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Paul Anton Bangen: IM BANN DES MÖRDERBETTES!

Kommentiert von Marc Degens

Der Autor Marc Degens, gebürtiger Essener, jetzt in Berlin wohnend, hat uns diesen Text zugeschickt, der von einem 83-jährigen Autor aus Velbert stammen soll. Jener Paul Anton Bangen sei Mitglied der Gruppe 47 gewesen, habe 12 Romane unter Pseudonym verfasst, bis er 1969 eine 20-jährige Schreibpause eingelegt habe. Seit 1989 begann er jedoch wieder Gedichte zu verfassen, der Berliner Sukultur-Verlag veröffentlichte in den letzten Jahren zwei schmale Lesebändchen, mit denen - so Degens - der greise Verfasser zu einem spiritus rector der sog. Social-Beat-Bewegung geworden sei...
Hier sein Gedicht des Monats Dezember:

IM BANN DES MÖRDERBETTES!


Er wird ihnen ihr Zimmer zeigen!
(Mörderbett incl.!)
128 Nächte Qual!


Öffne dich der neuen Welt der Balkonblumen;
Wie die Bohrer die Poren öffnen!
Noch gibt‘s kein Zurück!


Das oben stehende Gedicht zählt für mich zu den schönsten der deutschen Nachkriegslyrik. Warum? Weil es mich von der ersten Zeile an fesselt! Allerdings gerate ich bei der Lektüre nicht in den Bannstrahl einer Dichtung, sondern in erster Linie in den eines "Mörderbettes". Und das ist gut so, denn das Ziel eines Kunstwerkes ist es nicht, während der Rezeption deutlich zu machen, daß ich gerade ein solches verinnerliche, sondern genau das Gegenteil, daß ich das Transportmedium verdränge. Wenn ich schon während der Aufnahme bemerke, daß ich derzeitig ein spannendes Gedicht oder einen traurigen Film konsumiere, dann herrscht zwischen mir und dem Inhalt eine künstliche Distanz vor, die jegwelche Absicht des Schaffenden hintergeht.

Die Dichtung, so Robert Musil 1936, hat nicht die Aufgabe, das zu schildern, was ist, sondern das, was sein soll. Mit anderen Worten: Dichtung gibt Sinnbilder. Und genau das schafft dieses Gedicht. Ich denke bei der Lektüre nicht, o, eine Lyrik über ein Mörderbett, sondern, o, ein Mörderbett! Nach der Lektüre frage ich mich, was ist ein Mörderbett, welchen Sinn hat dieses Bild, hat dieses Bild überhaupt einen Sinn, und erst im dritten Schritt bewerte ich dann persönlich dieses Gedicht. Doch wenn die Beurteilung des Werkes erst nach der des Sinnbildes kommt, dann hat in diesem Fall die Dichtung ihr Ziel erreicht; sie wollte ja kein Gedicht, sondern ein Sinnbild stiften. Leider wird dieser eigentlich selbstverständliche Gedankengang beim Rezipienten viel zu selten ausgelöst!

Wie aber schafft Bangen diesen Kunstgriff mit so wenigen Worten? Er schafft dies durch die gelungene Dosierung, ja durch eine stellenweise heftige Reduzierung der Sprache. Kein Vers und kein Satzzeichen ist in diesem Gedicht zuviel. Bereits die Überschrift trägt der aufkommenden Stimmung Rechnung.

Wir sind, werden und sollen in den "Bann des Mörderbettes" geraten.

Die erste Zeile der ersten Strophe konfrontiert uns sogleich mit zwei Wesen. Mit einer Stimme und einem nur vage angedeuteten "Er". Es ist unserer Phantasie überlassen, wie wir uns diese Personen ausmalen. Doch wir ahnen, daß diese uns nicht wohlgesonnen sind, warum sonst erhalten wir ein Zimmer mit "Mörderbett incl.". Daß dieser zweite Vers auch noch in Klammern steht, verstärkt den heimlichen und unheimlichen Charakter des Geschehens. Und im dritten Vers erhalten wir Gewißheit; was jetzt kommt sind "128 Nächte Qual".

Die zweite Strophe weist einen Sprecherwechsel auf; es scheint, als ob uns das Mörderbett jetzt direkt anspricht. "Öffne dich der neuen Welt der Balkonblumen“. Im ersten Moment sind wir verunsichert, zwar haben wir die Qual noch vor Ohren und Augen, doch ein Wort gibt uns Hoffnung: "neu". "Neu" ist das einzige Wort in dem Gedicht, das neutral besetzt ist. Doch die anschließende Zeile offenbart uns die ganze grausame Absicht des Mörderbettes. Dieses Sich-Einlassen auf die neue Welt, dieses Öffnen wird grauenvoll - psychisch und physisch! Rezipient, laß all deine Hoffnungen fahren, denn "noch gibt‘s kein Zurück!" Und es wird nie ein Zurück geben, denn unvermittelt bricht das Gedicht ab!

Das Gedicht besitzt nicht allein wegen des konsequenten Aufbaus (2 Strophen à drei Zeilen) eine unentrinnbare Gültigkeit, auch die Wortwahl ist so ausgeklügelt, daß sie sich auf keine Kompromisse einläßt. "Qual" ist z. B. eines der grausamsten Wörter der deutschen Sprache, weil es körperlichen und geistigen Schmerz vereint. Ebenso drastisch ist in diesem Zusammenhang die Verbindung von "Bohrer" und "Poren". Ja, selbstverständlich arbeitet das Mörderbett gründlich und porentiefrein. Die sprachliche Meisterschaft Bangens macht sogar vor den Satzzeichen nicht Halt, das bedrohliche Ausrufezeichen herrscht im ganzen Text vor. Allein die erste Zeile der zweiten Strophe schließt mit einem unbefriedigenden Semikolon. Daß diese wie auch die letzte Zeile Hoffnung aufkeimen lassen kann, hat das Mörderbett wohl zynisch ins Kalkül gezogen, doch wer kann angesichts dieses übermenschlichen Gegners wirklich an sie glauben?

Noch nie habe ich ein so pessimistisches Gedicht gelesen. Es ist das Produkt des dreiundachtzigjährigen Paul Anton Bangen. Wenngleich die Lyrik sich klaren Übertragungen verweigert, so macht sie doch eines furchtbar deutlich: die "neue Welt" wird all unsere Erwartungen übertreffen, auch wenn wir sie so zu kennen scheinen wie unsere "Balkonblumen".

(Aus: Der Sprung ins nächste Jahrtausend. Folge 5 von 10. Essen; Berlin [SuKuLTuR] 1997. S. 46-47.] - www.sukultur.de