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Simon Peters: „Ein Königreich aus Worten“

Rose Ausländers poetische Sprachutopie
Die dritte Strophe evoziert mit „Violette Föhrenzapfen“ einen Wald und damit wiederum das Grün der Utopie und der Hoffnung. Der zweite Vers „Luftflügel Vögel und Laub“ verweist auf die Freiheit, die durch die Flügel erreichbar ist. Die Vögel sind aber auch hier schon ein Verweis auf die Poesie. „Der Vogel, in der Lyrik Rose Ausländers häufig Metapher für den Dichter, […] besitzt […] die individuellen Fähigkeiten des Singens und Fliegens. Beim Dichter-Vogel handelt es sich um ein Wesen, das die Sprache persönlich gestaltet.“ [Köhl, Gabriele: Rose Ausländers lyrische Landschaften. Darstellung der Heimatlosigkeit und Versuch ihrer Bewältigung. In: Zimmer-Winkel, Rainer (Hrsg.): Worte stark wie der Atem der Erde : Beiträge zu Leben und Werk der jüdischen Dichterin Rose Ausländer (1901 - 1988), Trier 1994, S. 84-103, S. 53] Die Implementierung der Kulturlandschaft in die Beschreibung der Naturlandschaft lässt auch hier beide miteinander verschmelzen. Zugleich wird mit den Flügeln, die hier sowohl explizit als auch durch die Vögel auftreten, an die Schmetterlinge der ersten Strophe angeknüpft, so dass sich das schöpferische Wort des Vogel-Dichters auf die in der Heimat vermittelte Muttersprache bezieht.

Besonders auffällig in den ersten drei Strophen ist die hier vermittelte Vielfarbigkeit durch grün, rot, weiß und violett. Zum einen wirkt die große Farbigkeit positiv, zum anderen verweist sie auf eine die Gegensätze überbrückende und vereinende Harmonie der Bukowina.
In der vierten Strophe tritt zur mütterlichen Landschaft der Vater hinzu: „Der Karpatenrücken väterlich / lädt dich ein / dich zu tragen“. Durch den väterlichen „Karpatenrücken“ werden die mütterlichen Qualitäten der Natur ergänzt und fügen sich zu einem harmonischen Ganzen. Die „Mutter Bukowina“ und der väterliche Karpatenrücken als Teil der Landschaft deuten auf die „Grunderfahrung des Urvertrauens“ durch die Eltern, die auf die Landschaft übertragen wird. [Kristensson, Jutta: Identitätssuche in Rose Ausländers Spätlyrik. Rezeptionsvarianten zur Post-Schoah-Lyrik, Frankfurt a. M. 2000, S. 134]

Die fünfte Strophe thematisiert mit „Vier Sprachen / Viersprachenlieder“ die Vielsprachigkeit – Deutsch, Jiddisch, Rumänisch und Ukrainisch – der Bukowina und knüpft an die Vielfarbigkeit der vorangegangenen Strophen an. Wiederum wird also der Naturraum, der durch das Visuelle, die Farben, symbolisiert wird, mit dem Kulturraum, symbolisiert durch die Sprachen, zu einer Einheit verwoben. Die vier Sprachen werden im zweiten Vers der Strophe zum Neologismus „Viersprachenlieder“ verdichtet. Die Lieder fungieren wiederum als Utopiewort, was hier im Zusammenhang mit der als Mutter personifizierten Bukowina noch deutlicher auf die durch die Mutter ermöglichte Sprachschöpfung durch das Wort hindeutet.

Die letzte Strophe intensiviert die „Viersprachenlieder“ der vorherigen: „Menschen / die sich verstehn“. Die Menschen in Anknüpfung an die „Viersprachenlieder“, durch das folgende Enjambement besonders hervorgehoben, verwirklichen das zwischenmenschliche Verständnis, das durch die Verbindung der vier Sprachen in den „Viersprachenlieder[n]“ evoziert wird.
Damit wird die verlorene Heimat in diesem Gedicht sowohl als Welt umfassender Geborgenheit als auch genereller zwischenmenschlicher Harmonie erinnert und nimmt die utopischen Züge an, die Rose Ausländers „Mutterland“ auszeichnen.

Die in diesem Aufsatz vorgenommene Kontextualisierung der Bukowina-Gedichte macht somit deutlich, dass diese Gedichte nicht allein Erinnerungsgedichte sind, sondern auf der Basis von Erinnerung eben diese absichtsvoll zu einer Zukunftsutopie in der Lyrik gestalten. Die Beschreibung der paradiesisch anmutenden Landschaften ist nur möglich eingedenk ihrer Zerstörung und dem daraus resultierenden Exil. Vor diesem Hintergrund ist die Idyllisierung der verlorenen Heimat wesentlich für die Einschreibung der Vergangenheit in das „Mutterland Wort“. Dieses kann nur bestehen mit Bezug auf die Vergangenheit, durch die Konstruktion aus Teilen der verlorenen Heimat. Es ist keine Flucht in die Vergangenheit, sondern eine Neuschöpfung, eine tatsächlich neue Heimat in der poetischen Sprache. Dieses Land des Rückzugs allein, nicht die Rückkehr in die Muttersprache, kann das Gefühl von Heimat vermitteln. Es ist die selbst geschaffene, im Wort verwirklichte Utopie, in der Vergangenheit und Zukunft miteinander verschmelzen.
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