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Pilar Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert (Auszug)

Klischees, Vorurteile und realistische Darstellungen des Blindenschicksals. Zu Stefan Zweig:

Ein Berliner Kunstantiquar erzĂ€hlt einem Bekannten im Zug die rĂŒhrende Geschichte des alten, erblindeten Mannes, der einstmals eine der reichsten Bildersammlungen besaß, die er spĂ€ter bis zum letzten StĂŒck der Sammlung verlor, ohne es selbst je zu erfahren.

In bitterer Not, in der Inflationszeit nach dem Krieg, hatten seine Frau und seine Tochter alles verkaufen mĂŒssen, aber den Verlust vor ihm verheimlicht, um ihm den Schmerz zu ersparen. Zu diesem Zweck hatten sie die allmĂ€hlich verschwindenden SchĂ€tze mit wertlosen BlĂ€ttern vertauscht.

Der Blinde freut sich riesig ĂŒber den Besuch des Antiquars nach so vielen Jahren und will ihm mit Stolz seine Sammlung zeigen.

Der ErzĂ€hler beschreibt als erstes sein etwas peinliches Erstaunen, als er entdeckt, dass der Alte blind ist. GemĂ€ĂŸ der Perspektive in der Geschichte wird die Reaktion eines einem Blinden begegnenden Mannes besonders ausfĂŒhrlich dargestellt: „Schon von Kindheit an, immer war es mir unbehaglich, einem Blinden gegenĂŒberzustehen, niemals konnte ich mich einer gewissen Scham und Verlegenheit erwehren, einen Menschen ganz als lebendig zu fĂŒhlen und gleichzeitig zu wissen, dass er mich nicht so fĂŒhlte, wie ich ihn. Auch jetzt hatte ich ein erstes Erschrecken zu ĂŒberwinden, als ich diese toten, starr ins Leere hineingestellten Augen unter den aufgestrĂ€ubten weißbuschigen Brauen sah.„ Der Besucher empfindet "Unbehagen", "Scham", "Verlegenheit" und ein "erstes Erschrecken". Als Ursache dafĂŒr wird der Kontrast zwischen dem lebenden Menschen und den toten Augen angegeben, so dass die Gestalt eines Blinden fĂŒr den Besucher eine beunruhigende WidersprĂŒchlichkeit enthĂ€lt, nĂ€mlich die zwischen Menschsein und Andersartigkeit.

Auch die spÀter beschriebenen Haltungsmerkmale des Blinden stehen im Kontrast zueinander. Seine freudige Geste der ausgestreckten HÀnde und die starre Unbeweglichkeit seiner anderen Glieder, denn er lÀuft dem Besucher nicht entgegen, sondern er bleibt immer am selben Punkt im Raum "inmitten des Zimmers" stehen.

Ein weiteres Stadium seiner Verlebendigung Ă€ußert sich in der Beschreibung: „Er wandte sich in die Richtung, wo er seine Frau vermutete, als wollte er sagen: "Hörst Du", und voll Freudigkeit in der Stimme, ohne eine Spur jenes militĂ€risch barschen Tones, in dem er sich noch eben gefallen, sondern weich, geradezu zĂ€rtlich, wandte er sich zu mir.“ Sein plötzlich ausdrucksvolles Gesicht, die VerĂ€nderung seiner Stimme, die Bewegungen zu seiner Frau und zu dem Fremden hin, alles deutet auf andere Ausdrucksmittel hin, die den Blickkontakt einigermaßen ersetzen.

Das eigentliche Thema der Geschichte ist aber nicht der Kommunikationsverlauf zwischen dem Besucher und dem Blinden, sondern die Notwendigkeit der LĂŒge in gewissen Situationen. Durch eine Art Zeichensprache verstĂ€ndigt sich die Frau mit dem Fremden und teilt ihm so mit, was der Blinde nicht hören soll. "Nun verstand ich sie. Ich wusste, dass sie wĂŒnschte, ich solle eine sofortige Verabredung ablehnen und erfand schnell eine Verabredung zu Tisch".

SpĂ€ter, als die Tochter den Besucher aufsucht und ihm die erschĂŒtternde Wahrheit erzĂ€hlt, wird dieser zum aktiven Komplizen an der TĂ€uschung des Blinden. Der alte Sammler wird, wie der Blinde in DĂŒrrenmatts Drama, oder Jolante in Heinrich Hertz Drama "König RenĂ©es Tochter" u.v.a. von dem UnglĂŒck des Wissens um schreckliche Dinge ferngehalten.

Dadurch aber verliert diese Gestalt an MĂŒndigkeit und EigenstĂ€ndigkeit, wird so sehr zum Kind, zum geistig Blinden gemacht, dass die Blindheit fĂŒr den Fremden (fĂŒr den Leser ebenfalls) durch ihre Pathetik und Traurigkeit ein unvergessliches, nicht zu ĂŒberwindendes Merkmal bleiben muss. Wenn er schon als Kind die Andersartigkeit der Blindheit empfunden hat, so muss diese "Episode" seine Einstellung im Sinne des Unbehagens noch verstĂ€rkt haben. Durch die tĂ€uschende, schonende Warmherzigkeit der anderen dem Blinden gegenĂŒber, entsteht auch seine entsetzliche Isolation von der Welt der Tatsachen und seine Verkennung der RealitĂ€t. Der alte Mann weiß nichts ĂŒber die finanzielle Not der Familie, ĂŒber die verĂ€nderten Preise und UmstĂ€nde. Die zwei Frauen belĂŒgen ihn auch in anderen Dingen, oder zumindest vermeiden sie jegliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. „Er weiß auch nicht, dass wir den Krieg verloren haben und dass Elsass und Lothringen abgetreten sind, wir lesen ihm aus der Zeitung alle diese Dinge nicht mehr vor, damit er sich nicht aufregt.“

Die Manipulierbarkeit eines solchen Schicksals kann man nur akzeptieren, wenn man annimmt, dass der Alte von vorneherein nicht nur blind, sondern geistig unzurechnungsfĂ€hig gewesen ist. Nicht nur seine Augen sind geschlossen, seine ganze Existenz wird durch die fehlende Sehkraft, aber vor allem durch das Fehlen richtiger Informationen wie zugemauert und von der Außenwelt abgetrennt.

Man könnte fragen, ob das Verhalten der beiden Frauen sich ohne weiteres rechtfertigen lĂ€sst. In der Geschichte aber wird die Legitimation des menschlichen GlĂŒcks, auch wenn dieses auf einer TĂ€uschung basiert, gar nicht in Frage gestellt. Es gilt als eine unbestritten hinzunehmende moralische Bewertung, der sich auch der ErzĂ€hler anschließt, dass die letzten Illusionen eines Menschen, mit mitleidsvoller FĂŒrsorge, um welchen Preis auch immer, gerettet werden mĂŒssen. So wenn die Tochter ausruft "Vielleicht haben wir Unrecht an ihm getan", bezieht sie sich lediglich auf den Verkauf der Sammlung, nicht auf die versĂ€umte AufklĂ€rung des Blinden, und sie hĂ€lt immer noch an der Konstruktion der LĂŒge fest, die als Lebenshilfe verstanden wird, als die Ermöglichung einer kindischen, rĂŒhrenden Freude.

Durch die von den Frauen herbeigefĂŒhrten UmstĂ€nde wirkt die Freude des Sammlers um so rĂŒhrender und peinlicher, wie z.B. an der Stelle, als der visionĂ€re arme Blinde nur leere BlĂ€tter genussvoll mit seinen HĂ€nden betastet. Damit wird die Botschaft des Mitleids gesteigert und vollkommen abgerundet, denn es ist klar, dass ein unaufgeklĂ€rter, betrogener Blinder mitleidswĂŒrdiger als einer erscheinen muss, der genau weiß, was er in HĂ€nden hĂ€lt und was ihn umgibt. Die Stellen, die die ekstatische Bewunderung des Blinden fĂŒr seine nicht existierende Sammlung darstellen, enthalten daher den höchsten Grad an Grauen fĂŒr den Besucher, zwingen ihn aber gleichzeitig dazu, als Schauspieler in der traurigen Komödie mitzuwirken: „Mir lief es kalt ĂŒber den RĂŒcken, als der Ahnungslose ein vollkommen leeres Blatt so begeistert rĂŒhmte, und es war gespenstisch mit anzusehen, wie er mit dem Fingernagel bis zum Millimeter genau auf alle die nur in seiner Phantasie noch vorhandenen unsichtbaren Sammlerzeichen hindeutete. Mir war die Kehle vor Grauen zugeschnĂŒrt, ich wusste nichts zu antworten; aber als ich verwirrt zu den beiden aufsah, begegnete ich wieder den flehentlich aufgehobenen HĂ€nden der zitternden und aufgeregten alten Frau. Da fasste ich mich und begann mit meiner Rolle. "Unerhört!" stammelte ich endlich heraus. "Ein herrlicher Abzug!" Und sofort erstrahlte sein Gesicht voller Stolz.“

Zwei Stunden lang sieht der Besucher die leeren Fetzen Papier und weil er die Diskrepanz zwischen dem Blinden und der RealitĂ€t nicht ertragen kann, glaubt er beinahe daran, was der Blinde in seiner ĂŒberwĂ€ltigenden "Leidenschaft" noch sieht. Die MittĂ€terschaft des Besuchers wird an keiner Stelle problematisiert. Sein Mitleid mit den zwei schwachen Frauen und dem Blinden, dessen Freude vor der Zerstörung bewahrt werden muss, rechtfertigt ihn.

Das große Ziel der TĂ€uschung wird erreicht. Der Blinde erlebt seinen GlĂŒckstag, seinen vollen Triumph, der ihn auf seine ganze Existenz mit Zufriedenheit zurĂŒckblicken lĂ€sst, weil er ĂŒberzeugt davon ist, in allem recht gehabt und klug gelebt zu haben: „Da habt ihr mich immer misstrauisch gescholten, weil ich alles Geld in meine Sammlung gesteckt: es ist ja wahr, in sechzig Jahren kein Bier, kein Wein, kein Tabak, keine Reise, kein Theater, kein Buch, nur immer gespart und gespart fĂŒr diese BlĂ€tter. Aber ihr werdet einmal sehen, wenn ich nicht mehr da bin - dann seid ihr reich, reicher als alle in der Stadt und so reich wie die Reichsten in Dresden, dann werdet ihr meiner Narrheit noch einmal froh sein.“

Wieder erscheint diese irrtĂŒmliche Prognose in einem zu krassen Gegensatz zur Wirklichkeit. Gleichzeitig erlaubt uns diese Selbstcharakterisierung der Figur zum ersten Mal, Klarheit ĂŒber die zu einseitige Natur des Mannes zu bekommen, der sechzig Jahre lang nur fĂŒr seine Sucht, seine Leidenschaft gelebt hat. Die rĂŒhrende Situation der Blindheit ermöglicht kaum eine Analyse der Figur, doch geht aus diesen Worten hervor, dass es sich um eine wenig flexible Person handelt, um einen Menschen, der schon immer seine Interessen starrköpfig und autokratisch auf nur einen einzigen Punkt fixiert hatte. Wenn das so ist, könnte man daraus folgern, dass die Schuld der TĂ€uschung nicht die Frau und die Tochter trifft, sondern ihn selbst, der sich allen anderen Alternativen der Lebensgestaltung verweigert hat. Aber die Schuldfrage wird im Text gar nicht angesprochen, lediglich die Situation der TĂ€uschung und des GlĂŒcks als Positivum, trotz der Unechtheit und des Betrugs. Weiterhin besonders wichtig fĂŒr den Beobachter ist die Wirkung des GlĂŒcks in der Physiognomie des Blinden, die Verlebendigung des bisher tot Geglaubten. Das plötzliche sich mit Ausdruck FĂŒllen des Gesichtes eines Blinden wird wieder unterstrichen: „Es war grauenhaft und doch gleichzeitig rĂŒhrend fĂŒr mich, denn in all den Jahren des Krieges hatte ich nicht so vollkommenen, so reinen Ausdruck von Seligkeit auf deutschem Gesichte gesehen, wieder ging ein Leuchten in den toten Augensternen auf.“

Was er an dem Blinden bewundert, ist dessen Begeisterung "in dumpfer, freudloser Zeit", dessen starke Liebe zur Kunst, die ihn ĂŒber die anderen Menschen erhebt und seine IntensitĂ€t des Empfindens, die sich hauptsĂ€chlich in den HĂ€nden, also im Tastsinn Ă€ußert: „Er nahm meine beiden HĂ€nde, und seine Finger strichen liebkosend mit der ganzen AusdrucksfĂ€higkeit eines Blinden an ihnen entlang bis zu den Gelenken, als wollten sie mehr von mir wissen und mir mehr Liebe sagen, als es Worte vermochten.“

Weshalb der Besucher sich am Schluss der Geschichte vor sich selber schĂ€mt, wird nicht eindeutig gesagt. Im Grunde ist er davon ĂŒberzeugt, eine gute Tat geleistet zu haben: "Ich hatte einen Blinden sehend gemacht fĂŒr eine Stunde". Er besitzt die Dankbarkeit dreier Menschen, dennoch sieht er die Ambivalenz seiner Rolle und den Kontrast zwischen seiner eigenen geschĂ€ftstĂŒchtigen und praktischen Natur und der Gestalt des alten Blinden.

Auszug aus der gleichnamigen Dissertation Pilar Baumeisters, erschienen bei Peter Lang 1991 (= EuropÀische Hochschulschriften) 459 Seiten