Pilar Baumeister: Pilar Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert, Auszug II
Offener Konflikt zweier Gruppen: Gert Hofmanns
In Hofmanns ErzĂ€hlung "Der Blindensturz" wird besonders eindrucksvoll die gesellschaftliche Dimension des Blinden-schicksals geschildert. Die sechs Blinden, die vom Ver-fasser absichtlich nicht individualisiert werden (es heiĂt immer "wir"), stehen der Gesellschaft gegenĂŒber. Im Laufe der ErzĂ€hlung kommt man zu dem Ergebnis, dass die unmenschliche Behandlung, die den Blinden von der Seite der Sehen-den zuteil wird, viel schlimmer als das Ăbel der Blindheit selbst ist. WĂ€hrend Maeterlinck an Pieter Brueghels GemĂ€lde "Die Blinden" (1569) nur das Ausgelie-fertsein des Nichtsehens abgelesen hat, schildert Hofmann die gesellschaftliche Wirklichkeit der dargestellten Blinden und stellt all die Elemente zusammen, die dazu gefĂŒhrt haben, den Blindenfiguren einen so unendlich traurigen Ausdruck zu verleihen. Er registriert den Maler und dessen Verhalten zum Gemalten, die sechs lebenden Modelle und auch die umstehenden Nebenfiguren.
Eine antagonistische Beziehung zwischen den Blinden und den anderen ist von Anfang an spĂŒrbar. Der Klopfer sagt z.B.: âBei ihnen (den Blinden) sind die Augen im Hinterkopf, wie bei manchen Tieren. Damit fĂŒhlen sie, was um sie herum geschieht, vorne brauchen sie keine. Nicht, fragt er, ihr braucht keine Augen?! Und die Blinden antworten: âNein, sagten wir, wir brauchen keine. Und stocken, wollen noch etwas hinzufĂŒgen, aber der Gedanke entgleitet uns.â
Ein Kind ist weniger feindselig und nĂ€hert sich den Blinden. Aber auch es will sie nicht mehr anfassen: âAch, wenn ich nicht drĂŒcken darf, fasse ich sie auch nicht an... Nein, ich glaube nicht, dass sie blind sind, sagt es, nachdem es seine Hand wahrscheinlich an seiner Hose abgewischt hat. Was das Kind vor allem empfindet, ist Neugier. So fragt es, wie viel die Blinden ĂŒberhaupt hören können.
Auch die anderen Menschen schauen ihnen nach. Die Blinden leiden unter dem GefĂŒhl der Beobachtung: âAlso dann, sagten wir. Und kriechen, wie immer, wenn man uns betrachtet, dichter zusammen, blicken steiler nach oben hinauf. Und fĂŒhlen, dass wir gesehen werden, teils aus der NĂ€he, teils von fern. Ein Meereswunder sind wir, wenn wir so durch die Dörfer ziehen, ein gemeinsames, mĂŒhsam bewegtes, stilles und dunkles Ding. Dem, wenn es zur Schau gestellt wird, Angst, Ekel und Erbarmen entgegenschlĂ€gt... Erbarmen mit den Blinden, rufen wir und schwenken unsere Stöcke, damit man uns aus dem Weg geht (Wenn sie unsere Stöcke dann nicht mehr fĂŒrchten, zeigen wir ihnen unsere Augen).â
Diese wĂŒtende Reaktion der Blinden entspricht der AtmosphĂ€re der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Sehenden, die in der ganzen ErzĂ€hlung vorherrschend ist. Auch ihre Mitmenschen zeigen nie Mitleid oder Liebe fĂŒr die Blinden. Es scheint, dass die ĂŒbliche Haltung der Sehenden darin besteht, dem fĂŒr sie unangenehmen Anblick auszuweichen: âSchon von weitem, wenn sie uns kommen sehen, gehen sie uns aus dem Weg, drĂŒcken sich an uns vorbei. Denn im Gegensatz zu unseren Freunden, den KrĂŒppeln, bringen wir kein GlĂŒck. Wenn es nach ihnen ginge, wĂŒrden sie fĂŒr uns ein tiefes Loch in der Erde graben und uns hineinwerfen und fest zudecken, damit wir weg sind, statt uns auch noch zu malen, statt uns durch Malen festzuhalten, durch Malen zu verdoppeln. Nein, sagen wir, lieber ins Loch.â
Die kurzen Gesten der Neugier bedeuten demnach keine NĂ€he. Der Blinde wird am liebsten vergessen, versteckt und alleingelassen. Nur gelegentlich wird er zu gewissen Zwecken gebraucht und dann aus der Absonderung herausgeholt, wie etwa, wenn sie wie hier vom Maler als Modell benötigt werden. FĂŒr ihn werden sie gefĂŒttert und gepflegt, aber immer als Tiere oder GegenstĂ€nde ohne eigenes Leben behandelt: âSchau, wie sie kleckern, sagten sie. Ja, sagen wir, wir kleckern. Da lachen sie und sagen: Nur weiter so. Immer schwitzt und stopft euch voll.â
Die Magd reagiert auch abwehrend auf die NĂ€he der Blinden: âGanz recht, sagen wir und atmen ihr entgegen und tappen auf sie zu, um nach ihr zu langen und uns, mit Hilfe von Hals, Schultern, BrĂŒsten, ein Bild von ihr zu machen. Sie weicht uns aber aus. Sie will sich nicht berĂŒhren lassen, sie fĂŒrchtet, unser Leiden steckt an.â
Das allgemeine Verhalten ist durch HĂ€rte und Missbilligung gekennzeichnet.
Auch der GĂ€rtner wird wĂŒtend âund schreit, dass es falsch sei, ĂŒberhaupt mit uns zu reden und auf uns zuzugehen und uns so herumlaufen zu lassen, weil wir alles nur durcheinander brĂ€chten, die Gedanken, die Menschen, die Luft. Und zertrampelten, was uns in den Weg kommt. Schau sie doch an, ruft er und zeigt wohl auf uns. Sofort denken wir, dass wir in Blumen stehen, und treten einen Schritt zurĂŒck, sind aber nicht sicher, ob wir aus den einen Blumen nicht in andere treten. Dann wieder der GĂ€rtner: ob sie - wohl die Magd, falls sie eine ist - sich schon den Krautgarten hinter dem Haus angesehen hĂ€tte, da wĂŒrde sie ihre Ăberraschung erleben. Wir seien mitten-durch-gestampft wie die Schweine durchs tĂŒrkische Feld. Eine QuĂ€lerei sei das ja, Hungerleider wie uns so frei herumlaufen und ĂŒber ihre eigenen BĂ€rte fallen zu lassen.â
Dieses sehr negative Bild der Gesellschaft ist noch mild im Vergleich mit dem des Malers. Gerade dieser, der die Blinden am besten verstehen mĂŒsste, dem man eine höhere FĂ€higkeit des Mitempfindens zutrauen könnte, bleibt stumpf und gefĂŒhllos, ohne Augen fĂŒr die lebenden Gestalten, die er nur als technisches Mittel und Instrument fĂŒr die Entstehung seines GemĂ€ldes duldet.
Keine Sympathie, keine Zuneigung empfindet er fĂŒr seine Figuren, er ist ausschlieĂlich in sein eigenes Werk vertieft. Dies geht bereits aus seiner ersten Reaktion hervor, als die Blinden ihn grĂŒĂen und er sagt: "Das brauchen sie nicht". Er will nicht, dass die Blinden ihm nahe kommen und mit ihm reden. Und spĂ€ter, als die Blinden ihm Fragen stellen möchten, ruft er ihnen immer wieder zu "StĂŒrzen, sie sollen nicht fragen, sondern stĂŒrzen!". Er hört den Fragen auch nicht zu, sondern malt immer weiter. Nur durch die Vermittlung des Freundes dringen ein paar Worte der Blinden zu ihm vor. Er bleibt unerreichbar fĂŒr die Wirklichkeit der vor ihm und durch seine Schuld leidenden Menschen, denn er ist nur bemĂŒht, durch seine Kunst das Leiden der Menschen zu veredeln, aber nicht es zu verĂ€ndern: âUnd dann laufen und straucheln wir wieder und schreien und stĂŒrzen so langsam und so deutlich wie möglich in den Bach und liegen eine Weile auf den Steinen, und dann richtet man uns wieder auf. Andererseits auf der Leinwand, wie der gute Freund sagt, die rasche Ver-wandlung der ĂŒberflĂŒssigen und hĂ€sslichen Blinden in ihr wahres und schönes und entsetzliches, uns alle ergreifendes Bild.â
Der Maler ist dafĂŒr verantwortlich, dass die Blinden immer wieder stĂŒrzen, fallen und sich wehtun mĂŒssen. Die quĂ€lende Szene wiederholt sich unaufhörlich, bis er am Ende eine perfekte Wiedergabe des Gesehenen erreicht zu haben glaubt.
Der Maler hat seinen Figuren das Reden, das Leben verboten; nur als sein GemĂ€lde und in der Art und Weise, wie er sie sehen will, dĂŒrfen sie existieren. Am Ende vergessen die Blinden ihre Fragen und wollen nur, dass die Qual des Augenblicks zu Ende geht. Als sie nicht mehr gebraucht werden, werden sie aufgefordert, den Ort zu verlassen.
Im "Blindensturz" findet sich das ergreifendste Beispiel der Blinden als verstoĂene AuĂenseiter. Mit seiner ErzĂ€hlung hat es Hofmann verstanden, vor allem diesem Konflikt und der Frustration der Blinden Ausdruck zu geben. Dass ihre Fragen nicht beantwortet und am Ende von den Betroffenen selbst verges-sen und nicht mehr gestellt werden, zeigt die schlimmsten Folgen eines gescheiterten Integrationsversuchs an.
Auszug aus der gleichnamigen Dissertation Pilar Baumeisters, erschienen bei Peter Lang in Frankfurt et. al. 1991 (= EuropÀische Hochschulschriften) 459 Seiten