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Eberhard Illner: „König Dampf“. Frühindustrialisierung und Literatur im Rheinland

Vortrag, gehalten im Heine-Institut am 9.12.2008
Die preußische Rheinprovinz war im Vergleich zu den anderen, vor allem den ostelbischen Provinzen des Königreichs erheblich weiter entwickelt. Bereits die Bevölkerungsverteilung weisst darauf hin: 1828 lebte 23 % der Bevölkerung in Städten und 77 % auf dem Lande. Die preußische Regierung griff in ihrer Gewerbe- und Finanzpolitik aktiv alle Möglichkeiten auf, die sich im Rheinland boten. 1817 wurde die alte kameralistische Departementalsbehörde für Fabriken, Kommerzial- und Akzisefragen umgewandelt in ein modernes Ministerium für Han-del und Gewerbe und das Finanzministerium ebnete den Weg zur Schaffung eines Zollver-eins. Der 1821 in Berlin gegründete Verein zur Beförderung des Gewerbefleisses zählte die Elberfelder Unternehmer Aders, Kamp und Platzhoff zu ihren Initiatoren. Die Staatsräte Peter Beuth und Gottlob Kunth reisten häufig durch die Rheinprovinz und unterrichteten über technische Neuerungen. Ja, es waren rheinische Unternehmer und Bankiers wie Ludolf Camp-hausen, David Hansemann und August von der Heydt, die seit der liberalen Phase 1848 in verantwortliche Regierungspositionen aufrückten und insbesondere die Eisenbahnpolitik durch Zusammenfassung anfangs privater Bahngesellschaften unter staatliche Regie neu ordneten.

Die industrielle Entwicklung am Rhein hatte ihren Ausgang in der Textilbranche genommen. Bleichen, Spinnen, Weben und Färben waren im Bergischen Land die traditionellen hand-werklichen Techniken gewesen, deren Produktion und Absatz seit dem 16. Jahrhunderts über ein dezentrales Fabrikationssystem organisiert war. Ein Kaufmann versorgte die Heimgewerbetreibenden mit Rohstoffen und übernahm den Handel mit den fertigen Produkten. So bildete sich bereits früh der Typus eines Kaufmann-Unternehmers heraus; er wurde zur Schlüsselfigur der weiteren Entwicklung. Seit etwa 1750 stieg der Bedarf an Garn, der nur über eine höhere Produktivität zu befriedigen war. Dies wurde erreicht durch Übernahme neuer technischer Produktionsverfahren, die in England entwickelt worden waren und deren Patente u.a. durch Industriespionage wie im Falle der Spinnerei Cromford bei Ratingen in das Rheinland gelangten. Der Einsatz dieser neuen Maschinen führte zu einer systematischen Zerlegung der Produktion in einzelne Arbeitsschritte. Das „Geheimnis“ der erhöhten Produktivität lag in einer differenzierten Arbeitsteilung. Zunächst wurden die Arbeitsgeräte noch per Hand angetrieben (spinning jenny) , doch schon bald wurden aus ihnen mittels Wasserkraft angetriebene Maschinen (water frame) mit entwickelter Verarbeitungstechnik.

Damit konnte ein angelernter Arbeiter – meist waren es karg entlohnte Kinder und Frauen - das verrichten, wofür früher 16, 40 ja 100 gelernte Handwerker notwendig waren. Die neuartige Technologie erforderte auch einen neuen Menschen: der Typus des „Fabrikarbeiters“ war geboren. Und auch auf der Seite der Produkte veränderte sich durch die neuen Spinn- und Webtechniken vieles. Baumwolle aus Mittelamerika löste den traditionellen heimischen Flachs ab, so dass auch die Produktion hochwertiger Tuche, Bänder, Riemen und Spitzen möglich wurde. Die Wertschöpfung vervielfachte sich. 1841 gab es im Rheinland 251 Baumwollspinnereien und Fabriken, die rund 25.000 Arbeiter beschäftigten. Zu den größten Betrieben gehörten Brüggelmann in Cromford, sowie Friedrich August Jung in Elberfeld. Allein im Wuppertal wurden 1846 mehr als 34.000 Spindeln betrieben, von 170.000 in ganz Preußen. In der Tuchindustrie mit Schwerpunkt in Aachen, Eupen, und Düren gab es 1841 273 Fabriken und 119 Spinnereien mit fast 20.000 Arbeitern.


Wie vollzog sich der Absatz dieser Produkte? Zwar war Köln das traditionelle Handelszent-rum am Rhein, doch der Gang der Industrialisierung führte zu einer Diversifizierung mit dem Aufkommen Düsseldorfs und Duisburgs als Umschlagplätze am Rhein, Aachen auf dem Gebiet des Wollhandels, Solingen und Remscheid für die Kleineisenindustrie sowie Barmen und Elberfeld für die Textil- und Färberprodukte. Allein das Wuppertal zählte 1822 312 Handelshäuser mit weitreichenden internationalen Geschäftsbeziehungen.

Welche Rolle spielte in diesem Industrialisierungsprozeß die Dampfmaschine? Um 1780 hatte James Watt in Glasgow die Dampfmaschine zur Produktionsreife entwickelt. Seit 1800 fand sie auch auf dem Kontinent schnelle Verbreitung. Zunächst wurde sie hauptsächlich zum Antrieb von Pumpen in der Montanindustrie eingesetzt. Dann hielt sie auch in anderen Produktionsbereichen Schritt für Schritt Einzug.

Zeitgenossen wie Friedrich Engels, der aus Barmen mit einer großen Anzahl von Spinnereien und Webereien stammte, hielt deshalb die Dampfmaschine für die Ursache der Industrialisierung. Heute ist klar, dass die revolutionäre Entwicklung in der frühen Phase der Industrialisierung von der technischen Mechanisierung und zunehmenden Arbeitsteilung in der Produktion ausging. Die menschliche Kraft, ab und an auch das Pferd sowie vor allem die Wasserkraft waren bis in die 30er Jahre des 19. Jahr-hunderts hinein die wichtigsten Antriebskräfte. Dampfmaschinen kamen erst langsam und subsidiär zum Einsatz. Noch in den dreißiger Jahren wurden Dampfmaschinen aus England oder Belgien eingeführt. Erst seit der Jahrhundertmitte konnten rheinisch-westfälische Ma-schinenbauanstalten mit eigenen Konstruktionen nachziehen. Die Dampfkraft entwickelte dann über den Eisenbahnbau und die Eisenindustrie ihre effektive Schubkraft. 1841 wurde die Strecke Düsseldorf – Elberfeld eröffnet. Die Eisenbahnen übernahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Einstieg in die Hochindustrialisierung, nicht zuletzt gefördert durch massive staatliche Subventionen wie z.B. 1848 der Strecke Elberfeld – Dortmund ( 400.000 Taler) und der Strecke Rittershausen, Ronsdorf nach Remscheid (200.000 Taler). Ein Viertel der Anteile an der Bergisch-Märkischen Eisenbahn (1 Mio Taler) hielt der Staat.


Die wichtigste Postverkehrsachse in der Rheinprovinz verlief von Koblenz über Köln, Düsseldorf , Elberfeld nach Berlin. Die Schnellpostlinie zwischen Düsseldorf und Elberfeld war die am meisten benutzte im preußischen Staat. Noch vor den Eisenbahnlinien begannen die niederländische (1822) und deutsche (1825/1846) Gesellschaften ihren Linienverkehr mit Dampfschiffen auf dem Rhein. Köln als zentraler Rheinhafen erreichte 1830 mit fast 450.000 Tonnen Umschlag seinen Höchststand. Nach und nach verlagerte sich der Massengüterver-kehr an die Ruhrmündung. 1831 lief in Ruhrort das erste am Rhein gebaute Dampfschiff, die „Stadt Koblenz“ vom Stapel. 1843 erschienen die ersten eisernen Rheinschleppkähne. Und auch die telegrafische Kommunikation ließ Entfernungen schrumpfen: 1832 übermittelte die optische Telegrafenlinie in wenigen Stunden Nachrichten von Koblenz über Köln nach Berlin. 1848 wurde ein Netz elektrischer Telegrafen aufgebaut mit Aachen, Köln, dem Wuppertal nach Berlin. Im Textilzentrum Elberfeld wurden die meisten Depeschen in ganz Preußen aufgegeben.


Doch wo Licht ist, ist auch Schatten und nicht alle staatlichen Regulative wie etwa die Ein-führung der Gewerbefreiheit haben das Blatt zum Positiven gewendet. So rutschte das Handwerk bereits in den dreißiger Jahren in eine strukturelle Krise. Zu viele ehemalige Ge-sellen hatten sich selbständig gemacht, drängten auf den Markt und trieben gegeneinander ruinösen Wettbewerb. Die Zahl unterbeschäftigter Kümmerexistenzen stieg dramatisch. Mit-gerissen in diesen Strudel wurden auch „ehrbare Handwerker“ wie etwa das Gemälde „Die Pfändung“ von Peter Schwingen aus dem Jahre 1845, das Sie in der Ausstellung ssehen können, zeigt . Die Szene schildert mit eindrücklicher Prägnanz den sozialen Abstieg des Handwerks am Beispiel eines Schusters. Die brutale Durchsetzung ökonomischer Interessen führte ehemals biedere und ehrhafte Handwerker ins soziale Elend und in die politische Radikalität.

Die Antagonismen in der Gesellschaft verliefen längst nicht mehr entlang der überkommenen Standeslinien. Der Adel hatte ohnehin im nördlichen Rheinland kaum eine Rolle mehr ge-spielt, obwohl er in politischer Hinsicht nach 1815 seine alten ständischen Rechte zurücker-hielt. Faktisch war der Adel aber verarmt und konnte sich nur noch in der Administration oder im Militär halten. Jetzt waren es die Unternehmer, die an ihre Stelle traten, auch wenn sie eine angemessene politische Repräsentation in der Ständeversammlung erst noch durchsetzten mussten.


Beispielhaft hat Karl Immermann in seinem kritisch-realistischen Roman „Die Epigonen“ (1836) diesen Umschichtungsprozess geschildert. In einem farbigen Epochenpanorama griff Immermann diesen „Jahrhundertkonflikt“ in Preußen auf, den Machtkampf zwischen der Ge-burts – und der Geldaristokratie.

Als Protagonisten traten Hermann aus einem Herzogsgeschlecht und sein Oheim, ein wah-rer Industriekapitän mit gleich mehreren Produktionsstätten auf.


„Abermals sah Herrmann das tief gewundene Tal vor sich liegen, aus welchem die weißen Fabrikgebäude des Oheims hervorleuchteten. Die Maschinen klapperten, der Dampf der Steinkohlen stieg aus engen Schloten und verfinsterte die Luft, Lastwagen und Packenträger begegneten ihm, und verkündigten ihm durch ihre Menge die Nähe des rührigen Gewerbes. Zwischen diesen Zeichen bürgerlichen Fleißes erhoben sich auf dem höchsten Hügel der Gegend die Zinnen des Grafenschlosses, in der Tiefe die Türme des Klosters. Beide Besit-zungen nutzte der Oheim zu seinen Geschäftszwecken …Er besah die Fabriken. Fast alle Zweige dieser Art menschlicher Tätigkeiten hatten sich hier im Umkreise weniger Stunden abgelagert. Man musste wirklich über den Geist des Mannes erstaunen, der in verhältnismä-ßig kurzer Zeit eine ganze Gegend umzuformen verstanden hatte. Aus einfachen Landbau-ern waren Garnspinner, Weber, Bleicher, Messer- und Sägenschmiede, Glasbläser, Töpfer, Vergolder, ja sogar Zeichner und Maler geworden.“

Doch welcher Preis musste dafür bezahlt werden? Die ursprüngliche Schönheit der Landschaft war der Exploitation und dem Warenverkehr untergeordnet. Die Maschinenzeit gab den Arbeitstakt vor, unerbittlich von Jahreszeiten und Witterungsbedingungen unbeeinflusst. Beunruhigt bemerkt Hermann die kränkliche Gesichtsfarbe der Arbeiter und die bleichen Kindergesichter, vom Lärm, der Anstrengung und von der krankmachenden Luft in den Spinnsälen gezeichnet.

Und auch der mächtige Unternehmer selbst war ein getriebener seines Erfolges. Zwar bezwingt er mit seinen modernen Instrumenten und seiner kapitalistischen Akkumulation den überlebten Feudalismus samt deren faulenzenden und eingebildeten Existenzen, eben jenen Epigonen. Doch seine Gesundheit ist untergraben durch jahrelange rastlose Arbeit, die er gleichermaßen von allen um ihn herum erwartet. Vollends zerstört wird sein Weltbild als er von der Affaire seiner Frau mit einem jener Epigonen aus altem, aber zinslos daherschrei-tendem Adel, erfährt. Mit einem Schlage wird sein appropriierter materieller Reichtum, der sein Leben ausmachte, sinnlos und er selbst erliegt dieser Tragik. Der Unternehmer wird selbst Opfer seines Erfolges.

Und mit ihm – so könnte man den Gedankengang Karl Immermanns fortsetzen – riss die frühindustrielle Produktion Generationen von Fabrikarbeitern in Krankheit und Elend. Frauen und Kinder stellten den größten Teil der Belegschaft. Lange Arbeitstage und fehlender Arbeitsschutz führten zu massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Schwindsucht, die zeitgenössische Bezeichnung für Lungen- und Bronchialerkrankungen, war häufige Ursache für Erwerbsunfähigkeit und frühen Tod.


Erst angestoßen durch die Initiative des Barmer Fabrikanten Johannes Schuchard erließ der preußische Staat 1839 ein „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken“, das die Arbeit für Kinder unter neun Jahren verbot und für neun- bis sechzehnjährige die Arbeitszeit auf zehn Stunden begrenzte. Auch die kirchlich - karitative Armenfürsorge geriet an ihre Grenzen, so dass Städte wie Elberfeld und Barmen eigene Systeme kommunaler Armenhilfe (sog. „Elberfelder System“ ab 1853) entwickelten. Während sich früher der „Pöbel“ von Bettelei und Almosen ernährte (der Bettler war ein anerkannter gesellschaftlicher Stand) , so ging es nun darum, eine immer breitere Schicht von Unterbeschäftigten, Kranken und unverschuldet in Not Geratene zu unterstützen. Dies traf 1849 im Wuppertal für fast jeden fünfte Einwohner zu. Jeder Konjunktureinbruch und jede Missernte zogen sofort massenhaften Hunger und Entbehrung nach sich.


Dennoch blieben die Industriestädte weiterhin Magnete ungeregelter Zuwanderung, was zu Wohnungsnot führte mit all ihren sozialen Begleiterscheinungen wie mangelnde Hygiene, Schlafgängertum, heimliche Prostitution. Dies blieb patriarchalisch denkenden Unternehmern nicht verborgen, so dass sie aus sozialer Fürsorge heraus diverse sozialpolitische Hilfsvereine gründeten.


Der Aachener Unternehmer David Hansemann betrieb den Vorsorgegedanken mit Sparsamkeit und gründete 1834 einen „Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit “; 1836 richtete Alfred Krupp eine Krankenkasse ein und auch in anderen Städten folgten Bau- Hilfs- und Konsumvereine, um die Not zu lindern. 1844 veröffentlichte Friedrich Harkort in Elberfeld die Schrift „Bemerkungen über die Hindernisse der Zivilisation und Emanzipation der unteren Klassen“, in der er einen Überblick über diese Versuche gab und die alt hergebrachte Form des Almosengebens und damit der Fortschreibung des Pauperismus verurteilte. In sozialpoli-tische Diskussionen führte 1844/45 in Köln die Gründung eines Lokalvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen.


Hier ging es neben der Frage einer christlichen Ausrichtung auch darum, welche Rolle den Betroffenen selbst zuzubilligen sei. Sollen sie als Mitglieder selbst an der Aufgabe beteiligt sein oder sind sie als Empfänger bürgerlicher Wohltaten von der Vereinsorganisation ausgeschlossen?


Doch die Gründung von Lokalvereinen traf auf Widerstände in der preußischen Regierung. Nach drei „kommunistischen Versammlungen“, die im Frühjahr 1845 in Elberfeld stattfanden, argwöhnte man, mit diesen sozialpolitischen Vereinen den demokratischen Strömungen im Rheinland eine Plattform in die Hand zu geben.


Zu Ende gedacht war es überhaupt die Frage, ob denn eine Veränderung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse nicht von der Arbeiterschaft selbst auszugehen habe. Nur drei Jahre später, im Frühjahr 1848 formulierten Marx und Engels eine Antwort: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ lautete die Devise des Kommunistischen Manifest.


Der Arbeiter sollte nicht länger Objekt, sondern zum Subjekt in der Geschichte der menschlichen Gesellschaftsentwicklung werden. Doch wer war eigentlich „der Proletarier“? In wel-chen Verhältnissen lebte dieser? In welchen Lebensvorstellungen dachte er?


Karl Marx entwickelte sein Bild von der Arbeiterklasse aus den theoretischen Analysen der politischen Ökonomie, während Friedrich Engels stärker die unmittelbare Anschauung der Industrie in Manchester und im Wuppertal vor Augen hatte. Doch beide entwickelten keine eigene literarische Form, allenfalls gute journalistische Beschreibungen der Lebenssituationen des Proletariats. Ihm ging es um ökonomische Theorie und wissenschaftlich-philosophische Abstraktion.


Literarisch äußerst kreativ hingegen schrieb Georg Weerth, der vergessene und fälschli-cherweise mit dem Etikett der Heine-Imitation versehene.

Bekannt sind zwar seine satirischen Werke „Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski“ (1848) und „Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsle-ben(1849) sowie seine spritzigen Beiträge zum Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung 1848/49.

Weniger bekannt hingegen sind seine „Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten“,, mit denen er zu einem der Begründer der literarischen Sozialreportage wurde, in einer Linie mit dem zwei Generationen nach ihm berichtenden Egon Erwin Kisch. Weerth berichtet über seine Reise von Köln nach London mit einer ausgiebigen Schilderung über die Stadt und das Leben zum Teil in feuilletonistischer Manier, zum Teil auch mit grellen Misstönen der unvermutet auftauchenden sozialen Details. Von Bradford aus, wo er als Hand-lungskommis tätig ist, hat er engen Kontakt zu Friedrich Engels im nahen Manchester. In der Wiege der britischen Textilindustrie verschaffen sich beide einen intensiven Eindruck von den technischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen und verarbeiten diese jeder auf seine Weise. Friedrich Engels in seiner berühmten Schilderung „Von der Lage der arbeiten-den Klasse in England“ mit einem analysierenden und auf die Entwicklung einer allgemeinen Theorie ausgerichteten Tenor. Georg Weerth in Form einer modernen Sozialreportage, vor allem in den beiden zentralen Kapiteln „Die englische Mittelklasse“ und die „englischen Arbeiter“.

Anders als manche Sozialkritiker ist der Kaufmann Weerth von der Energie, der Ausdauer und dem Erfindungsreichtum der britischen Bourgeoisie beeindruckt, auch steht er den Erfindungen wie z.B. der Eisenbahn positiv gegenüber. Aber immer erinnert er den Leser dar-an, wer die Rechnung für diese Entwicklung zahlt:

„ Bei meinem Aufenthalt in Bradford hatte ich die beste Gelegenheit, die Opfer aufzuzählen, mit denen der reiche Brite seine industrielle Grösse erkauft. Manches hatte ich gelesen, was mir eine Idee hierüber geben konnte, aber ich wollte noch mehr sehen, als was man auf einem flüchtigen Gange durch die schlechtesten Gassen einer Fabrikstadt zu bemerken pflegt.“

Weerth griff zu einer für die damalige Zeit neuen, später von Kisch und heute von Günter Wallraff genutzten Methode: der Rollenreportage. Er schloss sich als Assistent einem schottischen Armenarzt auf seinen nächtlichen Runden an, kommt so in die Häuser, die Elendsquartiere und Obdachlosenasyle. Er berichtet faktenreich, hautnah, authentisch und läßt die Arbeiter selbst in langen Zitaten über ihre Lage Auskunft geben. Die Fülle der Informationen findet ihre Entsprechung in seinem Stil, der die Dramatik der Situationen packend und nüch-tern zugleich zeichnet. Weerth ist es auch wichtig, nicht in die Elendsromatik abzugleiten, wie wir sie etwa von dem späteren Charles Dickens kennen. Ein Kapitel „Über das Blumenfeste der englischen Arbeiter“ zeigt, dass der Arbeiter keineswegs von Natur aus interesse-los und abgestumpft ist, sondern dazu gemacht worden ist und dass er, sobald er einmal frei atmen kann, durchaus das Bedürfnis nach Schönheit und Kreativität hat. Dieses „Blumen-festkapitel“ ist jedoch als Übergangskapitel zu sehen, dem ein Kapitel über die englischen „radical reformers“ und die Chartistenbewegung folgt.

So argumentriert Weerth in seiner Disposition im Dreischritt:

Zunächst legt er die verzweifelte Lage der Arbeiter dar, dann zeigt er dass in diesen niedergedrückten Gestalten noch kreative Kraft steckt und schließlich beschreibt er die Versuche, durch politische Mobilisierung des eigen Selbstbewusstseins und Willens das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Weerth macht somit aus der Schilderung von Einzelschicksalen ein Stück Zeitgeschichte, das sich durch Stimmigkeit und strukturelle Ausgewogenheit auszeichnet und deshalb mit Recht in den Rang literarischer Prosa gehört. Zwar gab es auch in Deutschland ab und an Schilderungen der sozialen Lage (z.B. Wilhelm Wolf über die schlesischen Weber ), doch keine dieser Arbeiten kann es an theoretischer Reflexion, stilistischer Form und struktureller Einheitlichkeit mit Georg Weerths „Skizzen“ aufnehmen.

Interesssanterweise verschwindet nach dem Scheitern der Deutschen Revolution 1848/49 die literarische Reportage für das nächste halbe Jahrhundert in der Versenkung. Ob es an dem Rückzug Weerths aus der Politik und an seinem frühen Tod lag? Doch eine Personifizierung wäre zu kurz gegriffen. Es scheint vielmehr ein literatursoziologisches Phänomen zu sein, denn das Fiktionale in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts hatte gegenüber einer Verarbeitung von journalistisch recherchierten, realen Stoffen noch lange Zeit Vorrang. Nur in dem Bereich des Feuilleton hatte die Reportage die Möglichkeit zum Überwintern, allerdings wird sie auch dort durch die Figur des „Flaneurs“ subjektiviert und zugleich auch entschärft. Erst Egon Erwin Kisch gelang es, die zerstreuten Traditionen dokumentarisch narrativen und feuilletonistischen Schreibens zu bündeln und zu einer neuen Blüte zu führen.

Kehren wir nach diesem kleinen Ausflug in dass 20. Jahrhunderts, der uns aber zeigt, wie modern die Zeit des Vormärz gewesen ist, am Ende meines Vortrages zurück zu unserem Thema Industriealisierung und Literatur.

Kennzeichen dieser Epoche war im Kern die Synergie von technischen Erfindungen und der rigorosen Exploitation von Bodenschätzen und Arbeitskraft. Die augenfälligste Umwandlung dieser Energien in nutzbare Kraft war für die Zeitgenossen zweifellos die Dampfkraft.

Deshalb bildete die Dampfkraft in der Literatur der Zeit auch die Metapher der Industrialisierung. Dennoch war man sich bei aller Euphorie doch der Ambivalenz und der gesellschaftlichen Folgen der neuen Technik bewußt.

Zum einen neue Möglichkeiten eröffnend, zum anderen Existenzen zerstörend.

Man erkannte schon recht bald, dass es darauf ankam, welche Hand die unbändigen Kraftströme lenkt.


Ferdinand Freiligrath spitzte diese Frage in seinem balladesken Gedicht „von unten auf“, das 1846 in der Schweiz in seiner Sammlung mit jakobinischen Titel „Ca ira“ erschien, zu:


Er beschreibt – den traditionsreichen Topos vom menschlichen Gemeinwesen als Schiff aufgreifend - leicht süffisant die umjubelte Rheindampferfahrt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. zur Burg Stolzenfels. Dabei kommt es zu einer stummen Begegnung mit dem Proletarier- Maschinisten, der noch über klassische Bildung verfügt und Horaz kennt und murrend in Richtung König raisonniert:


„Wie mahnt dies Boot mich an den Staat! Licht auf den Höhen wandelst Du!


Tief unten aber, in der Nacht und in der Arbeit dunkelm Schoos,
Tief unten, von der Noth gespornt, da schür’ und schmied’ ich mir mein Loos!
Nicht meines nur, auch Deines, Herr! Wer hält die Räder Dir im Takt,
Wenn nicht mit schwielenharter Faust der Heizer seine Eisen packt?


Du bist viel weniger ein Zeus, als ich, o König, ein Titan!
Beherrsch’ ich nicht, auf dem Du gehst, den allzeit kochenden Vulkan?“


Freiligrath verleiht durch die Versstruktur des Alexandriners, den er aus der zeitgenössischen französischen Dichtung übernimmt, den zornigen Gedanken des Heizers durch seinen anhaltend hohen Ton und die gepaarten Reime eine anachronistische Schlagkraft. Ja er arbeitet sogar die künftige Rolle des „Proletarier-Maschinisten“ heraus, der die Gewalt über die Maschine hat.

Merkwürdigerweise fand das Gedicht bei Marx und Engels, mit denen Freiligrath seit Brüsse-ler Zeiten Anfang 1845 in Verbindung stand, kaum Widerhall. Marx überging es mit eisigem Schweigen und Engels verspottete Freiligraths neuen Radikalismus:

„Man muß gestehen,“ schrieb Engels, „ nirgends machen sich die Revolutionen mit größerer Heiterkeit und Ungezwungenheit als im Kopf unsres Freiligrath.“

Erst die Ereignisse um Freiligraths Gedicht „Die Toten an die Lebenden“(Juli 1848) machten ihn für Marx und Engels und ihre Neue Rheinische Zeitung wieder interessant. Freiligraths politische Bedeutung war durch seinen Prozess (Okt 1848) ungemein gestiegen, so dass man ihm einen Redaktionsposten in der NRhZtg. anbot. Doch die entscheidenden politischen Kommentare (z.B. über England oder über Außenpolitik) durfte er nicht schreiben. Er musste sich der Redaktion fügen, die aus taktischen Gründen darauf bedacht war, für eine freisinnige Republik zu streiten. Nur durch eine bürgerlich-demokratische Revolution waren nach Ansicht der Strategen Marx und Engels jene Voraussetzungen herzustellen, die den späteren Erfolg einer zweiten, konsequent ökonomischen Revolution garantierten. In der Schweiz hatte Freiligrath noch demonstrativ die „zweite wilde Schlacht“ gegen „des Besitzes Silberflotten“ gefordert. In der NRh Ztg. blieb ihm nur, „mit gebremstem Schaum“ für die ei-nige deutsche Republik und für liberal-bürgerliche Freiheitsrechte zu dichten.

Hören wir nun zum Abschluss Freiligraths „Ballade“ in vollständiger Fassung.


„Von unten auf“


„Ein Dämpfer kam von Bieberich: - stolz war die Furche, die er zog!
Er qualmt’ und räderte zu Thal, daß rechts und links die Brandung flog!
Von Wimpeln und von Flaggen voll, schoß er hinab keck und erfreut:
Den König, der in Preußen herrscht, nach seiner Rheinburg trug er heut!

…

Doch unter all der Nettigkeit und unter all der schwimmenden Pracht,
Da frißt und flammt das Element, das sie von dannen schießen macht;
Da schafft in Ruß und Feuersgluth, der dieses Glanzes Seele ist;
Da steht und schürt und ordnet er – der Proletarier-Maschinist!

…

Das glüh’nde Eisen in der Hand, Antlitz und Arme roth erhitzt,
Mit der gewölbten haar’gen Brust auf das Geländer breit gestützt –
So lässt er schweifen seinen Blick, so murrt er leis dem Fürsten zu:
„Wie mahnt dies Boot mich an den Staat! Licht auf den Höhen wandelst Du!


Tief unten aber, in der Nacht und in der Arbeit dunkelm Schoos,
Tief unten, von der Noth gespornt, da schür’ und schmied’ ich mir mein Loos!
Nicht meines nur, auch Deines, Herr! Wer hält die Räder Dir im Takt,
Wenn nicht mit schwielenharter Faust der Heizer seine Eisen packt?


Du bist viel weniger ein Zeus, als ich, o König, ein Titan!
Beherrsch’ ich nicht, auf dem Du gehst, den allzeit kochenden Vulkan?
Es liegt an mir: - Ein Ruck von mir, Ein Schlag von mir zu dieser Frist,
Und siehe, Das Gebäude stürzt, von welchem Du die Spitze bist!


Der Boden birst, aufschlägt die Gluth und sprengt Dich krachend in die Luft!
Wir aber steigen feuerfest aufwärts an’s Licht aus unsrer Gruft!
Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat
Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat!“.

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