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Aus der Zwangsjacke in die Traumfabrik.

Der Gelsenkirchener Autor Rainer Horbelt und sein Nachlass im Westfälischen Literaturarchiv

Wenige Tage nach seinem Tod am 9. Februar 2001 in Albufeira/Patroves (Portugal) wird der Leichnam des Gelsenkirchener Autors, Schauspielers und Filmschaffenden Rainer Horbelt auf dem Hauptfriedhof Gelsenkirchen-Buer beigesetzt. Für die Überführung hat seine Lebensgefährtin Sonja Spindler gesorgt, die außerdem veranlaßt, daß die Arbeitsunterlagen Horbelts nach Deutschland zurück kommen und zunächst in ihrem kleinen Gartenhaus in Marl untergebracht werden. Die Bemühungen um eine dauerhafte Deponierung des Nachlasses führen mit Hilfe der Vermittlung von Hugo Ernst Käufer bald zum Kontakt mit dem Westfälischen Literaturarchiv Münster, das kurz zuvor beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) neu gegründet worden war. Hier ist die geeignete Institution gefunden, die den Nachlass Horbelt aufnehmen kann, der ansonsten wohl unweigerlich verloren gegangen wäre.

Der Bestand wird gesichert, ins Archiv verbracht, mit der Signatur 1001 versehen und in 35 Archivkartons grob vorgeordnet. Bei einer Laufzeit von 1968 bis 2001 umfaßt er vier Hauptgruppen: erstens Werkmanuskripte (Drehbücher und Manuskripte), zweitens Lebensdokumente (Ego-Dokumente, persönliche Jahreskalender ), drittens eine Zeitungsausschnittssammlung sowie viertens eine Sammlung eigener Publikationen einschließlich Video- und Audiokassetten. Unter den Unterlagen sind zahlreiche interessante Dokumente, die Zeugnis ablegen von dem vielfältigen, stark politisch und sozialhistorisch orientierten Schaffen Rainer Horbelts zwischen Schriftstellertum, Theater, Film, Fernsehen und Reiseliteratur. Viele einzigartige Quellen belegen die Aktivitäten der jungen Literaturszene im Ruhrgebiet, die seit den späten 1960er Jahren mit ihrem starken gesellschaftlichen Impetus neue Wege geht.

Horbelt, 1944 geboren, ist ein echtes Kind der Nachkriegszeit. Er wächst auf während der Adenauer-Restauration, erlebt die „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) seiner Eltern-Generation, wird erwachsen mit Wirtschaftswunder und Vollbeschäftigung, aber auch mit Verklemmtheit und Depression, die die Zeit des Verdrängens im Wohlstandswachstum mit sich bringt. Nach seiner Schulausbildung in Gelsenkirchen studiert Horbelt in Köln Theaterwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte. Zusätzlich absolviert er eine Schauspielausbildung, die er 1968 mit der Bühnenreifeprüfung abschließt. Bereits während des Studiums beginnt er als freier Journalist für verschiedene Zeitungen zu arbeiten. Seit ihrer Gründung 1967 ist er Mitglied der „Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen“, der damals einflußreichen Autorenvereinigung, die auch aufgrund ihrer ungewöhnlichen Formen der Literaturvermittlung (Lesungen in Kaufhäusern, Fabriken, Kneipen, Fußgängerzonen u.a.) entscheidend zur Belebung der Literaturszene in der Region und über deren Grenzen hinaus beiträgt. So wird Horbelt in seiner Stadt zu einem führenden Vertreter der Protestbewegung, die mit zahlreichen Aktionen die Politisierung der Bürger vorantreibt und den eigenen Hunger nach Erfahrungen stillt. Von 1968 bis 1971 schließt sich ein Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München an, und Horbelt wird Lektor bei der Hauptabteilung Fernsehspiel des Bayerischen Rundfunks. In der Folgezeit ist er tätig als Autor, Schauspieler, Theater- und Fernsehregisseur sowie als Dozent für Medienwissenschaften. Es erscheinen ein Roman („Die Zwangsjacke“, 1973), zwei Bände mit Erzählungen („Schigolett“, 1977; „Geschichten von Herrn Hintze“, 1978) sowie verschiedene sozialhistorische Dokumentationen zur deutschen Alltagskultur in Kriegs- und Nachkriegsjahren („Tante Linas Kriegs-Kochbuch“, 1982; „Tante Linas Nachkriegsküche“, 1985). Der Schwerpunkt der Tätigkeiten liegt allerdings bei der Fernseharbeit. Zwischen 1968 und 1987 entstehen zahlreiche Fernsehfilme, Features, Beiträge fürs Schulfernsehen und Fernsehfilme für Kinder. Gleichzeitig aber rechnet Horbelt mit den Medium ab. 1984 erscheint bei Eichborn der Roman „Das Projekt Eden oder die große Lüge der Fernseh-Macher“, mit dem er sich gegen gängige Zensurpraktiken wendet. Und auch mit den städtischen Kulturpolitikern legt er sich an, als er 1985 Gelsenkirchen in einer pressewirksamen Aktion kurzerhand zur „kulturfreien Zone“ erklärt und entsprechende Ortsschilder aufstellt. Für die von ihm als „Kulturverhinderer“ bezeichneten gewählten Volksvertreter ist er seitdem persona non grata. Gegen Ende der 1990er Jahre will sich Horbelt von den Sendeanstalten unabhängig machen und verfolgt den Plan der Einrichtung eines großen Medienzentrums in Gelsenkirchen, das als Holly-Buer durch die Presse geht. Tatsächlich gelingt es ihm, seine „Traumfabrik“ zu eröffnen und als Produktionsstätte für Bücher, Hörspiele und Filme sowie als interkulturelles Zentrum mit Galerie, Kulturbüro und Filmstudio einzurichten. Nach zwei Jahren allerdings muss er eine kapitale Pleite hinnehmen, was auch dazu führt, dass er seinen Wohnsitz von Marl in ein Gartenhaus in Herne verlegt. Ab Mitte der 1990er Jahre ergänzt Horbelt diese Bleibe durch ein Ferienhaus am portugiesischen Algarve, wo er mit seiner Lebensgefährtin Sonja Spindler (1935-2004) regelmäßig die Wintermonate verbringt, nicht ohne dort weiter literarisch aktiv zu sein. Es entstehen lusitanisch orientierte Reiseführer, Kriminalromane und Kochbücher, die dazu beitragen, den Lebensunterhalt zu bestreiten.

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