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Bernd Kortländer: Hermann Harry Schmitz

Ein Düsseldorfer Autor der Jahrhundertwende (19./20.)

Hermann Harry Schmitz lebte vom 12. Juli 1880 bis zum 8. August 1913. Ein kurzes, rätselhaftes Leben und ein rätselhafter Autor, dem es weder gelang, sich in der Welt des Banalen einzurichten, noch entschieden daraus auszubrechen. Als Mensch wie als Schriftsteller hat er die enormen Spannungen dieser Existenz umzusetzen versucht in selbstinszenatorische und literarische Energien, bevor er dann, zusätzlich gequält von einer nicht abreißenden Kette von Krankheiten, seinem Leben durch die Kugel ein Ende setzte.

Kaum etwas weiß man über den Menschen Schmitz; einige, nicht viele biographische Details sind überliefert, ein paar Briefe existieren, Fotos, ganz wenige Handschriften zu Texten sind bekannt. Zuletzt tauchten persönliche Erinnerungstücke aus dem Nachlaß seiner Schwester auf. Aber ein exaktes Bild, vor allem ein Bild von dem Menschen hinter der Maske des Dandys läßt sich daraus nicht konstruieren. Und die literarische Seite liegt bislang mindestens so im Dunkeln wie die biographische. Nur wenige Werkstattproben erlauben den Blick in das Atelier des Künstlers: Wie hat Schmitz gearbeitet, welche erzähltechnischen Baupläne legte er seinen Geschichten zugrunde? Wie ist - bei diesem die Zeitgenossen mitreißenden Vortragskünstler besonders wichtig - das Verhältnis von mündlichem und schriftlichem Erzählen? Zwar kennt man Vorbilder, Oscar Wilde, Edgar Allen Poe, die französischen Symbolisten: aber in welchem Verhältnis steht sein Schreiben wirklich zu diesen Autoren, wo hat er sich bedient, wo selbständig weitergemacht? Schließlich: Immer wieder gibt es Gerüchte über redaktionelle Eingriffe in die Texte von Schmitz. Seine Düsseldorfer Freunde, der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers und der Journalist Victor M. Mai werden der Bearbeitung verdächtigt. Für die postumen Editionen lassen sich solche Retuschen leicht nachweisen. Aber was ist mit den frühen, noch zu Lebzeiten herausgekommenen Texten? Hat der Feuilletonredakteur Mai schon bei den Abdrucken im "Düsseldorfer General-Anzeiger" Korrekturen vorgenommen?

Die Entdeckung des Konvoluts aus dem Nachlaß Victor M. Mais im Archiv des Heinrich-Heine-Instituts, dem die hier erstmals veröffentlichten Schmitz-Handschriften entstammen, könnte und sollte ein Anlaß sein, solche Fragen endlich mit allem gebotenen Ernst zu stellen. Es ist in mancher Hinsicht skandalös, daß die Literaturwissenschaft sich dieses Autors noch gar nicht angenommen hat. Bis auf einige biographische Vorarbeiten durch Michael Matzigkeit und die von diesem zusammen mit Bruno Kehrein herausgegebene, seit langem vergriffene Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ im Haffmanns-Verlag liegen keine seriösen Arbeiten vor.

Unsere Ausgabe möchte einer vertieften Beschäftigung mit HHS ein wenig den Weg bahnen, sie möchte Blicke hinter die vergnügliche Oberfläche der Texte ermöglichen, Blicke auf Schlachtfelder der Sprache und der Schrift, wo sich seine Kämpfe mit dem Wort zumindest teilweise rekonstruieren lassen.
Selbstverständlich möchte dieses Buch gleichzeitig auch die hochkomischen und witzigen Aspekte der vorgestellten Texte und Textstücke ins rechte Bild setzen. Sie ergänzen, verdeutlichen und verstärken manchen der Züge, die wir immer schon an HHS besonders geschätzt haben.

Das gilt insbesondere für die hier erstmals publizierte Moritat von dem betrügerischen Toni Bender und seinen sechs Tanten. Der Text hatte nach seinem öffentlichen Vortrag im Oktober 1909 in der Düsseldorfer Öffentlichkeit und später dann auch in der Schmitz-Gemeinde durchaus bereits eine gewisse Berühmtheit erlangt. Um so bedauerlicher war sein Verschwinden und um so erfreulicher ist sein Auftauchen aus dem Dunkel der Geschichte. Man fühlt sich an Ror Wolf, erster und leider einziger Träger des „Hermann-Harry-Schmitz-Preises“, und „Hans Waldmanns Abenteuer“ erinnert, der mit der gleichen Sicherheit auf jenem schmalen Grat zwischen Banalität und Absurdität balanciert wie hier HHS. Und so wie Wolf seinen Moritaten Collagen im Stile von Max Ernst beigibt, so verzierte HHS sein Manuskript mit Randzeichnungen, die Elemente des Comic enthalten und die wir in unserer Ausgabe reproduziert haben. Sie gaben auch den Anstoß dazu, Thomas Klefisch um seine zeichnerischen Lektüreeindrücke zu bitten.

Die mysteriösen Fragmente von den „Fliegenden Menschen“ gewähren am ehesten einen Einblick in die Werkstatt des Autors HHS. Ganz offenbar hatte er eine bestimmte Idee im Zusammenhang mit dem Fliegen, eine Idee die wir nicht mehr nachvollziehen können, und er hat sich ihr in zwei vergeblichen Anläufen genähert, die jeweils nach der Exposition stecken blieben. Der erste Anlauf spielt auf einem Terrain, das für Schmitz persönlich von quälender Bedeutung war und dessen metaphorische Qualität ihm nicht entging. Kurorte und deren Einrichtungen hat HHS im Laufe seines kurzen Lebens immer wieder aufsuchen und benutzen müssen, und sie wurden ihm in seiner Geschichte „Im Sanatorium“ zum Abbild der Welt, ihrer Krankheit und der hoffnungslosen Versuche, sie mittels technischer Apparaturen wieder gesund zu machen. Welche Rolle der Kurort in unserer Geschichte über das internationale Flair hinaus spielen sollte: wir wissen es nicht. An diesem Bruchstück läßt sich aber zumindest eine Funktion der komischen Namen studieren, die bei Schmitz ja wesentliches Stilelement sind. In ihrer anspielungsreichen Absurdität deuten sie von Anfang an auf jene chaotisch-groteske Sphäre jenseits der Normalität hin, in denen die Geschichten in schöner Regelmäßigkeit enden. Das Aufbauprinzip bei HHS ist ja der Ausgang bei ganz banalen und alltäglichen Situationen und die langsame Steigerung bis hin zum völligen Zusammenbruch des Prinzips Normalität. In Namen wie „Blamabel Eierkist“ oder „Carl Anton Einmachstopf“ sind diese Zusammenbrüche des Normalen zumindest bereits angelegt.

Die beiden anderen Bruchstücke mit Hinweisen auf das geheimnisvolle Motiv des „fliegenden Menschen“ im Titel zeigen zunächst, wie der Autor seine Exposition in zwei ganz entgegengesetzte Richtungen entwickelt. „Toni Bender“, die Schmitzsche Kunstfigur par excellence, eine Art Inbegriff des rheinisch-Düsseldorferischen Normal- und Durchschnittsbürgers, hat einen makellos erfolgreichen Lebenslauf; Tüttebell verkörpert dessen genaues Gegenteil. An diesen Bruchstücken läßt sich ein weiteres Stilmittel der Schmitzschen Grotesken studieren, der Pointenstil. Vor allem zu Anfang hangelt sich die Geschichte praktisch an witzigen Fundstücken entlang, wobei die Wortwitze überwiegen: Der „drittgrößte Mann“ sein; etwas mündlich haben; so hoch hinaus wollen, daß einen schwindelte und man sich setzen muß. Es ist verwunderlich und spricht für seine Kreativität und einen großen Ideenvorrat, wenn HHS solche kleinen Perlen später nicht wieder verwendet hat. Besonders ausgearbeitet ist die Episode vom Tod des Vaters. Titelsucht und Uniformverehrung waren Lieblingsziele des Schmitzschen Spotts, und er hatte bereits 1908 in seiner Kö-Geschichte „Die Promenade“ geschildert, wie „Anatol Brustkorb“ vor lauter Stolz platzte, weil er neben dem Herrn Leutnant gehen durfte. Das Bild vom aufgeplatzten Brustkorb, der aussieht wie ein Christbaum oder ein Garderobenständer findet sich dann wieder in der Geschichte „Der überaus vornehme Friseur“ aus dem Jahr 1910.

Die gelegentliche Funktion unseres Manuskripts als Notizheft und Steinbruch für spätere Werke läßt sich noch an einigen anderen Stellen bemerken. Neben den Lektüreeindrücken und Assoziationen zur Rezension des Romans des befreundeten Otto Boyer: „Fuegos Fatuos. Fragment aus dem Leben eines phantasierenden Müßiggängers. (Düsseldorf 1909) und den Stichworten zur Moritat und damit zusammenhängenden Ideen, finden sich Gedankensplitter zur Geschichte vom „Hosenrock“ oder zur Geschichte „Hiddigeigei“, jenem Lokal auf Capri, das Schmitz als Beobachtungsstation aller Arten menschlicher Eitelkeiten diente. Einigermaßen rätselhaft und im Werk auch nicht wieder aufgetaucht ist der Zusammenhang zwischen Zigarren und „Wasserkrahnen“ aus dem gleichnamigen Fragment. Dagegen hat der Leser in dem Bruchstück „“ wieder einen makellosen ersten Satz, und zwar in zwei voneinander abweichenden Fassungen vor sich, von denen freilich weder die eine noch die andere je benutzt wurde.

Die Funktion der vier größeren Bruchstücke zu bereits im Druck vorliegenden Geschichten ist nicht ganz genau zu bestimmen. Bei den bei den beiden Anfängen zu „Der Einbruch“ und „Die vorzügliche Kaffeemaschine“ könnte es sich um Zwischenreinschriften handeln, die einerseits auf einen korrigierten Text zurückgreifen, andererseits aber selbst wieder korrigiert sind. Die Unterschiede zur späteren Druckfassung sind insgesamt marginal. Zwei Details sind allerdings auffällig: Im „Einbruch“ hat die Handschrift noch nicht den Familiennamen „Knatterbull“. Offenbar ist dieser Name erst nachträglich in die Geschichte hineingetragen worden, allerdings nicht sehr konsequent, da er sich im Druck gegen Ende verliert. Hier könnte es sich ebenso um ein redaktionelles, möglicherweise nicht von Schmitz selbst stammendes Element handeln wie bei der Verschiebung von umgangssprachlichem „Gesöffs“ in der Handschrift der „Kaffeemaschine“ zu „Gesöff“ im Druck.

Solche Beobachtungen lassen sich an die drei Textstücke zu den unter dem Obertitel „Aus einem rheinischen Städtchen“ versammelten beiden Geschichten nicht anschließen. Immerhin weiß man jetzt, warum auch im Druck die zweite Geschichte „Das Elslein von Caub“ so unzusammenhängend wirkt: sie wurde aus den Textstücken 2 und 3 zusammengesetzt, ohne daß zwischen den beiden Texten ein logischer Zusammenhang bestünde. Ansonsten haben wir es hier wirklich mit einem ersten, schon relativ weit fortgeschrittenen Entwurf zu tun, der möglicherweise die mündlich erzählte Version erstmals verschriftlicht. In Textstück 2 hat Schmitz an einer Stelle, wenn er vom Stammtisch spricht, die Perspektive zur Ausarbeitung notiert, die dann in "Turbine Muhlmann" konkret ausgearbeitet wurde. Der Vergleich dieses ersten Entwurfs mit der Druckfassung zeigt ansonsten nur wenige Auffälligkeiten. Die handschriftliche Version ist knapper, verzichtet auf den Schlußschlenker von "Turbine Muhlmann", hat so einen ganz eigenen Charme, zumal Schmitz hier einige später nicht wieder abgerufene Pointen einstreut, wie etwa die halsbrecherische Vermutung über Lessings Beziehung zu Kaub.

Aus der Handschrift zum ersten Entwurf stammt auch das umfangreichere Textstück zu „Der Ästhet“. Dieser erst postum von Victor M. Mai herausgebrachte Text, der sich jetzt im übrigen auch erstmals sicher datieren läßt, ist einer der interessantesten im Gesamtwerk von HHS, da er die Grenzen der Groteske sowohl formal wie inhaltlich durchbricht: formal durch die Ausweitung in Richtung auf eine größere erzählerische Form; inhaltlich durch die mit den Mitteln der Groteske geführte und dadurch teilweise äußerst drastische Auseinandersetzung mit ästhetischen Strömungen um die Jahrhundertwende. Wenn wir den Superästheten und Botticelli-Kenner Mauzfies nicht mit der Wiedergeburt der Venus, sondern mit der seines Mittagsessens an der Reling eines Schiffes beschäftigt sehen, so drückt Schmitz damit auf sehr direkte Weise aus, wie er die neue Empfindsamkeit im Namen Hofmannsthals, Georges oder Rilkes findet: zum Kotzen nämlich. Dabei geht es ihm selbstverständlich nicht um diese oder ähnliche Autoren selbst, sondern lediglich um deren Epigonen und Nachbeter. Auch Mauzfies‘ äußere Erscheinung, seine Unsauberkeit und die Häßlichkeit seines Gesichts, läßt das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit direkt ins Auge springen. Im handschriftlichen Entwurf sieht man, welche Mühe Schmitz sich gerade mit der Beschreibung des Gesichts gegeben hat, die dort gelegentlich noch krasser ausfällt als in der gedruckten Fassung, etwa wenn der „[kotelettgroße] leuchtende handgroße Blutschwamm“, den er noch in der Handschrift als Element von Mauzfies‘ Gesicht erwog, einer harmlosen „tollen Kartoffelnase“ Platz macht. Die Beschreibung erinnert mit ihrer verächtlichen Lust und der beißenden Schärfe an Heine und seine Darstellung des „Turnkunstmeisters Maßmann“.

Das Schreiben von HHS an Victor M. Mai, der im Anschluß an die eigentlichen Textstücke abgedruckt wird, ist ein typischer Schmitz-Brief. Einen vergleichbaren hat bereits Mai selbst in einer kleinen Schmitz-Biographie publiziert, andere existieren in verschiedenen Archiven. Leider gibt es bis heute keine Sammelpublikation der bekannten Briefe, die sich sowohl angesichts der zu erwartenden biographischen Details wie auch angesichts des Amüsierwertes anbieten würde.