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Bernd Kortländer: Religiöse Dichtung am Niederrhein im 19. und 20. Jahrhundert

Über Kirchenlieder und Gesangsbücher. Ein Vortrag

1. Vorbemerkung


Einige persönliche Bemerkungen vorweg:

Die Beschäftigung mit den Kirchenliedern des 19. Jahrhunderts, die Teil der Vorbereitung dieses kurzen Vortrages war, hat sich für mich zu einer sentimentalen Angelegenheit entwickelt. Meine kirchliche (katholische) Sozialisation als Kind war intensiv und die Beschäftigung mit dem „Gotteslob“, seit 1975 das Einheitsgesangbuch in Deutschland, und mit dem Gesangbuch „Cantate!“ von Heinrich Bone, auf das ich gleich im einzelnen eingehen werde, für mich eine Rückkehr vor allem in den Kosmos meiner Kindheit.

Ich war überrascht, wie schnell mir Melodien und Texte der Lieder wieder ins Gedächtnis kamen, wobei mir im Boneschen Gesangbuch von 1851 mehr Bekanntes begegnete als im „Gotteslob“. Ich machte dabei in der Praxis eine Erfahrung, die generell bei der theoretischen Beschäftigung mit dem Genre Kirchenlied immer mitgedacht werden muß.

Es handelt sich um eine wirkliche Zweckform, die Lieder zielen genau auf diesen Punkt: sie müssen in der Lage sein, jenseits aller musikalischen und literarischen Einzelheiten allgemeine Stimmungen zu erzeugen, Stimmungen, die über die Individualität der Sänger hinweg gemeinschaftlich erlebt werden können und die deshalb Gemeinschaft, Gemeinde begründen und verstärken helfen. Daß dabei die Musik die größere Rolle spielt, ist sicher unbestritten. Doch auch die Texte, die sich, soweit sie traditionellen Liedern zugehören, so deutlich abheben von der literarischen Alltagserfahrung, haben ihren wichtigen Anteil; auch bei ihnen geht es weniger um eine im einzelnen über den Text vermittelte konkrete Botschaft, als vielmehr um die Verstärkung einer Stimmung, in der sich der Sänger verbunden fühlen kann mit der ihn umgebenden Gemeinde ebenso wie mit den Gemeinden früher Jahrhunderte, schließlich mit allen Christen, und, soweit er denn noch der religiösen Erfahrung im engeren Sinne zugänglich ist, auch der Gemeinschaft mit Gott.


Mit ist das Staunen und die verständnislose Bewunderung noch sehr gegenwärtig, mit der ich als Kind die 2. Strophe des Speeschen Osterliedes „Ist das der Leib Herr Jesu Christ“ gesungen habe, und zwar mit dem heute immer noch gebräuchlichen Text: „Der Leib ist klar, klar wie Kristall/ Rubinen gleich die Wunden all“. Bone in seinem „Cantate!“ hatte noch den originalen Spee-Text: „Die Adern roth, roth wie Korall“. Beim weiteren Vergleich der beiden Textversionen stieß ich zufällig auf ein wirkliches Kuriosum, was das Mißverständnis zu erkennen gibt, das hinsichtlich der wahren Bedeutung solcher Texte in kirchlichen Kreisen vielleicht hier und da noch vorwaltet: In Strophe 5 hat Spee und hat auch Bone selbstverständlich: „Gleichwie die Sonn viel tausend Meil\'/ Die Welt umläuft in schneller Eil.“ Das „Gotteslob“ Kölner Ausgabe, Diozösananhang, hat an dieser Stelle, Galiläi sei dank und scientifically almost correct: „Gleichwie die Welt viel tausend Meil/ Die Sonn umläuft in großer Eil“.

Ob der Korrektor im Kirchenlied immer noch ein Mittel der Volksbildung sah, wie vielleicht zuletzt die Autoren des 18. Jahrhundert? Auf jeden Fall ist ihm entgangen, daß die Veränderungen solcher Details für die Wirkung des Kirchenliedes gar keine, im schlimmsten Fall eine negative Rolle spielen. Denn der Kirchenliedsänger ist zu Recht ein äußerst konservativer Geselle, der auf jede Veränderung verschreckt reagiert, weil sie seine Erinnerungsarbeit stört. Das wußte bereits Heinrich Bone, der im Vorwort zu seinem Gesangbuch schrieb: „Ebenso durchgreifend wie das Historische und mit diesem innig verwachsen ist das Stereotype in dem katholischen Gottesdienste.“ (307)
Nicht die Abwechslung sei es, die erbaue; sie diene nur der „Neulust und der geistigen Unruhe“, sondern im Gegenteil die Wiederholung und Wiedererkennung des Bekannten und Gewohnten.



2. Voraussetzungen


Das Feld, mit dem ich mich im folgenden inhaltlich beschäftigen soll, ist so groß und so komplex, die Zeit andererseits so knapp, daß ich die starken Verkürzungen im folgenden vorab zu entschuldigen bitte. Ich möchte aber doch, bevor ich mich den konkreten Beispielen nähere, einige große Leitlinien hier ins Gedächtnis rufen.


Der Blick auf die religiöse Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts ist nicht möglich, ohne an die Verwerfungen zu erinnern, die die Aufklärung gerade auf diesem Gebiet nach sich zog, war doch sowohl die Religion wie die Literatur von ihr in jeder Hinsicht zutiefst verändert worden. Die Befreiung oder doch zumindest Freisetzung der Subjektivität und in ihrem Gefolge der Einbruch der Geschichtlichkeit in das Bewußtsein brachte den Wandel von der stratifizierten zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Dieser Paradigmenwechsel stellte sowohl die Religion wie die Literatur vor völlig neue Probleme und Aufgaben. Susanna Schmidt, die sich ausführlich mit der Literatur des katholischen Milieus zwischen 1800 und 1950 beschäftigt hat, spricht sehr anschaulich davon, daß die Entwicklung in dieser Zeit eine Privatisierung der Religion und gleichzeitig eine Autonomisierung der Kunst mit sich brachte: mit dem Auseinandertreten von Offenbarung und Geschichte verlor die Religion nicht nur ihren selbstverständlichen Gültigkeitsanspruch, wurde immer mehr zu einer Privatangelegenheit mit abnehmender Bedeutung für die Menschen; sie geriet auch in einen eklatanten Widerspruch zur Entwicklung der modernen Kunst, deren Hauptprinzipien nun Innovation und Autonomie geworden waren.


Die Rolle und Bedeutung von romantischen Philosophen und Literaten wie Friedrich Schlegel, Friedrich Wilhelm Schelling oder auch Clemens von Brentano für einen theoretischen und praktischen Ausgleich dieser Positionen ist vielfach untersucht worden. So hat etwa Rudolf Schlögl in seinem Beitrag zum Ratinger Kolloquium von 1989 im Blick auf Schlegels Kölner Jahre sehr einleuchtend darauf hingewiesen, welche Bedeutung der Rückgriff der Romantiker auf die deutsche und europäische katholische Tradition seit dem Mittelalter für eine Wiederannäherung oder besser Wieder-Heranführung der Kirche an die moderne Gesellschaft der sich bildenden Nationalstaaten hatte, wie wenig sich dieses Wiedererstarken der Institution aber andererseits auf die Gläubigkeit der Bevölkerung auswirkte, die sowohl in den Ober- wie in den Unterschichten immer mehr abnahm und nur mehr in den Mittelschichten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verankert war.

Andererseits macht gerade die Untersuchung von Schmidt deutlich, wie die Reaktion insbesondere der katholischen Kirche auf die fundamentalen Veränderungen zunächst nur in einer mehr oder weniger polemischen Abwehr bestand. Immerhin brachte die Niederwerfung Napoleon und die anschließende Restauration in Deutschland, wie im übrigen alle Restaurationen nach einschneidenden historischen Ereignissen - Ähnliches läßt sich auch nach 1918 oder nach 1945 beobachten - eine Renaissance religiöser Inhalte in der Dichtung mit sich. Das Scheitern Napoleons wollte man bereitwillig als das Scheitern der Aufklärung interpretieren, wenngleich bereits die Pariser Juli-Revolution von 1830 zeigte, wie locker der Pfropfen saß, hinter dem die Schwarze Spinne in den Balken eingesperrt war. Gleichwohl ging die erste nachromantische Generation, teilweise aufbauend auf und im Gleichschritt mit den inzwischen von der Kunstreligiosität sich abwendenden Romantikern, das Problem des Auseinandertretens von Religion und Lebenswelt sehr viel direkter und praktischer an als noch die vorausgehende Generation.

Wesentliche Aspekte dieser Bemühungen waren auf Seiten der Religion die Stärkung der religiösen Institutionen, insbesondere natürlich der Institution Kirche; auf Seiten der Kunst vor allem die Bekämpfung des Prinzips der Autonomie und, vornehmlich auf katholischer Seite, die Propagierung eines ästhetischen Ideals der Schlichtheit und Kindlichkeit.



3. Der Kampf um das Kirchenlied


Angesichts solcher Prioritäten ist es nicht verwunderlich, wenn ein wesentliches Augenmerk der literarischen Anstrengungen beider Konfessionen auf der Erneuerung des Kirchenliedes lag. Mit diesem Genre ließ sich einerseits direkt auf die Institution einwirken, andererseits konnte der Rückgriff auf die alten, im Zuge der Volksliedbegeisterung wieder nach vorne getretenen Liedtraditionen des 16. und 17. Jahrhunderts das Ideal einer naiven Kindlichkeit vermeintlich am eindrücklichsten veranschaulichen, und schließlich wurde in der Zweckform auch dem romantischen Autonomieanspruch am deutlichsten widersprochen.
Zudem war die Situation äußerst unbefriedigend. In den verbreiteten Sammlungen herrschten Texte aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts vor, die in der Regel durch Aufklärung und Pietismus geprägt waren.

Man wollte aber weg von Sentimentalität und Vernünftelei hin zu einer spontanen und unmittelbaren Sprache, zurück hinter die Muster Klopstocks oder Gellerts, ja sogar noch hinter die Opitzschen Reformen zu einer geistlichen Volkspoesie vor- und frühbarocken Ursprungs. Man sieht die Wirkung der romantischen Bewegung, die jetzt aber ganz andere, praktischere Ziele annimmt.

Vor allem in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts setzte eine breite Diskussion über die Verwendung der Texte und Melodien aus dem 16. und 17. Jahrhundert im Gottesdienst ein. Man sammelte die alten Liederbücher, edierte sie neu, freilich nicht mehr, wie vielleicht noch die Romantiker, mit einem direkten historischen, sondern eben mit einem praktischen Interesse, ohne Scheu vor Umarbeitungen und Erweiterungen, soweit dies für den Zweck wichtig und nützlich erschien, aber doch mit einem Respekt vor der ursprünglichen Textgestalt.

Darüber hinaus bemühten sich aber beide Seiten, Katholiken wie Protestanten, um eine Erneuerung ihrer Lied- und Textbestände nicht nur in Form der Sammlung alten Liedguts, sondern man begann gleichzeitig damit, selber Texte im geistlichen Volkston zu schreiben. Auf protestantischer Seite sind Albert Knapp und Philipp von Spitta, auf katholischer Melchior von Diepenbrock und Christoph von Schmid die bekanntesten Namen an der Spitze dieser Bewegung - Knapp, Spitta und Schmid sind bis heute mit je einem Text im „Gotteslob“ vertreten.


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