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Matthias Kordes: Das Atom und die Ethik

Zum 90. Geburtstag von Heinrich Schirmbeck (*23. Februar 1915)

1. Der Anlass
Am 23. Februar 2005 begingen die Städte Darmstadt (Wohnort) und Recklinghausen (Geburtsstadt) zeitgleich einen Festakt zu Ehren des Schriftstellers, Essayisten und Rundfunkjournalisten Heinrich Schirmbeck. In Darmstadt hielt nicht zufällig Gerald Funk, der Marburger Germanist und beste Kenner des Schirmbeck’schen Lebenswerkes, den Festvortrag. An beiden genannten Orten wurde u.a. mit Rezitationen aus seinen Werken ein Dichter und Intellektueller geehrt, der seinen größten literarischen Ruhm insbesondere in den ‚goldenen’ Jahren der alten Bundesrepublik, d.h. von etwa 1950 bis 1980, erworben hatte. Wiesbaden wiederum ist ein dritter Ort des aktuellen Geschehens, wo sich jüngst aus einem Förder- und Freundeskreis die gemeinnützige „Heinrich Schirmbeck-Gesellschaft“ konstituiert hat; der dort ansässige Verleger Immo Hilbinger wartet mit einer repräsentativ gestalteten dreibändigen Sammel- und Jubiläumsausgabe von Schirmbecks wichtigsten Werken auf (Roman: „Ärgert dich dein rechtes Auge“, Meistererzählungen unter dem Titel: „Die Pirouette des Elektrons“, „Der Kris“, Verlag AIG Hilbinger, Wiesbaden 2005 (Kontakt: AIG.Hilbinger@t-online.de). Diese neue Teiledition steht gewissermaßen in der Nachfolge einer früheren Ehrenausgabe, die auf Betreiben von Schirmbecks Heimatstadt und in enger Kooperation mit ihm selbst bereits vor 10 Jahren erschienen ist: „Ein Leben für die Zukunft“. Heinrich Schirmbeck zum 80. Geburtstag. Ein Lesebuch im Auftrag der Stadt Recklinghausen hg. von Werner Burghardt, Recklinghausen 1995.


2. Zur Person

Wer ist Heinrich Schirmbeck, dessen Gesamtoeuvre über 400 Titel umfasst und dessen Texte vor nicht allzu langer Zeit - anders als heutzutage - noch in den Feuilletons aller großen deutschsprachigen Tageszeitungen besprochen wurden? Aus westfälischer bzw. Recklinghäuser Perspektive hier die wichtigsten Lebensdaten und –stationen (vgl. z.f. auch die Kurzbiografie in http://de.wikipedia.org):

23. Februar 1915: geboren im polnisch und montanindustriell geprägten Stadtteil Recklinghausen-Süd als Sohn des Reichsbahnsekretärs Heinrich Schirmbeck.
1917-1934: Kindheit und Jugend in Recklinghausen-SĂĽd, Bochumer StraĂźe 25 / Ecke Neumarkt.
Ostern 1934: Abitur an der Hittorf-Oberrealschule, Recklinghausen.
Sommer 1934: Umzug nach Frankfurt, kaufmännische Lehre (abgebrochen).
1934-1937: Buchhändlerlehre in medizinischer Fachbuchhandlung in Frankfurt/M., Studierverbot durch Nazi-Behörden. Erste gedruckte Erzählung: „Zwei auf einem Floß“.
1938: Werbeleiter der Akademischen Verlagsgesellschaft Athenaion,
Potsdam.
1939-1943: Tätigkeit beim Ullstein-Verlag und bei der Frankfurter Zeitung,
ebendort Veröffentlichung erster Erzählungen. Publikation früher literarischer Texte.
1940-1945: Militärdienst, U.S.-Kriegsgefangenschaft.
1940-1954: Freundschaft mit Peter Suhrkamp.
1941/1944: Erscheinen des ersten eigene Novellen-Bandes „Die Fechtbrüder“.
1946-1950: Redakteur beim Feuilleton der „Schwäbischen Zeitung“ und der
„Badischen Zeitung“.
1950-1951: Werbeleiter der „Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung“ sowie
bei der „Frankfurter Illustrierten“.
1950: GroĂźer Literaturpreis der Akademie der Wissenschaften in Mainz
(u.a. zusammen mit Arno Schmidt, Laudatio von Alfred Döblin).
ab 1952: Tätigkeit als freier Schriftsteller und wissenschaftlicher
Rundfunkjournalist (zahlr. Novellen, Kurzgeschichten, Essays,
Wissenschaftsreportagen).
1957: Wissenschaftsroman „Ärgert dich dein rechtes Auge “:
literarisches Hauptwerk (engl. Übersetzung “The blinding light“).
1958: Roman „Der junge Leutnant Nikolai“; Freundschaft mit Robert Jungk.
1959 ff.: Mitgliedschaft im Deutschen PEN-Zentrum.
1962 ff.: Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie fĂĽr Sprache und Dichtung,
Darmstadt.
1964: Essay-Band: „Die Formel und die Sinnlichkeit“. Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften in Mainz.
1966: biologische Anthropologie: „Ihr werdet sein wie Götter“ (in zahlr. Sprachen übersetzt).
1967: Ăśbersiedlung von Frankfurt/Main (seit 1955) nach Darmstadt.
1970-1990: Engagement fĂĽr Friedens-, Anti-Atom- und AbrĂĽstungspolitik.
1972-1995: 14 literarische Veröffentlichungen im „Vestischen Kalender“
(Almanach fĂĽr den Kreis Recklinghausen).
1986: Erste öffentliche Ehrung durch die Stadt Recklinghausen im Rahmen
des 750-jährigen Stadtjubiläums.
1987: Nicht ausgeführte Pläne zur Umsiedlung nach Recklinghausen.
1991: Ăśberreichung der GroĂźen Stadtplakette in Recklinghausen.
1995: Ăśberreichung der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt/Main.
23. Februar 2005: Ehrung durch die Städte Darmstadt und Recklinghausen anlässlich des 90. Geburtstages.

Schirmbeck verkörpert einen Intellektuellen des klassischen, nicht-akademischen Typs. Seine zahlreichen Versuche, Studien, Abhandlungen und Reportagen über die philosophischen, ethischen und gesellschaftlichen Fragen, Probleme und Ambivalenzen des Atom- und Technologiezeitalters machten ihn schon früh einem Carl Friedrich von Weizsäcker ähnlich; seine überaus breit angelegte Gelehrsamkeit ist größtenteils autodidaktisch erwachsen und fließt ein in die grenzgängerische Wahl seiner fortschrittskritischen Themen und Motive. Bemerkenswert auch heute noch seine Studie: „Die Formel und die Sinnlichkeit: Bausteine zu einer Poetik im Atomzeitalter“ (1964). Vieles von seiner Fach- und Kunstprosa ist ohne Zweifel Bestandteil der Blütezeit des vornehmlich für wortbetonte Rundfunkzwecke arbeitenden Wissenschaftsjournalismus, der noch nicht von Dominanz der Fernsehbilder marginalisiert worden war.

Die Sprache seiner Erzählungen, Novellen und Kurzgeschichten, wohl sein höchstentwickeltes Genre (zusammengefasst im Sammelband: „Die Pirouette des Elektrons“), wirkt klassizistisch, kultiviert und anspruchsvoll (lesenswert zum 60. Jahrestag des Kapitulation 1945 z.B. die streckenweise in surrealem Timbre gehaltenen Novellen: „Marche funèbre“ (1947) und „Die Flucht“ (1947), letztere eine Begebenheit aus Kontext der sog. Ardennenoffensive 1944/45. Nicht von ungefähr wurde sein erzählerisches Werk von manchen Rezensenten verglichen mit demjenigen von E.A. Poe, E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck.

Seine eigentliche politische Prägung erhielt er durch das nachfolgende Zeitalter des Kalten Krieges und des atomaren Weltkonfliktes. Vor diesem Hintergrund wurde er in den 1970er und –80er Jahren vollends zum homo politicus. Er gehörte zu den Protagonisten der Anti-Atom- und Friedensbewegung, der beispielsweise freundschaftliche Kontakte zu Petra Kelly und Gerd Bastian unterhielt. Noch gegen den Irak-Krieg des George W. Bush hat sich der Jubilar, von Alter und Krankheit mittlerweile nicht mehr unberührt, im Frühjahr 2004 dezidiert-kritisch geäußert. Schirmbeck ist die auch mehrfach literarisch gespiegelte Verbundenheit zu seiner Heimatstadt Recklinghausen stets ein Anliegen gewesen. Ihm war es vergönnt, die Festlichkeiten in der evangelischen Thomas-Gemeinde-Darmstadt mitzuerleben. Schirmbeck verbringt heute seinen bescheidenen Lebensabend im Darmstädter Künstlerviertel „Park Rosenhöhe“.


3. Zur Ăśberlieferung

Das Stadtarchiv Recklinghausen (www.archive.nrw.de, Kontakt: stadtarchiv-recklinghausen@t-online.de) bewahrt einen Teil des Vorlasses auf (Umfang: fünf Archivkartons, Laufzeit: 1934-2000; enthält u.a.: Biografisches, Ehrungen/Auszeichnungen, Werkmanuskripte, berufliche und private Korrespondenzen, Pressespiegel, Separatdrucke, Sonstiges; Schriftstücke liegen teilw. in Fotokopie vor). Diese Überlieferung ist seit 1958 durch persönliche Kontakte zwischen Schirmbeck und dem damaligen Stadtarchivar Dr. Werner Burghardt sukzessive nach Recklinghausen gelangt. Auch anlässlich verschiedener Besuche Schirmbecks in seiner Heimatstadt kam es zu Abgaben kleineren Umfangs. Der Archivbestand ist mittlerweile durch ein konventionelles Findbuch erschlossen und steht für wissenschaftliche Zwecke der Benutzung offen. Der größte Teil der persönlichen Papiere befindet sich jedoch weiterhin beim Bestandsbildner selbst, darunter auch mehrfacher Schriftwechsel mit Peter Suhrkamp, Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Johannes Rau und Petra Kelly. Über den zukünftigen Verbleib dieses Privatarchivs hat der Nachlasser noch nicht verfügt. Die Stadtbücherei Recklinghausen wiederum (www.bibliotheken-im-kreisre.de; Kontakt: h-j.fingerle@recklinghausen.de) kann mit einer nahezu vollständigen Sammlung seiner gedruckten Werke aufwarten.


4. Neuere Literatur ĂĽber Schirmbeck

G. Funk: Die Formel und die Sinnlichkeit. Das Werk Heinrich Schirmbecks, mit Personalbibliografie, Paderborn 1997; Ders.: Im Labyrinth der Spiegelungen; Heinrich Schirmbeck als phantastischer Erzähler, Wetzlar 2001; C.L. Appl: Heinrich Schirmbeck and the two cultures. A post-war German writer’s approach to science and literature. New York 1998; Westfälisches Autorenlexikon 1900 bis 1950. Im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe herausgegeben und bearbeitet von W. Gödden und I. Nölle-Hornkamp. Paderborn 2002, hier S. 709-713, mit summarischem Werkverzeichnis und weiteren Angaben zur Literatur über Schirmbeck.

Dr. Matthias Kordes, Stadtarchiv Recklinghausen