Lesesaal > Essays > Beitrag
Weitere Beiträge
  • Max von der GrĂĽn: Als das Revier noch rĂĽhrt

    Ein Porträt von Wolfgang Delseit
    [12.12.2017]
  • Carmina Buerana. Ein Nachruf auf Michael Klaus

    von Gerd Herholz
    [12.12.2017]
  • Eberhard Illner: „König Dampf“. FrĂĽhindustrialisierung und Literatur im Rheinland

    Vortrag, gehalten im Heine-Institut am 9.12.2008
    [12.12.2017]
  • Simon Peters: „Ein Königreich aus Worten“

    Rose Ausländers poetische Sprachutopie
    [25.11.2017]
  • Tafelausstellung geht auf Wanderschaft
    [24.11.2017]
  • Matthias Bickenbach: Thomas Kling zu ehren

    Dichterfeier am Totensonntag
    [21.11.2017]
  • Pilar Baumeister: Pilar Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert, Auszug II

    Offener Konflikt zweier Gruppen: Gert Hofmanns
    [21.11.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

Home sweet home. Zu Gast bei westfälischen Autorinnen und Autoren.

Walter Gödden über ein Multimedia-Projekt der Literaturkommission für Westfalen

Mein Zuhause ist für mich.... Eine literarische Kommission unternahm Hausbesuche bei westfälischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Das Ergebnis präsentiert sie nun auf einer DVD. Dabei geht es um Fragen der Identität, Mobilität und nicht zuletzt auch um den schwedischen Möbelgiganten IKEA.


„Wenn ich es mitunter unternommen habe, die mannigfaltige Unruhe der Menschen zu betrachten, sowohl die Gefahren wie die Mühsale, denen sie sich, sei es bei Hofe oder im Krieg, aussetzen, woraus so vielerlei Streit, Leidenschaften, kühne und oft böse Handlungen usw. entspringen, so habe ich oft gesagt, daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können.“ Blaise Pascals (1623 – 1662) Satz wird noch heute gern zitiert. Besonders von Schriftstellern. Der Hagener Büchner-Preisträger Ernst Meister (1811-1979) beispielsweise hat sich auf Pascal berufen. Meister lebte in der kleinen Familienwohnung fast in Klausur und bezeichnete sich als „Gedankenspaziergänger“, der sich, statt mit der äußeren Welt, lieber mit „dem Sein überhaupt“ beschäftigte.
Oder Paul Schallück (1922-1976). Der Warendorfer und Wahlkölner verfasste eine biografische Selbstauskunft mit dem Titel: „Der Platz an dem ich schreibe“. Er habe, so Schallück, lange von einer mönchischen Zelle geträumt, die mit nichts als geweißten Wänden, ohne Tapete und Schmuck, nacktem Holzfußboden, einem Stehpult, Stuhl, einem einfachen Sessel und einem spartanischen Bücherregal ausgestattet sei. Als der Autor in den 1960er Jahren über seine Arbeitswelt reflektierte, sah sein Lebensumfeld freilich ganz anders aus. Schallück lebte in einer Multikulti-Großstadt, die ihm keinen Platz zur romantischen Askese ließ: „Köln dringt zu mir herein mit Glockengeläut und Motorengesumm, Hubertushörnern und Rasenmähern, Straßenbahngeknirsch, Hundegebell und Massengebrüll, wenn im nahen Stadion der Ball in den Kasten gepfeffert wurde.“ Die „große Welt“ forderte lautstark ihren Tribut: „Über meinen Schreibtisch hinweg wackelt der Hubschrauber von Bonn nach Brüssel; wenn es still ist, höre ich den Expreß von Stockholm nach Paris, oder von Warschau nach Madrid sausen. Düsenjäger der Nato durchbrechen die Schallmauer, lassen Fensterscheiben klirren, mich mit Verwünschungen hochfahren und auf den Balkon stürzen; aber der Pilot sieht dann schon Aachen und Belgien oder Holland vor sich auftauchen. Im Lebensmittelgeschäft gegenüber werden polnische Pflaumen und jugoslawischer Honig angeboten, französischer Wein und englischer Whisky, dänische Butter und spanische Apfelsinen, griechisches Öl und Zitrusfrüchte aus Israel, holländische Eier und portugiesische Sardinen, italienische Trauben und Schweizer Schokolade. Der Platz, an dem ich schreibe, liegt in Europa.“
Die Zitate aus der Literaturgeschichte sollen die Spannweite eines Themas illustrieren, das – es braucht nicht betont zu werden – unendlich viele Variationen zulässt. Ob Eremit oder Kosmopolit (oder beides in einer Person) – jeder Autor versucht sich seine Schreibumgebung so einzurichten, dass sie ihm adäquate Arbeitsstimulanz bietet. Wie also leben westfälische Schriftstellerinnen und Schriftsteller heute? Wie richten sie sich ein, wie kommunizieren sie mit ihrer Umwelt?
Dieser Frage ging ein Projekt der Literaturkommission für Westfalen mit dem Thema „Home sweet home. My IKEA“ nach. Die Ergebnisse waren im Laufe des Sommers in Form einer multimedialen Installation im Westfälischen Literaturmuseum Haus Nottbeck zu sehen und liegen nun als 30-minütige DVD-Dokumentation vor. Das Material fußt auf 60- bis 90-minütigen Interviews, die mit sieben westfälischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern geführt wurden – nicht an x-beliebigen Orten, sondern in den Privaträumen der Autorinnen und Autoren. Denn das war wichtiger Teil des Konzepts: Es sollte in Erfahrung gebracht werden, wie sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller inmitten ihres Wohnumfelds und durch ihr Wohnumfeld definieren, im zunächst Privaten, dann aber auch im öffentlich-politischen Kontext.
Beteiligt an dem Projekt waren der Paderborner Kabarettist und Schriftsteller Erwin Grosche, der in Berlin lebende renommierter FAZ-Kritiker und Schriftsteller Harald Hartung, die Hamburger Popmusikerin und Songschreiberin Bernadette la Hengst, der Autor moderner niederdeutscher Mundartgedichte Siegfried Kessemeier, der Satiriker und ‚bekennende’ Ruhrgebietsautor Michael Klaus, die Kinderbuchautorin Jutta Richter mit Wohnsitz auf Schloss Westerwinkel bei Herbern und der Autor und Aktionskünstler Axel Schulß aus Münster. Im Mittelpunkt der Gespräche stand die Klärung von Begriffen wie Identität, Provinzialität und Multimedialität. Wie sieht man sich im Bezugsfeld einer zusehends komplexeren Welt? Sucht man die Kommunikation oder wählt man eher die Einsamkeit eines Eremiten, einer Eremitin? Der Fragenkatalog schloss darüber hinaus auch ein grundsätzliches Nachdenken über die Bedeutung von Räumen ein – für das private Leben ebenso wie für den literarischen Text. Und mit Blick auf IKEA: Legen die Autorinnen und Autoren Wert auf wohnliche Exklusivität oder können sie sich auch mit serienproduzierten Möbeln anfreunden, die bekanntermaßen praktisch und preiswert sind?
Um es vorweg zu nehmen: Die meisten der befragten Schriftstellerinnen und Schriftsteller leben und schreiben zurückgezogen wie auf Inseln (auch wenn sie in urbanen Strukturen zu Hause sind). Sie sind ganz in ihren eigenen Arbeits- und Schreibkosmos eingesponnen, auf ihr eigenes Schreiben fixiert. Nach draußen geht man, um Eindrücke zu sammeln. Aber es hat den Anschein, als tue man dies auch nur deshalb, um die Wahrnehmungen dem eigenen Schreiben nutzbar zu machen. Denn ums Schreiben dreht sich alles. Es bildet den Nabel der Welt. Und so behaupteten die Befragten denn auch unisono, sie könnten gut auf jeden äußeren Luxus in ihrer Wohnung verzichten. Oder aber sie erklärten, unabhängig von jedem Mobiliar, längst im virtuellen Raum zu leben, im Internet oder an imaginären Vernetzungskoordinaten von Handyschallwellen. So etwa Axel Schulß und in Ansätzen auch Bernadette la Hengst, für die nicht mehr der Computer am Schreibtisch, sondern der mobile Laptop das Tor zur Welt darstellt. Eine weitere Frage betraf, unmittelbar hiermit zusammenhängend, die Vernetzung der eigenen vier Wände mit der Außenwelt qua Fernsehen, Radio, Tageszeitung, Handy oder wiederum Internet.
Generell gilt: Man holt, auf welchem Wege auch immer, die große Welt in die eigene Stube. Schier undenkbar ist dagegen, dass man, wie in den 60er, 70er Jahren, auf die Straße geht, um zu demonstrieren oder politische Aktionen zu initiieren. Auch literarische Gruppenzugehörigkeiten sind passé. Schriftsteller leben anonym, Tür an Tür neben Personen, die ganz „normalen“ Berufen nachgehen. Ihre Namensschilder sind unauffällig. Die Berufsbezeichnung, vor gut hundert Jahren ja noch Teil einer Briefadressierung, wird nirgendwo explizit herausgestellt.
Die Kommunikation passiert über das gedruckte, in die Welt entsandte Wort, nicht über öffentliches Handeln. Man schreibt zwar „für die Welt“, aber das private Lebensumfeld definiert sich in kleinsten Einheiten. Wie bei dem Münsterer Multimediakünstler Axel Schulß, der als vorrangiges Betätigungsfeld sein Stadtviertel vor Augen hat; hier möchte er wirken, wahrgenommen werden.
Bernadette la Hengsts Lebenswelt ist am wenigsten statisch „eingerichtet“. Die Popmusikerin stellt sich für die Zukunft noch viele weitere und ganz unterschiedliche Wohnungen und Lebensumfelder vor. Eine solche Lebensoffenheit ist bestimmender Teil ihrer Weltsicht und künstlerischen Arbeit.
Was freilich auch eine Frage des Alters und der Generationszugehörigkeit ist. Harald Hartung und Siegfried Kessemeier, beide über 70 Jahre alt, würden ihren Schreibtisch mit keinem anderen auf der Welt tauschen wollen. Warum auch? Man hat seinen bewährten Schreibort, der längst zu einem auch (literaturtheoretischen/-ästhetischen) Schreibstandort geworden ist. Gleichwohl: Die Annehmlichkeiten einer Großstadt – im Falle Hartungs Berlin – bzw. einer größeren Stadt – für Kessemeier Münster – will man nicht missen.
Die Angehörigen der mittleren Generation wie Jutta Richter oder Erwin Grosche plädieren dagegen – was vielleicht überrascht, sind doch beide noch geprägt von der politischen `68er- Bewegung – ganz entschieden für die Provinz bzw. die Vorzüge einer ländlichen Umgebung. Ihre Antworten haben dennoch nichts mit aufgestülptem, restriktivem Heimatbewusstsein zu tun, sondern eher mit den Vorteilen einer wenig entfremdeten Lebens- und Arbeitspraxis. Von Zeit zu Zeit seien jedoch Fluchten notwendig, um den eigenen Standpunkt zu überprüfen. Jutta Richter hat sich gerade für ein Jahr nach Italien verabschiedet. Sie möchte hierdurch temporär Abstand gewinnen zu ihrem ansonsten sehr geschätzten Leben auf dem Wasserschloss Westerwinkel bei Herbern – um die Vorzüge als „eingemietete“ Schlossherrin anschließend um so spürbarer wahrzunehmen.
Etwas Gemeinsames gibt es über alle Unterschiede hinaus: Die Privatsphäre ist allen Autorinnen und Autoren heilig. Als Geschichts- und Geschichtenarchiv, als intimer Treffpunkt mit Freunden (dafür ganz wichtig: der große Küchentisch), als Rückzugspunkt (dafür wiederum wichtig: die „geheime“ Truhe, in die man seine Siebensachen verkramen kann) oder auch nur als „Bewegungsfläche“: der Weg vom Schreibtisch in die Küche, zum Fenster, auf den Balkon... bevor man wieder am Schreibtisch Platz nimmt. Man braucht durchaus sein trautes Heim (nein, es ist nicht hinterweltlerisch verpönt!) – und einen verständnisvollen Lebenspartner, der auch so etwas wie „Bodenhaftung“ im unsicheren Gewerbe der Schriftstellerei garantiert.
Ansonsten aber ist Schriftstellerei, wie Michael Klaus erklärt, etwas höchst Unspektakuläres: Man sitzt am Schreibtisch, stundenlang, tage- und wochenlang, manchmal fast sein ganzes Leben... und es passiert fast nichts... zumindest für Außenstehende nicht ... etwas höchst Unspektakuläres, Langweiliges... Heutige Schriftsteller umgibt keine Aura, keine Weihe – das sind Vorstellungen früherer Jahrhunderte... viel eher sind sie geplagt von Arbeitsaufträgen und dem leidigen Kampf ums „liebe Brot“. Oder den Geistern, die man selbst rief – dem Personal seiner Erzählungen und Romane, mit denen man sich im permanenten Zwiegespräch befindet.
Zum Stichwort IKEA: Es gab einen weiteren Aufhänger des Fragekatalogs ab. Die Nachfrage war mehr als ein Gag. IKEA-Lebensentwürfe bedeuteten vor gut zwanzig Jahren – man hat es längst vergessen – eine Revolution für bundesdeutschen Einheitswohnzimmerstandard. Nicht, dass IKEA-Wohnen weniger genormt, standardisiert wäre. Aber plötzlich wurde Wohnen anders definiert – und propagiert. Nein, es sollte nicht mehr klobig, schwer und gediegen zugehen (Stichwort „Eiche brutal“), sondern luftig, flexibel, jugendlich-frisch, mobil. Keine Wohnsituation mehr, die auf die Ewigkeit ausgerichtet ist, sondern preisgünstige Wohn-Wohlfühllandschaften, die sich der jeweiligen Lebenssituation anpassen. Eine neue Philosophie, ein neues Lebensgefühl hielten Einzug, das sich als Marktstrategie bis heute prächtig ausgezahlt, bezahlt gemacht hat. Zum Nutzen des globalen Industriekonzerns, aber auch des Käufers, der oft nach dem Motto vorgeht: Erst mal schauen, was IKEA hat... Und man muss neidlos anerkennen, dass der aktuelle Werbeslogan „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ in Kombination mit witzigen Werbespots bestes Profi-Werbemarketing darstellt. IKEA geht mittlerweile in die zweite, dritte Generation, hat sich wandelbar gezeigt und seine Marktposition nicht verloren, sondern weiterhin ausgebaut, ja, genießt einen gewissen Kultstatus.
Von daher hatte der spezifische Zuschnitt des Themas durchaus eine zusätzliche Komponente. Jeder der befragten Schriftstellerinnen und Schriftsteller hatte seine Position zum schwedischen Möbelgiganten, wobei das Spektrum von entschiedener Ablehnung, über Gleichgültigkeit bis zur Anerkennung der Vorzüge des IKEA-Mobiliars reichte. An der Frage „Ikea oder nicht“ kristallisierte sich in den Interviews noch einmal – freilich viel profaner – heraus, was zuvor theoretisch-philosophisch expliziert worden war.


Walter Gödden


„Home sweet home – My IKEA“ war ein Gemeinschaftsprojekt. Neben Mitarbeitern der Literaturkommission für Westfalen (Martina Wagner-Egelhaaf, Jochen Grywatsch, Walter Gödden) beteiligten sich die ehemaligen Mitarbeiterinnen Claudia Röser und Lily Tonger-Erk, die maßgeblich die Ausstellungs-Installation im Westfälischen Literaturmuseum Haus Nottbeck gestalteten. Das künstlerische Konzept der Projekt-DVD wurde hauptsächlich von dem Münsterer Medienkünstler Martin Knott entwickelt und umgesetzt. Die DVD kann über das Westfälische Literaturmuseum, Landrat-Preideick-Allee 1, 59302 Oelde zum Preis von 10 Euro erworben werden (Tel. 02529-949457; Mail: info@kulturgut-nottbeck.de).

„Meine Heimat ist hier, mein Zuhause ist hier, da wo ich hin gehe, trage ich mich mit und indem ich mich mittrage, nehme ich auch eigentlich Westerwinkel mit in die Welt.“ (Jutta Richter)

„Mein Zuhause ist für mich ein Bezirk der Vertrautheit und möglichst weitgehender Selbstbestimmung.“ (Siegfried Kessemeier)

„Mein Zuhause ist, wenn meine Frau da ist und wenn ich schreiben kann, im Prinzip ist es mir dann egal, wo wir dann sind.“ (Michael Klaus)

„Mein Zuhause ist der Ort, wo mein Lebensmensch mit mir lebt, Lebensmensch im Sinne von Thomas Bernhard, in diesem Falle also meine Frau, ja da ist ganz entschieden mein Zuhause.“ (Harald Hartung)

„Mein Zuhause ist der Ort, wo meine Familie ist und natürlich ein Block und ein Kugelschreiber, der schreibt...“ (Erwin Grosche)

„Mein Zuhause ist für mich meine Kunst, ist für mich mein Zuhause, ist für mich meine Kunst, ist für mich mein Zuhause, ist für mich meine Kunst usw.“ (Axel Schulß)

„Mein Zuhause ist für mich meine Gitarre, mein Zuhause ist mein Sampler, mein Zuhause ist mein Computer, mein Zuhause ist mein Klavier, mein Zuhause ist mein neues Bett, mein Zuhause sind die Babysachen, die ich gerade gekauft habe, mein Zuhause ist mein Freund, meine Liebe, mein Zuhause ist der Blick aus dem Fenster, den Spielbudenplatz entlang, wenn die Lichter angehen und die Sonne untergeht.“ (Bernadette la Hengst)