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Martin Maurach: Ein weiblicher Tonio Kröger?

Philipp Kellers ErzĂ€hlung „Gemischte GefĂŒhle“ aus dem Jahr 1913
Bertheline wird dagegen auf ihrem Weg vom ‚Feuer‘ der Leidenschaft in verschiedenen Gestalten begleitet, bis dieses sich gleichfalls als illusionĂ€r herausstellt. Hesemann begegnet sie zum ersten Mal auf einem Gartenfest, wo Lampions leuchten und ein Feuerwerk abgebrannt wird. Man mag bei diesem gĂ€ngigen Symbol an jenes Feuerwerk in Goethes „Wahlverwandtschaften“ denken, das Eduard um Ottiliens willen abbrennen lĂ€sst, um ihr seinen leidenschaftlichen Besitzanspruch zu gestehen (Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. Erich Trunz u. Benno v. Wiese. Bd. 6. MĂŒnchen: dtv 1982, S. 242-490, hier S. 338f.) Viel spĂ€ter, nachdem sie sich Kistenmaker entzogen hat, wird Bertheline von der Angst gepackt, dass ihr Kleid sich entzĂŒndet habe und sie ‚brenne‘. Als Gattin des Herrn Reimanns empfĂ€ngt sie Frank ein letztes Mal in ihrem Haus, um in seiner Gegenwart ihren kleinen Stiefsohn vor dem ZĂŒndholz zu warnen, bei dem Feuer entstĂŒnde, „ohne vorhanden zu sein“ (GG, 141f.).

Diese Botschaft ist eindeutig an Frank gerichtet. Wenn er am Schluss der ErzĂ€hlung ihre „Karte“ empfĂ€ngt, die ihn auffordert, „ein Wiedersehen mit ihr zu vermeiden“ (GG,143), muss er nunmehr glauben, dass sie ihn nie geliebt habe.
Hesemann verfĂŒhrt Bertheline in ihrer Heimatstadt nach dem Besuch eines schlichten VariĂ©tĂ©s, dessen zunehmend sinnliches und körperbetontes Programm er mit vulgarisierten Nietzsche-Gedanken kommentiert. Demnach gĂ€be es „nichts, was man nicht tun dĂŒrfte. WĂ€re es unmoralisch im Sinne eines Naturgesetzes, so existierte es nicht.“ NatĂŒrlich begĂŒnstigt er aus der gleichen Taktik heraus ihren „Plan, auch KĂŒnstlerin zu werden“ (GG, 33). Insofern erscheint sie vorbereitet auf Hesemanns Bekanntschaften, darunter dessen robust-bĂŒrgerliche Geliebte Else Trimpe, Marie Schuhmacher, der sechzigjĂ€hrige religiöse Sonderling Berthold und der bereits erwĂ€hnte Krahles, der sich zum nĂ€rrischen Philosophen „zwischen Heiland und Harlekin“ stilisiert, aber gleich darauf auch „wie ein gescheiter BĂŒrger“ plaudern kann (GG, 45f.).

Ausgerechnet mit Krahles durchlebt Bertheline in einem Park eine wiederum durch Feuersymbolik herausgehobene Unterredung, wĂ€hrend der sie ein fremdes Kind tröstet und insofern bereits eine Mutterrolle antizipiert. Aus diesem „Garten“ vertreibt sie ein „WĂ€rter“, das Kind bleibt bei seiner rechtmĂ€ĂŸigen Betreuerin. Trotz dieser Anspielung ist damit das Paradies beiden noch nicht endgĂŒltig verschlossen. Krahles stellt „den Schein“ auf dem Gesicht, „wenn die Mutter die Lampe hereintrug“, dem „LaternenanzĂŒnder“ gegenĂŒber, der „mit dem Stab in der Lampe herum [stochert], kaum wird sie hell, so drĂŒckt er sich ins Dunkel“ (GG, 78f.). Es erscheint kaum nötig, dass der ErzĂ€hler kurz darauf Hesemann leibhaftig ‚vorbeihuschen‘ lĂ€sst. Wenn Bertheline spĂ€ter beim endgĂŒltigen Bruch mit der Klavierlehrerin, der sie ihre erotische Initiation verdankte, wiederholt beteuert, sie wolle „anstĂ€ndig werden“ (GG, 107), so hat ausgerechnet das verlotterte Pseudo-Genie Krahles mit seiner kaum verschlĂŒsselten bildlichen Kurzfassung ihrer Geschichte ihr die Richtung zum Feuer der mĂŒtterlichen Lampegewiesen.

Als Bertheline Krahles wegschickt, beteuert sie zwar noch, „ich kann keinen Menschen lieben“ (GG, 79). Insgesamt erfĂŒllt sich in dieser Szene jedoch ein prophetischer Wachtraum, in dem sie sich selbst durch ihr Auge, das Organ rationaler, kĂŒhler Betrachtung verkörpert sieht: „Ich fĂŒhle mich abseits von den andern Menschen, ich sehe entweder BeschrĂ€nktheit oder WillkĂŒr, aber ich empfinde nicht, daß sie so selbstverstĂ€ndlich handeln, wie ich es gewohnt bin. Boccaccio Cervantes! vielleicht bin ich auch ein Genie. [...] Man braucht ja nicht gerade KĂŒnstler zu sein, um ein Genie zu bedeuten [...]“ (GG, 46). Die Anrufung der beiden berĂŒhmten Autoren ist Krahles‘ stehende Redensart. Vielleicht steht Bertheline hier der Krögerschen Einsamkeit und ‚kalten‘ kĂŒnstlerischen Erkenntnis am nĂ€chsten; es ist auch „eine scharfe, kĂŒhle Strömung“, die ihrem Traum-Ich zuflĂŒstert: „Sie werden ihrem Kinde nicht entrinnen“ (ebd.). WĂ€hrend Bertheline hier noch ĂŒber dem Einschlafen ihr Kind „unbekĂŒmmert“ vergisst (GG, 47), setzt es sich in der Parkszene mit Krahles gegen alle Genie-Ambitionen durch - auch wenn es sich dort um ein fremdes Kind handelt.

Deutet man „Tonio Kröger“ mit Schopenhauer, so siegt der Weltwille ĂŒber die nur vorĂŒbergehende rationale oder Ă€sthetische Kontemplation des KĂŒnstlers (Erich Heller: Thomas Mann. Der ironische Deutsche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 (zuerst engl. 1958), S. 74-76). Schlichter gesagt, zeigt Berthelines Schicksal hier wohl auch den entscheidenden Unterschied zwischen einem mĂ€nnlich-großbĂŒrgerlichen und einem weiblichen und kleinbĂŒrgerlichen „Tonio Kröger“ in einer insgesamt keineswegs ‚emanzipierten‘ Gesellschaft.
Obwohl Keller seine ErzĂ€hlungmit Hilfe deutlicher Anleihen bei Thomas Manns NamensprĂ€gungen, Bildsymbolen und Leitmotiven strukturiert hat, sollte man den Vergleich nicht pressen. Steht das Feuer bei Keller fĂŒr die erotische Leidenschaft oder das Begehren danach, so ist „Italien“ zumindest im „Tonio Kröger“ eine Chiffre fĂŒr die dem bĂŒrgerlichen Norden entgegengesetzte Sehnsuchtsheimat der KĂŒnstlerexistenz, aber auch fĂŒr eine von Kröger spĂ€ter ĂŒberwundene „Lebensform des Dilettantismus“ (Thomas Mann: FrĂŒhe ErzĂ€hlungen. 1893-1912. Kommentar von Terence J. Reed unter Mitarb. v. Malte Herwig (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2.2), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2004, S.154. KĂŒnftig: TK KO).

Im kleinbĂŒrgerlichen Milieu wird dieses exotische Motiv dagegen von handfester Ironie ĂŒberformt. Bertheline braucht keine kathartische Heimkehr in die nördliche „Vaterstadt“ wie Tonio Kröger, dem Italien „bis zur Verachtung gleichgĂŒltig“ geworden sei (TK, 282). Dass ihre Hochzeitsreise als Frau Reimanns ausgerechnet nach Italien fĂŒhrt (GG, 136), integriert nicht nur das vermeintlich Exotische ins bĂŒrgerliche Alltagsleben, sondern wirkt wie die finale Wiedergutmachung einer lebensbestimmenden Reihe unglĂŒcklicher ZusammenstĂ¶ĂŸe mit diesem populĂ€rkulturellen Mythos. Stammt Tonio Krögers Mutter, von der er seine kĂŒnstlerischen Neigungen herleitet, „von ganz unten auf der Landkarte“ und ist sie „von unbestimmt exotischem Blut“ (TK, 247, 317), so ist Bertheline selbst bereits ein ungewolltes Kind, nĂ€mlich die Folge einer „Unbedachtsamkeit nach der italienischen Nacht eines Gesangvereins“ (GG, 10). Ihr an Tuberkulose erkrankter Vater soll spĂ€ter auf Ă€rztlichen Rat nach Italien fahren, kann sich das aber nicht leisten (GG, 29). WĂ€hrend seine Tochter ihm ersatzweise aus Reiseprospekten und Zeitungen ĂŒber dieses Land vorliest, kann sich Hesemann bei ihren Eltern als Italienkenner einfĂŒhren, kurz bevor er Bertheline verfĂŒhrt (GG, 29-31). So klar umrissen sind Möglichkeiten und Grenzen des Exotismus im KleinbĂŒrgertum.

WĂ€hrend Tonio Kröger von der Malerin Lisaweta Iwanowna als „ein verirrter BĂŒrger“ (TK, 281) durchschaut wird, hat Bertheline trotz ihrer zeitweiligen KĂŒnstler- und VariĂ©tĂ©-Ambitionen nie ein Werk hervorgebracht. Nach der vermeintlichen Wiederbegegnung in DĂ€nemark beginnt Krögers ‚Herz‘  unter der dem dekadenten KĂŒnstlertum geschuldeten Erstarrung wieder zu leben, so dass er schließlich Lisaweta gegenĂŒber die „BĂŒrgerliebe zum Menschlichen“ fĂŒr nicht nur Ă€sthetisch, sondern vor allem auch ethisch gut erklĂ€ren kann (TK, 318). Dagegen ist es bei Keller ausgerechnet das verkrachte Pseudogenie Krahles, der Bertheline auf den Weg der bĂŒrgerlichen Heirat und (Stief )Mutterschaft bringt. Im ĂŒbrigen zeigt Kellers ErzĂ€hlung aber vor allem, dass das ‚Gewöhnliche‘ im KleinbĂŒrgertum alles andere als eine ‚Wonne‘ ist. LĂ€sst Thomas Mann seine Hauptfigur am Ende gleichsam zum Autor seiner selbst heranreifen (TK KO, 194), so erfĂ€hrt der dekadent-detachierte ErzĂ€hler als literarischer Typus bei Keller durch die genauen Beobachtungen und die lakonisch-demaskierenden SĂ€tze stilistisch ebenso eine Abfuhr wie durch die Wahl von Milieu, Geschlecht und Handlungsaufbau.

Insofern hat die Verwendung von ‚Leitmotiven‘ und Symbolen in „Gemischte GefĂŒhle“, von „Tonio Kröger“ her gesehen, schon als solche einen ironischen Zug. In „Ärmliche VerhĂ€ltnisse“, der von Werner Jung 1994 aus Kellers Nachlass herausgegebenen zweiten lĂ€ngeren ErzĂ€hlung aus dem Studentenmilieu, treten solche Techniken zugunsten manchmal etwas ausschweifender Reflexionspassagen völlig zurĂŒck (Aachen: Alano).
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