichen Augen/Blicke, Fragmente & Faktoren mitteilt - in den Gedanken-&Sinnesfetzen, die das Gedicht erzeugen -, ermöglicht es anderen Menschen ihre eigene Version der "Wolken" herzustellen, ihre eigenen `wolkigen Momente´zu kreieren oder aber ihre Version der Version eines andern nachzuvollziehen...//

Erstveröffentlicht in: Kleine Kölsche Anthologie. Gedichte und Interpretationen, hrsg. v. Walter Wittkämper, Bergisch Gladbach 1998