Miraflores (nach dem Menü)
Nachts um drei in der Küche
Kamillentee gegen den Krieg
von Fisch und Creme Caramel
gegen das Stechen im Magen
Zu viel zu spät gegessen
Kalte Fliesen nackte Füße
um die sich Zugluft schnürt
und in der Teetasse bläht sich
der Beutel zur Wasserleiche auf
Auf dem Tisch zwei Gräten übrig
ein vertrockneter Tropfen der Sauce
platzt unterm Daumennagel weg
Schluck um Schluck heiß
Kein Auto ist von draußen zu hören
nur der Kessel summt noch und knackt
Im Magen ist’s dunkel
pflegte meine Tante zu sagen
Kannte sie Kamillencremefisch?
Der Kühlschrank springt an
und ein winziges Tier
jagt zum Abfluss
über die Wand
Man hört das Rühren eines Teelöffels. Man hört das Spleißen eines Saucetropfens und das Krachen des Kesselmetalls. Man kann sogar den Durchzug am eigenen Knöchel spüren. Und der voll gestopfte Bauch nach einer, sagen wir, gut bürgerlichen Drei-Gänge-Völlerei? Die Vorstellung liegt schwer im Magen. Jede Bewegung in Miraflores vermittelt ein Schaudern, sei es die blähende Teebeutelleiche oder der Kühlschrank, dessen Anspringen wie ein Beben die Küchenfliesen erschüttert. Die Geräuschkulisse ist alles andere als feinklingend. Es ziept, knackt, pfeift und schlürft in die Stille. Miraflores spielt mit den Sinnen. Es ist die Szenerie einer Orientierungslosigkeit auf vielen Ebenen. Die Szene kommt irgendwo her, geht vielleicht auch irgendwo hin.
Zusammen mit dem winzigen Tier verschwindet das Geschehen sogartig im Abfluss. Inzwischen aber starrt das Ich gebannt auf sich selbst und berichtet, denn mehr ist es kaum, von der Küche, in der es sich aufhält. Im Mittelpunkt des Gedichts steht seine eigene, phlegmatische Apathie. Das Ich reagiert und harrt in einer Innerlichkeit, die in Verfallsmetaphorik suhlt. Doch um das mal festzuhalten: In Miraflores passiert eigentlich nichts.
Das ist Stoff für eine Kurzgeschichte. Erstaunt es, dass ich mich nach dem ersten Lesen an Wolfgang Borchert erinnert fühlte, eine Eingebung, die mich zugegebenermaßen nie losgelassen hat? Die Zutaten zum Text sind unverändert, die Pointe dagegen ist neu. Statt eines Borchertschen Nichts-Nie bemüht Askan ein Zuviel-Zuspät. Das kann man zweifach verstehen. Zuviel, weil der 360-Grad-multisensorische Blick im Halbschlafdusel zwar hoch sensibilisiert ist, aber der reflexive Höhepunkt in Kannte sie Kamillencremefisch banal daherkommt. Zuspät, weil das Gedicht sich und der Gegenwart entrückt wirkt. Metaphorische Fußfallen heben den Finger und stellen ungestellte, existentielle Fragen. Achtung! Wo bin ich? Wann bin ich?
Ob Miraflores als Nachruf auf die deutsche Nachkriegslyrik durchgeht, dessen Stimmung als aktueller denn je heraufbeschworen wird? Bleibt man beim Borchert-Vergleich fällt auf, dass Askans Bilder wenig modern sind und irgendwie in ein anderes Jahrzehnt gehören. Es ist die Rede vom Kessel in Zeiten der Plastik-Wasserkocher, von Fisch und Creme Caramel statt internationalem Artfood und Asiahype. Und wo pflegt man noch etwas zu sagen? Miraflores stellt sich in eine literarische Tradition, macht sie sich zum Nutzem und definiert sie um. Nur wohin? Nehmen wir mal an, hier gluckert eine zeitgenössische Wohlstandsattitüde den Ausguss herunter. Luxus als strategische Kampftaktik frisst sich von innen heraus. Die eingepflanzten Gegner heißen Fisch und Creme Caramel. Das ist absurd...und packend. Nehmen wir weiter an, dass es den Generationenwechsel zwischen dem Tanten- und Ich-Jahrgang nicht gibt. Ihre einvernehmliche Beziehung definiert sich über ein physische Ereignis: Der leere Magen bzw. Im Magen ist’s dunkel. Zeitlos wirkt dieser Zustand, der auf Krankheit oder Armut deutet und sich schließlich als geistige Leere lesen lässt.
Die Stimmung in Miraflores ist ungemütlich. Hinter der Maske der Apathie presst eine ungeheure Spannung, die den Leser nicht loslässt. Katrin Askan gelingt ein Ton, der stilistisch leise, aber atmosphärisch erschütternd ist. Und fast, fast möchte man selbst mit dem niedlichen Insekt den Abfluss hinab fliehen.