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Thomas Krüger: Dieter Bohlen hat...

Walter Gödden über einen neuen Gedichtband von Thomas Krüger

Dieter Bohlen hat...

Dieter Bohlen hat in einer Mittagspause an einem
Tisch mit einer stattlichen Zahl seiner Verfolger Bilder
von schönen Frauen gemalt und hat die Löcher in seinen
Händen wieder und wieder dazu benutzt zu schweigen, um
das ein oder andere Detail entschlüpfen zu lassen,
beim Handauflegen oder der Kunst, die Details, die Gesichts-
züge, die Topografie der nebeneinanderliegend
schlafend atmend sprechend in Gespenster sich Verwandelnden
Mal für Mal wie den Faden an einer silbrigen Nadel
entkommen zu lassen durch die Körperöffnungen, diese
Löcher, durch die man ihn festnageln, aber den Körper des
Unsterblichen nicht berühren kann. Dieter Bohlen hat das
Licht, dieses muntere Frettchen, durch die Golfplatzlöcher in
seinen Händen immer und immer hindurchschlüpfen lassen
und schöne Frauen gemalt und schöne Frauen. Nun ist er
einfach nur unsterblich. Punkt. Und mancher Schatten hängt ihm an
den Händen und zerbricht in Gliederpuppenglieder, wo das
Licht zu Boden fällt. Pardauz. Dieter teilt in einer Mittags-
pause aus. Da war noch Platz für einen Heiligen. Und wenn
das Licht sich an ihm bricht, wird es zu Brot. Das kann man sehen
oder nicht.


In diesen Tagen ist ein neuer Gedichtband von Thomas Krüger erschienen. Der Autor, Jg. 1961, gehört zur jüngeren Lyriker-Generation, zumindest was seine Themen angeht, die als „gewaltiger Crossover“ und „ebenso ausgeflippter wie seriöser Genremix quer durch Raum und Zeit“ beschrieben worden sind. Krüger hat mit Veröffentlichungen in einschlägigen Literaturzeitschriften auf sich aufmerksam gemacht, vor allem aber durch seine Lyrikbände „Michelangelo rising“ und „Alarm auf Planet M“ (von seinem bezaubernden Kinderbuch, als Audiobook von Dirk Bach gesprochen, „Rufus und die weißen Elefanten“, einmal abgesehen). Es sind die Großen der Zunft, die Krüger Beifall spenden, wirkliche Autoritäten wie Joachim Sartorius oder Harald Hartung. Hartung schreibt in den „horen“ (211, Heft 3, 1903): "Die Dichter dürfen wieder intelligent sein, anspielungsreich, ja sogar gebildet. Das Epitheton ‚kopflastig' hat sich aus dem Vokabular der Kritiker endlich verabschiedet. Der Begriff ‚poeta doctus' ist nicht mehr Schimpfwort, sondern fast schon wieder Ehrentitel [...]. Intelligenz, die leichtfüßig daherkommt, Anspielungsreichtum, der nicht auftrumpft, bildung, die in ästhetischen Formen aufgehoben wird – das sind Elemente, die sich in der Lyrik nicht alle Tage finden. Aber doch in Thomas Krügers Debut Michelangelo rising..." Satorius ergänzt: Krügers „erster, 2003 erschienener Gedichtband ‚Michelangelo rising' besticht durch formale Vollendung – jede Menge Sonette und Sestinen - und einen unangestrengten, ironisch gefärbten Gang durch die abendländische Kulturgeschichte. Alltagsabsurditäten - von Agamemnon über Michelangelo bis Dieter Bohlen – werden Bestandteile einer eigenwilligen, lakonisch-akrobatischen ‚Geschichtskurve'..." (Süddeutsche Zeitung, 16. Februar 2004)

All die Qualitäten, die die Kritiker hervorheben – sprachliche Meisterschaft in Kombination mit einem saloppen Themenmix, der auf profunder Textkenntnis sowohl antiker Autoren als auch aktueller „Neutöner“ fußt – treffen auch auf Krügers neuen Gedichtband „Im Grübelschilf“ zu, der in der Reihe „Neue westfälische Literatur“ der Nyland-Stiftung, Köln, erschienen ist. In einem im Anhang des Bandes beigefügten Autorengespräch äußert sich der Autor über Grundzüge seiner Poetik und sein Weltverständnis. Intellektuelle Abstraktion, wie sie vielfach für heutige Lyrik kennzeichnend ist, lehnt der Autor ebenso ab wie ein postmodernes „anything goes“, dem eine gewisse Beliebigkeit innewohne. Krüger kommt es vielmehr auf eine sinnlichen Verarbeitung der multimedial auf uns einprasselnden Reize an: „Der Kopf kann ja nur verarbeiten, was die Sinne ihm liefern. Und er kann sich seine Gedanken machen über das Trugbildertum, mit dem er es zu tun hat. Das Sinnliche ist die Grundlage des Dichtens. Ich würde so weit gehen und Mallarmé widersprechen, der mal so etwas gesagt hat wie: Gedichte entstehen allein auf der Grundlage von Worten. Nein: es sind Bilder, Bilder, Bilder – und andere Formen sinnlicher Eindrücke... Aber als Dichter sollte man versuchen, Verbindungen zu erkennen, Verbindungen, die auch scheinbar Disparates miteinander in Beziehung setzten. Ich glaube da sehr an T.S. Eliot, der den Dichter mal als jemanden bezeichnet hat, dem diese Fähigkeit gegeben ist. Ich sehe das weniger als Fähigkeit denn als Aufgabe. So tauchen neue Ingredienzien überall auf, aber mit ein wenig Gespür oder Übung weiß man irgendwann, wo man suchen muß.“ Auf sein Gestaltungsprinzip, Zeitebenen (oft mehrere Jahrhunderte) wie mit einem unendlichen Weitwinkelobjektiv zusammenzuziehen, antwortete der Autor: „Es gibt diese Trennung ja auch nicht wirklich. Jetzt und Gestern sind immer miteinander verbunden. Die Zukunft ist der Spiegel, auf den wir uns rasend schnell zubewegen: in dem wir uns und die Dinge hinter uns erkennen, ohne zu wissen, was in dem Moment passiert, wenn wir mit dem Spiegelbild kollidieren – ganz so wie in der Geisterbahn. Das Einstein-Kontinuum ist ja grade ein Konstrukt, in dem wir uns einerseits zwar gut auskennen, aber auch an die Grenzen unserer Vorstellung geführt werden. Physikalisch gesehen sind Dinge möglich, die der sogenannte normale Menschenverstand ins Reich der Fabeln und Legenden verweisen würde.“ Eben hieraus leite sich die Rolle des Autors ab, der sich als professioneller Arrangeur versteht. Der letzten Schritt bestehe darin, dem Gedicht durch formale Meisterschaft sein ureigenes Profil zurückzugeben: „Der Autor hat Möglichkeiten, Gesetze außer Kraft zu setzen. Aber diese Möglichkeiten werden mit der Erkenntnis gewonnen, daß die Gesetze letztlich doch ihr Spiel mit uns treiben. Ich denke, es kommt nicht von ungefähr, daß die kleine Form eines Gedichts immer die experimentellste Form der Literatur gewesen ist. Aus der Beschränkung kommt der Wunsch und die Kraft, sich zu entgrenzen. Aus der Entgrenzung und Erkenntnis unendlicher Begrenztheiten folgt der Rückfall auf die Form als bindendes, verläßliches Element. Aus der Spannung dieser widerstrebenden Kräfte lebt ein gutes Gedicht... Ohne Form geht gar nichts. In der gelungenen Form emanzipiert sich das Gedicht vom Autor und spricht sich schließlich selbst. Es muß Zauberkraft entwickeln, um wirken zu können, und das ist eine Sache des Rhythmus, der Bildfolgen, der Melodie. Die Form ist nicht allein Hülle: sie ist die gesamte Struktur in allen Verästelungen und Verweisen.“

Zum vorangestellten Gedicht erläuterte Krüger im Interview: „Dieter Bohlen ist Gott. Es kann sein, daß er die Rolle mittlerweile abgeben mußte. So etwas kommt ja vor. Stefan Raab ist immer mal wieder Gott. Vielleicht wird es 2006 Jürgen Klinsmann sein. Neben anderen. David Beckham hatten wir schon. RTL ist mindestens so etwas wie der Olymp, und wenn Bayreuth die Festspiele ausrichtet, weht der ganz große Atem und wirbelt Frisuren und Frackschöße durcheinander. Es sind eine ganze Reihe von Gedichten in diesem Band, die den ironischen Grundton ins Satirische ziehen. Das geschieht fast immer, wenn der Blick auf Naturkomödianten im Bann der Jahrhundertwende fällt. Ich stimme Friedrich Dürrenmatt zu: Für Tragödien langt es nicht mehr. Tragödien benötigen eine andere Bühne.“

Walter Gödden


Thomas Krüger wurde 1962 in Löhne/Westfalen geboren und lebt in Bergisch

Gladbach. Er studierte Anglistik, Anglo-Amerikanische Geschichte und Geographie in Köln. Er schreibt Lyrik und Prosa und veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften, u.a. AKZENTE, SINN UND FORM, NDL und DIE HOREN. Im Bielefelder Pendragon Verlag erschien 2003 der Lyrikband „Michelangelo rising", 2004 das satirische Langgedicht „Alarm auf Planet M". Bei OMNIBUS/cbj kam 2004 das Kinderbuch „Rufus und das Geheimnis der weißen Elefanten" heraus, das bei Random House Audio, gelesen von Dirk Bach, als Hörbuchversion erschien.