Mein Vaterland ist tot
sie haben es begraben
im Feuer
Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort (5/98)
Das Gedicht kontrastiert das „Vaterland“ der ersten Strophe mit dem „Mutterland“ der zweiten Strophe, wobei das Vaterland nicht einfach vom „Mutterland“ abgelöst wird, sondern die Metapher „Mutterland“ nur mit Bezug auf das Vaterland verstanden werden kann.
Das Gedicht beginnt mit dem Tod, also der Zerstörung des realen Vaterlandes. Auf den Tod folgt die völlige Vernichtung der ‚Leiche’: „Sie haben es begraben / im Feuer“. Auffallend ist das Personalpronomen „Sie“. Nicht das lyrische Ich selbst begräbt das Vaterland, sondern eine fremde Personengruppe. Dieses nicht näher definierte „Sie“ und das Begräbnis im Feuer weist auf die Zerstörung der Heimat im Zusammenhang mit dem Holocaust hin.
Der untergegangenen Welt des Vaterlandes wird das alternative „Mutterland“ gegenübergestellt. Ist das Vaterland durch Tod und Zerstörung gekennzeichnet, beginnt die Strophe des Mutterlandes mit den Worten „Ich lebe“ und wird, im Gegensatz zum Vaterland, durch das Präsens der Gegenwart zugeordnet, sogar der Zukunft, wenn man das „Ich lebe“ als generelles Präsens interpretiert. Im Neologismus „Mutterland“ wird durch das Bezugswort Vaterland eben dieses evoziert und gleichzeitig die Muttersprache eingebunden. Die mit dem Vaterland verlorene Sprache – Rose Ausländer schrieb im amerikanischen Exil zunächst gar keine, dann lediglich englische Gedichte – wird damit erst im lyrischen Mutterland wieder gefunden. Nach dem Verlust des Vaterlandes wird so das in der Muttersprache erschaffene, durch das Vaterland konstituierte Mutterland zur neuen Heimat für das lyrische Ich. Das Gedicht wird abgeschlossen durch den Vers „Wort“.
Dadurch wird einerseits die reine Sprachlichkeit des Mutterlandes intensiviert, andererseits wird das Mutterland zum tatsächlichen Raum: Das Wort wird zum Ort. Das Wort steht dabei wie das Feuer im dritten Vers der Strophe und verbildlicht so die Beständigkeit des Mutterlandes: Während das Vaterland im Feuer unterging, bleibt das Mutterland im Wort bestehen. Das Mutterland wird damit zu einer Heimat, die nicht untergehen kann. Den tröstlichen Aspekt, den diese Heimat hat, bestätigen auch die letzten Verse des Gedichts „Tröstung II“ (5/248), das ein Jahr später veröffentlich wurde: „Denk daran / wir haben / ein Königreich geerbt / aus Worten / das überlebt“. Dieses Gedicht macht außerdem deutlich, dass das „Niemandsland“ in „Niemand“ als das „Mutterland Wort“ zu identifizieren ist.
Dabei besteht ein enger Bezug auf die „Schaffung von Welt und Wirklichkeit durch das Wort innerhalb der jüdischen Tradition“. [Hilzinger, Sonja: „Ich will wohnen im Menschenwort“. Zur Lyrik von Rose Ausländer. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 44 (1998), Amsterdam 1998, S. 325-338, S. 325] Im „Mutterland Wort“ vollzieht sich die eigenständige Schöpfung der Welt. Der Bezug auf die Mutter macht dieses außerdem zu einer weiblichen Schöpfung – im Gegensatz zur Erschaffung der Welt durch den männlichen Schöpfergott, der mit dem Vaterland untergegangen ist. Auf diese Weise repräsentiert das Mutterland die Heimat mit Hilfe des Wortes und wird damit zur eigentlichen, zur kreativen Heimat. Das Vaterland selbst besteht nur noch innerhalb dieser Neuschöpfung. Die kindliche Vorstellung, das „Niemandsland“ und die „Gefährten“ in der Tasche zu tragen, verdeutlicht genau dies: Durch die Gedichte, in denen das lyrische Ich im Exil in seiner Orientierungslosigkeit auf die Vergangenheit zurückgreift, wird diese zum einem imaginären Realisierung der Heimat.
In weiteren Gedichten wird der Rückgriff auf die durch die Mutter vermittelte Sprache und die damit verbundene Schöpfungskraft deutlicher. So heißt es in dem Gedicht „Mutterlicht“ (4/152): „Mai / mein Monat / da habe ich / meine Mutter geboren“. Mit Bezug auf den Mai, den Geburtsmonat Rose Ausländers, übernimmt hier das lyrische Ich die aktive Rolle des Gebärens und erschafft die Mutter, indem sie als Tochter aus der Frau eine Mutter macht. Die Mutter wird, wie durch die Geburt, dabei zugleich in der Poesie neu erschaffen. Die Tochter wird auf diese Weise selbst zur schöpferisch tätigen Mutter. Sie verschmilzt mit der Mutter zur Poetin, die die Welt erschaffen kann durch das poetische Wort.
Im Gedicht „Selbstporträt“ (5/203) wird die Metapher der Geburt noch radikalisiert: „Europa / in deinem Schoß / träume ich / meine nächste Geburt“. Zurückgekehrt nach Europa, den Kontinent, auf dem sie geboren wurde, ist Rose Ausländer, trotz der Rückkehr in den deutschen Sprachraum, noch immer Exilantin. Nicht die Sprachumgebung ist Heimat, sondern die selbst durch die Poesie in der Sprache erschaffene Welt. Relevant ist der Schoß Europas als Ort des Traums: Die Gestaltung der Heimat ist nur durch die Anwesenheit der Mutter möglich.
Lediglich im Dialog mit der in Europa stattgefundenen Vergangenheit, wie sie zuvor beschrieben wurde, kann das lyrische Ich schöpferisch tätig sein. Die mit dem „Schoß“ aufgezeigte weibliche, mütterliche Schöpfungskraft der Geburt wird durch den Akt des selbständigen Erträumens der eigenen Geburt auf das lyrische Ich übertragen. Noch deutlicher als in „Mutterlicht“ erschafft sich die Tochter im Schoß der Mutter, also im Einfluss dieser, und wird durch Poesie zur eigenen Mutter. Diese „nächste Geburt“ ist aber kein „Neugeborenwerden“, sondern verweist auf die erste, physische Geburt und steht in deren Nachfolge. Diese poetische Geburt geht dabei über die Gegenwart hinaus und verweist in die Zukunft. Obwohl aber die „nächste Geburt“ nur als Nachfolge der ersten Geburt begriffen werden kann, entwirft das lyrische Ich mit dem Traum die Vorstellung von einem Leben, das besser verläuft als das bisherige: die Utopie von einem besseren Leben; allerdings ohne dabei die alte Identität aufgeben zu wollen oder zu können.
Unterstrichen wird dies im Gedicht „Utopia“ (6/157), in dem es heißt: „Utopia / mein Land / […] / Hier / bin ich geboren“. Die Verknüpfung von „Utopia“ mit „mein Land“ in der ersten Strophe macht Utopia zu dem Land, das schon in anderen Gedichten vom lyrischen Ich mit „mein“ gekennzeichnet wurde: „mein Niemandsland“, „mein heimatloses Land“, „meinem Mutterland“. All diese Länder vereinigen sich in „mein Land“ Utopia, das durch das lyrische Ich selbst erschaffen wurde und sich im Gedicht manifestiert. „Utopia“ wird hier zum Geburtsort des lyrischen Ich und damit zu seinem Heimatland. Durch den Bezug zum Gedicht „Selbstporträt“ werden die „nächste Geburt“ und das imaginäre „Utopia“ in ein Korrespondenzverhältnis gestellt. Die „nächste Geburt“ ist nur möglich im imaginierten „Utopia“, während dieses „Utopia“ nur Heimat werden kann durch die eigene Geburt.
Im Gedicht „Luftschlösser“ (4/56) manifestiert sich „Utopia“ schließlich wortwörtlich in der Realität: „Ich / im Niemandsland / baue Luftschlösser / aus Papier“. Das lyrische Ich tritt hier selbstbewusst als Gestalter auf. Mit „im Niemandsland“ bezeichnet es den Ort, an dem es sich in der Gegenwart befindet und evoziert damit das „Mutterland“, „Utopia“. Die Irrealität dieses Landes wird allerdings deutlich, da das lyrische Ich „Luftschlösser“ baut, Fantasiegebilde ohne wirkliche Substanz. Allerdings repräsentieren sie den Herrschaftsanspruch des lyrischen Ichs, den es schon in „Niemand“ hatte. Während das „Niemandsland“ in „Niemand“ allerdings noch ein Rückzugspunkt des lyrischen Ichs ist, das sich allein aus der Vergangenheit zusammensetzt, wird das Niemandsland hier aktiv gestaltet. Dass die Luftschlösser aus Papier gebaut werden, verweist auf das Produzieren dieser Utopien durch Sprache bzw. Lyrik, die auf Papier niedergeschrieben wird. Die poetische Schöpfung findet also nicht durch das gesprochene Wort statt, sondern über Papier, das im Gedicht „Einsamkeit II“ (4/93) durch die Verse „wirst reden / mit geschlossenen Lippen / zu fremden Lippen“ als Medium zur Verbreitung der Lyrik Rose Ausländers präsentiert wird. Das Materielle des Papiers drückt dabei die Hoffnung auf eine Realisierung der „Luftschlösser“ aus: dass die geschaffenen Utopien nicht Utopien bleiben, sondern dass durch Sprache tatsächlich Realität erschaffen wird.
Dass die Thematisierung der Bukowina nicht allein idyllisierende Erinnerung ist, sondern die erinnerte Heimat als Orientierungspunkt wie in „Niemand“ und „Im Dschungel“ und damit durch ihre Fiktionalisierung zur Utopie wird, kommt besonders im Gedicht „Das Dorf Sonntag“ (2/316) zum Ausdruck, in dem die Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft in der Utopie deutlich wird:
Das Dorf Sonntag
Hinter der Montagmauer
liegt das Dorf Duminika
das ich in meiner Freizeit
gern besuche
Ich bringe meinen Lieblingsberg mit
den Raréu
und die Zigeunerin die mir einst
die Zukunft geschenkt hat
[…]
Das Dorf Duminika ist grĂĽn
der FluĂź ist grĂĽn
die Hirten schnitzen grĂĽne Doinas
in atmende Flöten
Bereits mit dem Titel wird als Thema des Gedichts ein Ort eingeführt, der durch den Namen „Sonntag“ als imaginärer identifiziert werden kann. Der Wochentag „Sonntag“ verweist aber auch auf einen zeitlichen Aspekt des Dorfes, der im Gedicht noch intensiviert wird.
Die Lage des Dorfes „Hinter der Montagmauer“ zeigt die für das sprechende lyrische Ich geltende Trennung vom Dorf. Durch den Neologismus „Montagmauer“, der die Mauer, wie das „Dorf Sonntag“ des Titels, als Ort mit einer zeitlichen Ebene verknüpft, wird das „Dorf Sonntag“ in die Vergangenheit verortet. Die „Montagmauer“ wird so zum Symbol für die vergangene Zeit, die zwischen dem Dorf und dem lyrischen Ich liegt. Das Dorf selbst ist damit auch kein real existierender Ort mehr, sondern ein in der Vergangenheit liegender, an eine bestimmte Zeit gebundener Ort. Die Umbenennung des Dorfes in „Dorf Duminika“ verweist auf das Dorf als Symbol für die Bukowina, da „Duminika“ rumänisch für „Sonntag“ ist und die Bukowina nach dem Ersten Weltkrieg Rumänien zugeteilt wurde. Die Umbenennung des Dorfes in Zusammenhang mit der „Montagmauer“ macht deutlich, dass das Dorf durch historische Veränderungen unwiederbringlich in der Vergangenheit liegt. Dass das Dorf im Titel allerdings den deutschen Namen trägt, nämlich Sonntag und nicht Duminika, bezeugt die Relevanz des deutschen Aspekts für das lyrische Ich.