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Leander Scholz: Fünfzehn falsche Sekunden (Auszug)

Vorgestellt von Enno Stahl

Kap. 1 - Ein würdiger Anfang


Als er auch am dritten Abend nicht nach Hause kam, begann ich mir Sorgen zu machen. Nein, Sorgen machte ich mir von Anfang an. Es gibt Schwierigkeiten, bei denen man weiß, wann sie zum ersten Mal aufgetreten sind. Das macht es einfacher, daran zu glauben, sie würden irgendwann auch wieder verschwin-den. Und es gibt Schwierigkeiten, deren Anfang man immer weiter zurückverlegen muß. So weit, daß sie eigentlich immer schon da waren. Ent-weder man entscheidet sich, sie zu ignorieren, oder man hofft, daß sie genauso plötzlich verschwinden werden, wie man auf ihre Existenz gestoßen ist. In diesem Fall, glaube ich, handelte es sich eher um die zweite Variante.

Wenige Tage vor seinem Verschwinden hatten wir einen Ausflug in die Wüste gemacht und in der Nähe einer stark zerklüfteten Felsformation eine heiße Quelle entdeckt. Der Sand um das beinahe schwarze Wasser war vollkommen eben. Grüne, hoch aufragende Pflanzen, die uns an wuchernde Disteln erinnerten, wuchsen mitten aus dem tümpelgroßen Loch heraus, über dem die Luft heftig flimmerte. Obwohl die Quelle in der einförmigen Sandwüste eine kleine Keimzelle des Lebens zu sein schien, war es um sie herum merkwürdig still. Wir hatten uns nicht getraut auszuprobieren, wie heiß das leise vor sich hin brodelnde Wasser sein mochte. Kein Wasserbewohner war in dem fast kreisförmigen Becken auszumachen. Lediglich Strünke der uns unbekannten Pflanzen schwammen verloren auf der undurchsichtigen Oberfläche, als müßten die armen Gewächse ihre Nahrungsaufnahme an der heißen Quelle büßen. Sie waren es, die dem Wasser seine dunkle Farbe gaben.

Neugierig umschlichen wir mehrfach die Sandböschung, als hätten wir uns vorgenommen, dieses Loch in der Wüste erst einmal zu vermessen. Plötzlich spürte ich an meinen nackten Beinen ein Insekt, nicht viel kleiner als eine Wespe etwa, dessen Herkunft ich mir nicht erklären konnte. Über dem Wasser waren keine gewesen. Mit ein paar Schritten wechselte ich zur gegenüberliegenden Seite, um das Insekt beobachten zu können. Es flog sehr niedrig über dem heißen Sand und machte einen eindring-lichen, surrenden Ton, den ich trotz der Wassergeräusche noch auf der anderen Seite der Quelle hören konnte.

Noch während ich mich darüber wunderte, mußte ich feststellen, daß auf meiner Seite ebenfalls ein paar Insekten nahe am Boden umherschwirrten. Wieder machte ich einige unwillkürliche Schritte, diesmal weg von der Quelle. Und wieder tummelten sich sofort ein paar Insekten mit ihren unverkennbaren Lauten zu meinen Füßen. Bald schien mir, daß die Anzahl der kleinen Insekten, die meine Schritte begleiteten, um so größer wurde, je heftiger ich mich auf dem Sand bewegte. Gleich spürte ich einen ersten Stich oder eher ein Beißen, nicht sehr schmerzhaft, ungefähr so wie die Berührung einer Brennessel.

Genauso wie man Brennesseln zu erkennen sucht, um ihnen auszuweichen, tastete ich den Sandboden sorgfältig mit den Augen ab, um herauszufinden, wo die kleinen Insekten wohl herkommen mochten. Mit einem Mal kam es mir so vor, als wäre der ganze Boden mit schwarzen, krabbelnden und auffliegenden Tierchen bedeckt, die direkt aus der Erde krochen. Bei genauerem Hinsehen konnten wir erkennen, daß um das heiße Wasser fast unsichtbare Löcher auf dem planen Sand angeordnet waren, an den Rändern von kleinen schwarzen Körpern gesäumt, die gerade einen womöglich riesigen, unterirdischen Höhlenbau verließen. Mit jedem Schritt auf dem Sand preßte mein Gewicht weitere hundert kleine Insekten aus dem Inneren der Wüste hervor.´

In diesem Moment schrie Christopher mir zu, ich solle mich auf keinen Fall bewegen. Er hatte die Arme gehoben, beinahe gestreckt in den Himmel, als wollte er dem Flug der Insekten eine Richtung geben.

Als sich die ersten den Weg unter mein T-Shirt gebahnt hatten und ich auf meiner Haut spürte, wie sie mit ihren dünnen Bei-nen über meinen Bauch, den Rücken und die Schultern krabbelten, konnte ich nicht mehr stillhalten. Ich schlug auf meinen eigenen Körper ein, traf mich, wo sich etwas regte, kniff die Augen und meinen Mund fest zu und rannte. Keine Ahnung wie lange. Ab und zu mußte ich mir ein Nasenloch zuhalten, um das andere mit einem kräftigen Luftstoß frei zu machen. Dann schüttelte ich wieder den Kopf, damit die Tiere keine Möglichkeit hatten, sich in meinen langen Haaren festzusetzen. Sogar die Ohren mußte ich mir mit den Fingern verstopfen, vor den leichten und fiesen Berührungen an der Muschel und den eindringlichen Geräuschen ihrer kleinen und harten Flügel.

Über hundert Meter weit entfernt sah ich, wie eine schwarze Wolke in der Nähe des Wasserlochs langsam dünner wurde. Ich konnte erkennen, daß Christopher immer noch an der gleichen Stelle stand, von der ich weggerannt war. Die aufrechte und starre Haltung der gestreckten Arme, in der er wohl die ganze Zeit ausgeharrt hatte, wirkte auf mich wie die Ansicht eines abgefressenen und ausgedorrten Baumes, von dem nur noch der tragende Stamm und zwei kümmerliche Äste übrige geblieben waren. Dann brach er zusammen.

Fast genauso schnell, wie ich mich von der Quelle entfernt hatte, rannte ich zurück. Überall an meinem Körpern spürte ich das Brennen und den Druck der kleinen harten Wölbungen der Insektenstiche. Wieder ergriff mich Panik bei dem Gedanken, daß die Stiche giftig, ja vielleicht sogar lebensgefährlich sein könnten. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, hörte beim Laufen ein dünnes Röcheln, hielt an, um mich zu vergewissern, hustete ein paar Mal, hielt meine Brüste fest, damit sich die entzündeten Stellen nicht aneinander reiben konnten, und fuhr mir in regelmäßigen Abständen durch die Haare, um den Stichen auf meiner Kopfhaut Kühlung zu verschaffen.

Wiederholt schaute ich zu der Stelle, wo Christopher reglos auf dem Boden lag, bis mir auf einmal auffiel, daß sich der Abstand zwischen uns nicht verringert hatte. In meiner Hast mußte ich an ihm vorbeigelaufen sein. Keuchend stütze ich die Arme auf meine Schenkel, um mich auszuruhen. Ich schrie seinen Namen, rief, ob alles in Ordnung sei. Keine Antwort. Aber ich sah, daß er sich auf den Rücken gewälzt hatte. Als ich mich aus meiner gebückten Haltung aufrichten wollte, lähmte mich das Gefühl, meine Arme seien tatsächlich schwerer geworden, vielleicht inzwischen vom Gift schon geschwächt.

Voller Angst rannte ich los, immer wieder nach meinen Muskeln fassend, meine Waden befühlend und meinen Lauf abrupt unterbrechend, um sicherzugehen, daß ich nicht schon wieder die Richtung verloren hatte. Als ich auf etwa fünfzig Meter an die Quelle herangekommen war, versagten meine Beine. Mein Körper fühlte sich weich und wehrlos an. Die vor mir liegende Strecke kam mir unüberwindbar vor. Mir schien es, als würden meine Beine mit jedem Schritt dermaßen tief in den Sand einsinken, daß das Gehen nicht nur immer beschwerlicher wurde, sondern daß die kleinen Sandkörner in mich eindrangen, mich verletzten. Ich konnte keinen Schritt mehr tun. Im Fallen sah ich, daß dort, wo ich bis-her Christopher vermutet hatte, nur noch eine plane und unberührte Sandfläche war.

Ob ich aufstehen könne, fragte eine Stimme über mir, von der ich zunächst nicht glauben konnte, daß sie Christopher gehörte. Sein Gesicht wirkte rein. Kein Stich und keine Verletzung war zu erkennen. Wie ein kleines Mädchen mußte ich nicken, fing an zu weinen und ließ mich von ihm zum Wagen führen. Er nahm einen Wasserkanister von der Ladefläche, beugte meinen Kopf und goß mit langsamen Bewegungen den noch immer einigermaßen kühlen Inhalt über meine Haare. Mit geschlossenen Augen so unter seiner Fürsorge fühlte ich mich etwas besser.

Ohne eine Frage oder Aufforderung an mich zu richten, schob Christopher mir das T-Shirt hoch und ließ das Wasser nun auch über meinen zerstochenen Rücken laufen. Ich war dermaßen erleichtert, daß ich fast angefangen hätte zu lachen über meine übertriebene Panik vorhin. Meine Angst wich einem Gefühl von vergessen machender Albernheit.

Obwohl ich mich sehr schämte, daß Christopher mich in diesem Zustand zum ersten Mal nackt sehen sollte, half ich ihm, mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Er faltete es in aller Ruhe und legte es auf die Motorhaube unseres Leihwagens. Dann hielt er die Öffnung des zweiten Kanisters oberhalb meiner Schultern in die Luft und kippte den Behälter so sachte, daß ein gleichmäßiger dünner Wasserstrahl erst von den Armen hinab bis zu meinen Händen floß und schließlich über meinen gesamten Oberkörper. Ich legte den Kopf in den Nacken. Das Wasser tränkte meine kurze Stoffhose und kühlte auch die entzündeten Stellen an meinen Beinen. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob es nicht falsch sein könnte, unseren Wasservorrat auf diese Weise zu verschwenden. Immerhin hatten wir noch mehrere Stunden Fahrt vor uns, bevor wir neues kaufen konnten.

Aber es war mir unmöglich, mich den sicheren Bewegungen von Christopher zu entziehen und irgend etwas in die Stille hinein zu sagen. Keinen Moment hatte ich den Eindruck, daß Christopher auf meine Brüste starrte, weder aus Neugierde noch um die Vielzahl der Stiche besorgt. Ich lächelte ihn an, aber er lächelte nicht zurück. Ich hatte nicht das Gefühl, daß er mich anfassen oder küssen wollte.

Er bedeutete mir, mich auf die Ladefläche zu setzen, zog mir die Turnschuhe aus und wusch mir mit dem Rest des Wassers die Füße. Ich wünschte mir seine Hände an vielen Stellen meines Körpers und freute mich darauf, wenn in ein paar Tagen die Stiche verheilt sein würden. Inzwischen kam es mir ziemlich merkwürdig vor, so fast nackt vor ihm zu sitzen, in einer traumartigen Landschaft aus Sand und seinen eindringlichen Farben. Schließlich kannten wir uns erst seit wenigen Wochen. Trotzdem empfand ich unsere Vertrautheit stärker, als wenn wir gleich nach dem Kennenlernen miteinander geschlafen hätten.

Nachdem er die beiden Kanister wieder verstaut hatte, zog er sein Hemd aus und spannte es über den Beifahrersitz, damit sich meine Haut an dem aufgeheizten Plastik nicht reiben konnte. Er meinte, der Fahrtwind würde mir gut tun, und startete den Motor. Ich dachte nicht darüber nach, was für einen Anblick ich abab, und zog mich nicht wieder an.

Erst als wir mit hohem Tempo über die breiten Pisten fuhren und ich mir in meiner Nacktheit neben Christopher seltsam angefaßt vorkam, mich wie dauerhaft und auf eine mir bis dahin unbekannte Weise berührt fühlte, hatte ich die Gelegenheit, ihn zu beobachten, während er sich auf das Lenken konzentrieren mußte. Verwundert merkte ich nun erst, daß sein Oberkörper stark gerötet war. Nicht etwa als Folge der gleichen Stiche, von denen ich so sehr gezeichnet war, sondern eher wie verbrüht. Seine Haut wirkte extrem gereizt und geschwollen, so daß mir schon ihr Anblick Schmerzen bereitete.

Ich stellte mir vor, wie die Verbrennung in kürzester Zeit ziemlich unangenehme Blasen hervorbringen würde. Und da erst dämmerte mir, wie er sich vor den Insekten geschützt hatte. Auf irgendeine Weise mußte er das heiße Wasser oder die Pflanzenstrünke dazu benutzt haben, oder er war vielleicht sogar selbst in den Tümpel gestiegen. Ich traute mich nicht, ihn während unserer Heimfahrt darauf anzusprechen. Allein die Vorstellung, was er getan haben könnte, hinderte mich, ernsthaft weiter darüber nachzudenken. Und so blieb ich stumm.

Bis zu seinem Verschwinden wenige Tage danach sprach er kein Wort mehr mit mir. Er ging mir, wann immer es möglich war, aus dem Weg. Wenn wir uns zufällig auf der Veranda trafen, tat er, als hätte er mich nicht erkannt oder müsse dringend irgendwohin. Ich wollte ihm Zeit lassen. Denn ich hatte das Gefühl, wir hätten Zeit. Ich selbst mußte erst einmal verstehen, was ich empfunden hatte, als er mich nach meinem Sturz so selbst-verständlich in seine Obhut nahm.

Nachts lag ich lange wach, um in der Erinnerung das Gefühl auszukosten, als ich fast nackt neben Christopher im Wagen saß und mich trotzdem vollständig geborgen fühlte. Es war ein Gefühl, als hätte sich Christopher von einem bestimmten Moment an um mich gelegt. Und gleichzeitig erinnerte ich mich an seinen verletzten Oberkörper, daß es mich schauderte. Ich hätte mich niemals getraut, ihn einfach und unvermittelt auf das Erlebnis in der Wüste anzusprechen.

Als er auch am dritten Abend nicht nach Hause kam, wußte ich, daß er verschwunden war. Und ich wußte auch, daß mir nichts anderes übrig bleiben würde, als nach ihm zu suchen. Mir kam in den Sinn, daß er darauf bestanden hatte, als erste gemeinsame Unternehmung einen Ausflug in die Wüste zu machen. Denn ich sollte verstehen können, was es hieß, sich jemandem zu überlassen. Mir war damals nicht klar gewesen, auf wen sich das bezogen hatte.

[…]

Leander Scholz

Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags

Aus: Leander Scholz, Fünfzehn falsche Sekunden. Roman
Copyright 2005 Carl Hanser Verlag, München


Enno Stahl:

„Ein würdiger Anfang“, so betitelt Leander Scholz das Eingangskapitel seines 2005 erschienenen Romans „Fünfzehn falsche Sekunden“. Auf jeden Fall handelt es sich um einen hochgradig verstörenden Anfang. Ein Mann und eine Frau befinden sich auf einem Wüstenausflug, schon vorher allerdings hat die Ich-Erzählerin verraten, dass der Mann im Anschluss an die Exkursion verschwunden sein wird. Das Verhältnis zwischen beiden ist vertraut, eine Beziehung, die über Freundschaft hinausgehen würde, deutet sich bereits an. Der Wüstenausflug wird denn auch gar nicht groß beschrieben, sondern der Autor wendet die Aufmerksamkeit gleich aufs Wesentliche, ein unerhörtes Ereignis, unerklärlich und irritierend. Eine seltsame Quelle haben die beiden gefunden, eine Quelle, in der Wüste normaler Weise eine „Keimzelle des Lebens“, die hier eher lebensfeindlich wirkt. Das Wasser ist dunkel, womöglich sehr heiß, und drum herum ist es „merkwürdig still“. „Kein Wasserbewohner“ ist „in dem kreisförmigen Becken auszumachen“: „lediglich die Strünke der uns unbekannten Pflanzen schwammen verloren auf der undurchsichtigen Wasseroberfläche, als müssten die armen Gewächse ihre Nahrungsaufnahme an der heißen Quelle büßen.“

Prompt (man möchte sagen: folgerichtig, da alles so auf Distanz gestellt ist) werden Christopher und die Erzählerin von nicht-definierbaren Insekten angefallen, sie entkommt mit Not, ihr entgeht ganz, was mit Christopher geschieht. Der sich dann allerdings über sie beugt, so als wäre nicht gewesen und sich rührend um sie kümmert. Verbrennungen auf seiner Haut weisen darauf hin, dass er in die Quelle gestiegen ist, um sich vor den Insekten zu retten. Doch darüber reden die beiden nicht, die Ich-Erzählerin wagt es nicht, Christopher danach zu fragen: „Allein die Vorstellung, was er getan haben könnte, hinderte mich, ernsthaft weiter darüber nachzudenken.“

Diese Sequenz ist eigentümlich, denn vorher hat sie bereits drei Varianten erwähnt, die Christopher zu seiner Rettung aufgewandt haben könnte – was, außer dem Einsatz des heißen Quellwassers, hätte er sonst tun können? Vor allem, was hätte er tun können, worüber sie „nicht ernsthaft nachdenken“ mag? Etwas Verbotenes, etwas Unreines, etwas Falsches? Immerhin ging es um sein Leben! Dennoch sagt sie, hätte sie sich niemals getraut, „ihn einfach und unvermittelt auf das Erlebnis in der Wüste anzusprechen.“ Das wäre aber, gerade bei einem solch bedrängenden Ereignis wie der Insekten-Attacke, unbedingt zu erwarten.

Auch Christopher verhält sich seltsam, redet er doch nach diesem Vorfall kein Wort mehr mit der Ich-Erzählerin – und dann verschwindet er auch noch unter ungeklärten Umständen. Dabei hatte gerade das gemeinsame traumatische Erlebnis eine große Nähe zwischen ihnen hergestellt, so vertraut fühlt sich die Ich-Erzählerin mit Christopher, dass ihre Nacktheit im Auto sie nicht stört, ja, dass sie es sogar empfindet, „als hätte sich Christopher von einem bestimmten Moment an um mich gelegt.“

So ist für sie nach Christophers Verschwinden klar, dass sie ihn suchen muss.
Der Romanheldin ist somit ein Auftrag mit auf den Weg gegeben, gleichzeitig ist die Stimmung vorgeprägt – gerade weil der alptraumhaft erscheinende Insektenüberfall nicht weiter gedeutet, ja, von ihr mit keinem Gedanken mehr gewürdigt wird, etwa dergestalt, um was für gemeine, fressgierige Tierchen es sich dabei wohl gehandelt haben mag o.ä.

Das verzerrt die Szene ins Surreale, der Leser wird unsicher, ob sie sich überhaupt so zugetragen haben kann oder eher dem Bereich der Halluzination zuzurechnen ist – eine Assoziation, die im Grunde schon recht gut zu dem passt, was da kommt: eine wüste Geschichte um medizinisch-genetische Experimente, deren Leidtragende die Ich-Erzählerin Celeste ist. Wobei man nie so sicher sein kann, wo die Grenze zwischen Realität und Traum(a) ist. Dass man am Schluss nicht recht weiß, ist es nun ein Happy End oder nur dessen Anschein, verwundert dann auch nicht weiter.

Für einen Romananfang ist dieser Auszug ungewöhnlich komprimiert, es ist unklar, ob hier nicht zu viele Motive angerissen und miteinander verwoben werden – wie auch im weiteren Verlauf des Buches mitunter in den dramatischsten Situationen Erinnerungsbilder beschworen werden, die man der Protagonistin in einem solchen Augenblick nicht recht abnimmt. Teils verpackt Scholz also ziemlich viel Information auf geringem Raum, wenn der Leser ihm darin folgt, mag das gut sein. Ein wenig `straighter´ dürfte es aber vielleicht schon werden.