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Joseph A. Kruse: „Berg’ und Burgen schau’n herunter“

Literarische Rheinbilder und kulturelle Identifikation im 19. Jahrhundert

4.
Die literarischen Stimmen sind, wie gesagt, vielfĂ€ltig und vielgestaltig. „Rheinbilder“ nannte Gottfried Keller, der in verschiedenen Zeiten immer wieder den Rhein zu seinem Thema gemacht hat, den kleinen Zyklus von drei Gedichten, die 1878 als Erstdruck in der „Deutschen Rundschau“ erschienen sind und unter der Überschrift „Das Tal“, „Stilleben“ und „FrĂŒhgesicht“ feine humoristische, magische wie historische oder auf Sagen bezogene Verbindungen herstellen, womit am weitlĂ€ufigen Teppich der rheinromantischen Auffassung fortgewebt wird. Selbst Anspielungen auf die Nibelungen, deren Goldschatz ja im Rhein verborgen liegen soll, fehlen nicht. Das „LiederschwĂ€lbchen“ weiß eben viele Jahrzehnte hindurch seine „Brust im Rheine“ zu netzen. Die schon von Brentano genutzte DĂ€monisierung des Rheins wurde ĂŒbrigens spĂ€ter in den Musikdramen Richard Wagners durchgĂ€ngig zur Signatur seiner mythologischen Beschaffenheit.

Ein halbes Jahrhundert vor den „Rheinbildern“ von Keller hat Heinrich Heine nicht nur im Reisebild „Ideen. Das Buch Le Grand“ seine rheinische Herkunft verraten und gefeiert. Er kann uns auch durch einige andere Texte als Zeuge fĂŒr die Besonderheit der Rheinliteratur dienen. Bereits im Zyklus „Junge Leiden“ seines berĂŒhmtesten Lyrikbandes „Buch der Lieder“ von 1827 hat ein rheinisches Gedicht als Nr. VII der „Lieder“ aus dem Bonner Studienaufenthalt des Jahres 1820 Aufnahme gefunden. Schöne Landschaft, sonniges Wetter und stille Liebe bilden die Voraussetzungen, aber Wonne und Untergang wohnen allzu eng beieinander. Der Rheinstrom ist in seiner heiteren AbgrĂŒndigkeit ein Spiegelbild fĂŒr die Geliebte. Der Stabreim, wie er den Anfang prĂ€gt, liegt bei allen romantischen Gebilden nicht fern:


Berg’ und Burgen schau’n herunter
In den spiegelhellen Rhein,
Und mein Schiffchen segelt munter,
Rings umglÀnzt von Sonnenschein.


Ruhig seh’ ich zu dem Spiele,
Goldner Wellen, kraus bewegt:
Still erwachen die GefĂŒhle,
Die ich tief im Busen hegt’.


Freundlich grĂŒĂŸend und verheißend
Lockt hinab des Stromes Pracht;
Doch ich kenn’ ihn, oben gleißend,
Birgt sein Inn’res Tod und Nacht.


Oben Lust, im Busen TĂŒcken,
Strom, du bist der Liebsten Bild!
Die kann auch so freundlich nicken,
LĂ€chelt auch so fromm und mild.


Im sich anschließenden „Lyrischen Intermezzo“ stehen als XI. Gedicht jene Zeilen mit dem Auftakt „Im Rhein, im schönen Strome“, in dessen Wellen sich „Mit seinem großen Dom / Das große, heilige Cöln“ spiegelt; im Kölner Dom dann gleicht das Bild der Madonna von Stefan Lochner genau der Geliebten. Hier wird in Variation zum gerade zitierten Gedicht jene IntimitĂ€t aus Landschaft, Kunstwerk und privaten GefĂŒhlen hergestellt, wie sie im folgenden Zyklus „Die Heimkehr“ gleich beim zweiten Gedicht mit der berĂŒhmten Anfangszeile „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ gewissermaßen zum Rezept fĂŒr eine internationale Wirkung geraten ist: Heine nimmt sich selber, sein Nichtwissen zu Beginn und sein vages Glauben am Schluß, als persönlichen, melancholischen Rahmen fĂŒr eine Abendstimmung, die mit dem fĂŒr die Schiffahrt nicht ungefĂ€hrlichen Loreleyfelsen verbunden wird, der in seinem wahrzunehmenden Aussehen wĂ€hrend des zauberhaften Sonnenuntergangs auf seinem Gipfel die Gestalt der schönsten und goldensten „Jungfrau“ erhĂ€lt und offenbar, gemĂ€ĂŸ der angeblich tradierten Geschichte, einem unaufmerksamen „Schiffer in kleinen Schiffe“ durch ihre Erscheinung und ihren Gesang den Untergang bringt, weil er fĂŒr nichts anderes mehr Augen und Ohren hat.

Heine ist nicht der Erfinder dieser Kunstfigur; er steht nicht allein. Brentano hat, wie bereits vermerkt, die „Lureley“ erschaffen und sie als Zauberin mit derartigen KrĂ€ften ausgestattet, daß sie nicht nur „Der MĂ€nner rings umher“, wie es im Volksliedton heißt, „viel zuschanden“ macht, sondern sogar den Bischof, der sie vor sein Gericht laden muß, zur Liebe entflammt. Er bestimmt sie, die von einem Manne betrogen wurde und ihres eigenen Zaubers mĂŒde ist, nicht zum von ihr erbetenen Tod durch das Schwert, sondern schickt sie als Nonne in ein Kloster. Auf dem Felsen, auf dem ihr von den drei Begleitern auf der Reise dorthin eine Rast gewĂ€hrt wird, winkt sie noch einmal dem ihr auf einem Schiff folgenden Bischof zu und stĂŒrzt sich in den Rhein. Die lange Ballade wird im Stile alter Chroniken ausgegeben als ein Lied, das „Ein Priester auf dem Rhein“ gesungen hat. Eine solche Gestalt aus FrivolitĂ€t und erotischem Zwang wie die Loreley bleibt literarisch gesehen nicht lange allein. Joseph von Eichendorff hat ihr sein kurzes, unheimliches „WaldgesprĂ€ch“ gewidmet, Otto Heinrich Graf von Loeben hat in seinem Gedicht „Der Lurleyfelsen“ dem „ZauberfrĂ€ulein“, poetisch betrachtet, nicht gerade die gelungensten Verse geschenkt. Auch die lyrischen Aussagen von Karl Simrock und Adelheid von Stolterfoth, denen sie gleich mehrmals Modell gestanden hat, Ida GrĂ€fin Hahn-Hahn oder Wolfgang MĂŒller von Königswinter können Heine in der Tat das Wasser nicht reichen. Es bleibt durchaus verstĂ€ndlich, daß seine Strophen, zumal in der Vertonung von Friedrich Silcher, auch wenn sich Karl Kraus zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer noch ĂŒber dieses PhĂ€nomen geĂ€rgert und darum lustig gemacht hat, einen Siegeszug durch die Welt angetreten haben. Selbst im Nationalsozialismus war das zum Volkslied avancierte Gedicht nicht aus dem GedĂ€chtnis zu löschen. Bis heute ĂŒbrigens haben sich die Dichter der Loreley angenommen. Die erfundene Sage nimmt Teil am großen Mythos, den der Rhein im Laufe der Zeit in sich versammelt hat. Die Ambivalenz des Stromes wird durch die vom Loreleyfelsen ausgehende Betörung deutlich: Die Schönheit und GefĂ€hrlichkeit der Landschaft können zur gleichen Zeit GlĂŒck und Verderben beinhalten.


5.
Auch fĂŒr den ĂŒber den Loreleyfelsen weit hinausreichenden, den ganzen „Vater Rhein“ umgreifenden Mythos ist Heine ein ausgezeichneter Zeuge. Sein Versepos „Deutschland. Ein WintermĂ€hrchen“ erscheint 1844 kurz nach den politischen und literarischen deutsch-französischen Auseinandersetzungen, die mit jeweils großen Portionen Nationalismus versetzt waren. Nicolaus Becker stimmt 1840 seine sieben Strophen an mit der trotzigen Forderung: „Sie sollen ihn nicht haben,/ Den freien deutschen Rhein“; Alfred de Musset antwortet ihm mit einem Hinweis auf den Rheinwein, der in den französischen GlĂ€sern gefunkelt hat: „Nous l’avons eu, votre Rhin allemand, / Il a tenu dans notre verre.“ Heine seinerseits, der berĂŒhmte deutsche Emigrant in Paris, sieht nach zwölf Jahren zum ersten Mal seine Heimat wieder und liefert ein klassisches Spottgedicht mit höchsten politischen AnsprĂŒchen. Auch er ist Patriot, erklĂ€rt er im Vorwort zum Einzeldruck des „WintermĂ€hrchens“ souverĂ€n und witzig, wenn denn die Deutschen bereit sind, ihr Bestes an kosmopolitischer HumanitĂ€t als maßgebendes Prinzip auszurufen! Dann werden ganz Frankreich, ganz Europa, die ganze Welt deutsch werden! Vorher aber beschwichtigt er seine Landsleute: „Seyd ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den Franzosen abtreten, schon aus dem ganz einfachen Grunde: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört er, durch unverĂ€ußerliches Geburtsrecht, ich bin des freyen Rheins noch weit freyerer Sohn, an seinem Ufer stand meine Wiege, und sich sehe gar nicht ein, warum der Rhein irgend einem Andern gehören soll als den Landeskindern.“
In den Köln-Kapiteln, den Capita IV bis VII seines Epos, schildert der Reisende, der von Paris kommt, in Aachen ĂŒber die Grenze gegangen ist und ĂŒber das Rheinland und Westfalen nach Hamburg zu seiner Familie und seinem Verleger fĂ€hrt, sein nĂ€chtliches GesprĂ€ch mit dem Vater Rhein. „Rheinfluß“ und „Rheinwein“ bestimmen den spĂ€ten Abend und die Nacht von vorne herein. Die Unterhaltung fĂŒllt das V. Caput: Heine sieht „den Vater Rhein / Im stillen Mondenglanze“ fließen und spricht ihn in einer Mischung aus burschikoser FamiliaritĂ€t und Respekt an:

Sey mir gegrĂŒĂŸt, mein Vater Rhein,
Wie ist es dir ergangen?
Ich habe oft an dich gedacht,
Mit Sehnsucht und Verlangen.


Der Dichter hört den Rhein „im Wasser tief“, und zwar „grĂ€mliche Töne, / Wie HĂŒsteln eines alten Mannes, / Ein BrĂŒmmeln und weiches Gestöhne“. Der Auftakt der Rede des Rheins, der sich anschließend ĂŒber das Rheinlied von „Niklas Becker“ Ă€rgert, weil es ihn besinge, „als ob ich noch / Die reinste Jungfer wĂ€re“, entspricht dem ZusammengehörigkeitsgefĂŒhl, mit dem Heine sich als RheinlĂ€nder versteht:


Willkommen, mein Junge, das ist mir lieb,
Daß du mich nicht vergessen;
Seit dreyzehn Jahren sah ich dich nicht,
Mir ging es schlecht unterdessen.


Nach langer Rede des Rheins und tröstender Antwort verabschiedet sich der Dichter mit dem Appell:


Gieb dich zufrieden, Vater Rhein,
Denk‘ nicht an schlechte Lieder,
Ein besseres Lied vernimmst du bald –
Leb wohl, wir sehen uns wieder.


Heine macht auf sein eigenes neues und besseres Lied aufmerksam, das sich freilich unter den Zensurbedingungen in Deutschland noch nicht offen entfalten kann und auf die nÀchste, verstÀndigere Generation zu warten hat.
Den Rhein hat Heine, trotz seines Abschiedsversprechens, nicht wiedergesehen, dennoch den Strom seiner Kindheit auch in den spĂ€teren Dichtungen nicht vergessen. Der „Romanzero“ von 1851 enthĂ€lt das rĂ€tselhafte Gedicht von der „PfalzgrĂ€fin Jutta“, die ĂŒber den Rhein fuhr, wĂ€hrend ihrem „leichten Kahn“ die Gespenster der von ihr zur Besiegelung der unverbrĂŒchlichen Treue in den Wassertod geschickten sieben Verehrer folgen. Die Verse aus dem Zyklus „Zum Lazarus“ aus den „Gedichten. 1853 und 1854“, die an eine Cousine in Hamburg erinnern, entsprechen genau dem romantischen Gestus, der eben den Rhein und, trotz einiger Varianten, auch keinen anderen deutschen Fluss beschwören mag: Das Gedicht „Du warst ein blondes JungfrĂ€ulein, so artig“ sollte nĂ€mlich in der Handschrift zuerst, was biographisch nahe lag, am „Elbestrand“, dann gar am „Weserstrand“ spielen und wurde zuletzt erst am „schönen Rhein“ beziehungsweise „Strand des Rheins“ lokalisiert!

Und unter den Nachlaßgedichten findet sich jener bewegende Erinnerungstext „Mir lodert und wogt im Hirn eine Fluth“, in dessen siebzehn Strophen Heines Phantasien als Reminiszenz an ein Weinlokal in Godesberg im Angesicht des Drachenfelsens wiedergegeben werden. Die Heimat, die der Rhein ihm gewesen ist, wird nur noch im Fiebertraum und als erbitterter Kampf mit seinem jungen und gesunden DoppelgĂ€nger erlebt. Das böse Erwachen findet dann in der BanalitĂ€t seiner schrecklichen Krankenstube zu Paris statt.


6.
Dieser hohe und ergreifende Ton wurde im Zuge einer Andenkenindustrie, was den Rhein und den Wein anging, nur allzu schnell vergessen. Schon Hoffmann von Fallersleben hatte auf manche Unsitten der englischen AndenkenjĂ€ger und die Pervertierung einer WertschĂ€tzung des Rheins und seiner schönen Aspekte, wenn auch ziemlich unbeholfen, hingewiesen. Ob nun die poetischen BemĂŒhungen von Ernst Moritz Arndt, Robert Reinick oder Ferdinand Freiligrath, Georg Weerth, Gottfried Kinkel, August Kopisch oder Emanuel Geibel, so wirkungsvoll sie zu ihrer Zeit gewesen sein mögen, dem Rhein seinen unvergeßlichen Platz in den Annalen der deutschen Literatur erobert und gesichert haben? Gewiß nur mit den mancherlei anderen, auch besseren Stimmen, die dem Rhein und dem dortigen Leben huldigen wollten. Heine war nur ein Beispiel fĂŒr einige Namen von grĂ¶ĂŸerem Gewicht und ĂŒberzeugenderem Klang: Goethe und Droste gehören dazu, Hölderlin, Eichendorff und Keller wurden schon genannt. Allerdings ist erst dem gesamten Chor jene Wirkung zu entnehmen, die der Rhein auf die Kunst und deren Publikum gehabt hat.

Eine ketzerische Anmerkung zum Schluß: WĂ€re es aber dennoch nicht unfair, etwa vorhandene schlechte Dichtungen zu beklagen und die Flut von Andenken zu verdammen? Hat nicht auch das ĂŒberbeanspruchte Schöne weiterhin seinen Reiz, der fĂŒr einige nun eben erst durch manche Übertreibungen vermittelt werden kann? Ist nicht die Sitte, trotz ihrer fĂŒr viele ĂŒbertriebenen Wiederholung, doch ganz nĂŒtzlich und rĂŒhrend, die angeblichen Volkslieder vom Rhein, darunter das Loreley-Gedicht von Heine, immer wieder zu Gehör zu bringen, wenn wir auf dem Schiff am entsprechenden Felsen vorbeifahren? Sollte der, selbstverstĂ€ndlich mĂ€ĂŸig genossene, Rheinwein nicht doch auch weiterhin erstaunliche Wunder vollbringen können, bei jungen wie alten Menschen, zumal er sich, wie wir gehört haben, jahrhundertelang hĂ€lt? Mit anderen Worten: Der Wunsch lautet, der Rhein möge sich unter seinen geschĂ€ftsmĂ€ĂŸig betriebenen Verderbnis als so widerstandsfĂ€hig erweisen, daß seine Glorifizierung im 19. Jahrhundert der Nachwelt wenigstens verstĂ€ndlich erscheint.


Der Aufsatz wurde zuerst gedruckt in: „Ganges Europas, heiliger Strom“. Der literarische Rhein (1900-1933). Katalog zur Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts in Verbindung mit dem Arbeitskreis zur Erforschung der Moderne im Rheinland e.V. und der Heinrich-Heine-UniversitĂ€t DĂŒsseldorf, mit UnterstĂŒtzung des Landschaftsverbandes Rheinland. Hrsg. von Sabine Brenner, Gertrude Cepl-Kaufmann, Bernd KortlĂ€nder. DĂŒsseldorf 2001 (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts, DĂŒsseldorf. Hrsg. von Joseph A. Kruse).
Dort finden Sie auch die ausfĂŒhrlichen Quellenangaben zu den Zitaten.

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