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Martin Maurach: Ein weiblicher Tonio Kröger?

Philipp Kellers ErzĂ€hlung „Gemischte GefĂŒhle“ aus dem Jahr 1913
Nicht jeder kann es sich leisten, zwischen den Welten des KĂŒnstlers und des BĂŒrgers den GrenzgĂ€nger zu spielen wie Tonio Kröger in Thomas Manns berĂŒhmter ErzĂ€hlung. Schließlich ist auch nicht jeder ein LĂŒbecker Patriziersohn. „Wie fruchtlos, zwanzig Jahre zu leben, um zu einem solchen Resultat zu kommen“ - so sinniert Bertheline Gröger, die Hauptfigur der ErzĂ€hlung „Gemischte GefĂŒhle“ des 1891 in Aachen geborenen Autors Philipp Keller, ĂŒber die „Ruhe“, die sie sich von ihrer Heirat mit dem Seidenfabrikanten Reimanns verspricht (Philipp Keller: Gemischte GefĂŒhle, Stuttgart: Klett-Cotta 1990 (zuerst Leipzig: Ernst Rowohlt 1913), S. 115. KĂŒnftig: GG). Auch wenn sie und andere Figuren vom Lebensalter her den Personen aus Frank Wedekinds „FrĂŒhlings Erwachen“ (1891) nĂ€herstehen und die Handlung das Erwachsenwerden Berthelines in den Mittelpunkt rĂŒckt, lĂ€sst sich Kellers ErzĂ€hlung doch in manchen Aspekten als eine kleinbĂŒrgerliche Variation des zehn Jahre Ă€lteren „Tonio Kröger“ lesen.

Bertheline, die Tochter eines Buchhalters, wird gegen ihren Willen von einem großsprecherischen Studenten schwanger, sie folgt ihm in die UniversitĂ€tsstadt, lernt den Lebenswandel einer Ă€rmlichen Möchtegern-BohĂšme kennen, erleidet nach einem Abtreibungsversuch eine Totgeburt und kehrt schließlich in ihre Heimatstadt zurĂŒck.- Auch wenn Keller offenbar persönliche Erlebnisse verarbeitet und Thomas Mann in den veröffentlichten TagebuchauszĂŒgen aus der Entstehungszeit nicht erwĂ€hnt (‚Mein Tagebuch beginnt eine öffentliche Sache zu werden‘. Aus Philipp Kellers TagebĂŒchern 1911/12. Mitgeteilt v. Gregor Ackermann u. Gunter E. Grimm, in: Gregor Ackermann, Walter FĂ€hnders u. Werner Jung (Hrsg.): Ruth Landshoff-Yorck, Karl Otten, Philipp Keller und andere. Literatur zwischen Wilhelminismus und Nachkriegszeit, Berlin: Weidler 2003, S. 177-210), gehört „Gemischte GefĂŒhle“ in den Kontext der sich mit der Lebensphilosophie auseinandersetzenden und Dekadenzerfahrungen verarbeitenden Literatur um 1900. Der ‚KĂ€lte‘ der Dekadenz entspricht bei Bertheline symbolisch das Feuer, welches – ob im Leben oder in der Kunst – „entsteht [...], ohne vorhanden zu sein“ (GG,141f.). Mit dieser EnttĂ€uschung arrangiert man sich im KleinbĂŒrgertum jedoch leichter, als es die Weltschmerzroutinen eines schriftstellernden LĂŒbecker Patriziersohns gestatten.

Keller gehörte wĂ€hrend seines Medizinstudiums u.a. in MĂŒnchen und Leipzig zum Kreis um Karl Otten und Walter Hasenclever und veröffentlichte zumindest noch einige weitere kĂŒrzere Prosatexte sowie Rezensionen. SpĂ€ter war er als Arzt fĂŒr Haut- und Geschlechtskrankheiten weithin anerkannt. Eine außerordentliche Professur in Freiburg i.Br. musste er nach 1933 aufgeben (Werner Jung, Nachwort, GG, 144-150, hier 146); nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in Aachen Ă€rztlicher Direktor der StĂ€dtischen Hautklinik. Den kĂŒnftigen Arzt mag man bereits an den genauen Beobachtungen und der lakonischen Bildersprache von „Gemischte GefĂŒhle“ erkennen.

Bertheline Grögers Lebens- und Liebeshunger wird durch die Klavierlehrerin Marthe Karstens mit kleinen lesbischen Spielchen erweckt, was an die homoerotischen Aspekte der Beziehung zwischen Tonio Kröger und Hans Hansen erinnern mag. Bertheline wird hoffnungslos von dem Gymnasiasten Frank van Holm angebetet – wie Ingeborg Holm von Tonio Kröger. Sie verlĂ€sst Frank zugunsten des erfahreneren, großsprecherischen Studenten Hesemann, der sie schwĂ€ngert. Nach dem Tode ihres Vaters folgt Bertheline Hesemann an dessen Studienort – vermutlich MĂŒnchen - und schwindelt sich u.a. von ihrer Mutter und der Klavierlehrerin das Geld fĂŒr einen Abtreibungsversuch zusammen. Das Kind kommt tot zur Welt und wandert in den Sektionssaal. Bertheline verkehrt noch eine Weile im Kreise Hesemanns, der ihr zunehmend gleichgĂŒltig wird, und seiner studentisch-bohĂšmehaften Freunde. Sie erzĂ€hlt der noch unerfahrenen Studentin Marie Schuhmacher ihre Geschichte, worauf sich Marie mit einem Freund Hesemanns einlĂ€sst, dem pseudogenialisch-grotesken „Heinrich Heinrich“ Krahles.

Dann kehrt Bertheline zu Mutter und Bruder in ihre Heimatstadt zurĂŒck, schlĂ€gt sich mit BĂŒroarbeiten durch und heiratet schließlich, nach einem letzten Beinahe-Abenteuer mit dem reichen Zigarrenfirmen-Erben Kistenmaker, den verwitweten, bĂŒrgerlich-bescheidenen Reimanns, der bereits einen kleinen Sohn hat. So erscheint sie am Schluss gereifter als Frank, der ihr noch immer hoffnungslos anhĂ€ngt und sie – ebenso wie ihre Mutter – noch lange fĂŒr unschuldig hĂ€lt. WĂ€hrend Frank Walt Whitman liest und noch immer BĂŒcher schreiben möchte, kann Bertheline sogar eine gewisse Emanzipiertheit in die Ehe retten. Bereits die Initiative zum ersten Kuss ging Frank gegenĂŒber von ihr aus (GG, 22f.). Dass sie eine starke junge Frau zu sein scheint, wird nur teilweise relativiert durch die Bedeutung, die kleine Kinder und damit die kĂŒnftige Rolle als (Stief-)Mutter fĂŒr ihre Entwicklung haben.

Einige Rollen aus dem „Tonio Kröger“ erscheinen in „Gemischte GefĂŒhle“ also gleichsam mit vertauschten Geschlechtern besetzt. Selbst Magdalena Vermehren, die Interesse an Tonio Krögers Versen hat, aber in der Tanzstunde „oft hin[fĂ€llt]“ (Thomas Mann: Tonio Kröger, in: ders.: FrĂŒhe ErzĂ€hlungen 1893-1912 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2.1), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2004, S. 243-318, hier 258. KĂŒnftig: TK), hat in GG ihre Entsprechung in der hinkenden Hilde Zeisig, die Hesemann zugunsten von Bertheline verlĂ€sst.

Vom kleinbĂŒrgerlichen Elternhaus ĂŒber Hesemanns StudentenbohĂšme bis zum VerfĂŒhrungsversuch des Fabrikantensohns durchlĂ€uft Bertheline verschiedene Milieus, die Keller oft mit lakonischer Ironie charakterisiert. Diese Entwicklung spiegelt sich in einer manchmal geradezu parodistisch an „Tonio Kröger“ erinnernden Bilder- und Motivsprache: Temperaturmetaphorik und Feuersymbolik, der Nord-SĂŒd-Gegensatz mit ‚Italien‘ als ProjektionsflĂ€che Ă€sthetischer und erotischer WĂŒnsche, die Welt der KĂŒnstler und VariĂ©tĂ©s.

„Erstarrung; Öde; Eis; und Geist! Und Kunst!“ betrachtet Tonio Kröger als prĂ€gende Faktoren seines Lebens vor der urlaubsweisen ‚Heimkehr‘ in den dĂ€nischen Norden (TK, 315).Der Ausspruch fĂ€llt nach dem desillusionierenden Ball-Erlebnis, wo er Ingeborg Holm und Hans Hansen vermeintlich wiedergesehen und sogar einer bei der Quadrille gestĂŒrzten dĂ€nischen Magdalena Vermehren aufgeholfen hat.

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