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Walter Gödden: Prophet und Prinzessin

Sie waren eines der eigentümlichsten Paare der Literaturgeschichte – und doch nie ein richtiges Paar. Peter Hille und Else Lasker-Schüler trennten Welten – und verband ein ganzer Kosmos
Im Cafehaus
Wie oft laufen sich Else Lasker-Schüler und Peter Hille nach der ersten Begegnung über den Weg? Die überlieferte Korrespondenz setzt erst Jahre nach der Bekanntschaft ein. Warum schreiben, wenn man sich häufig sieht? Und das scheint der Fall gewesen zu sein. Hille wird als fortwährender „Flügeladjutant“ Else Lasker-Schülers beschrieben.

Vielleicht sah man sich täglich. Bei weiteren Abendgesellschaften, im Theater, in Kneipen und Cafes, vor allem dem am Nollendorfplatz, dem Treffpunkt der Berliner Künstlerszene und Bohemiens. Hier trafen sich die „Kommenden“. Und mitten unter ihnen Peter Hille, „mit seinen blauen Hundeaugen blickte er gutmütig und arglos in diese sonderbare Kinderschar, immer in seinen grauen Wettermantel gehüllt, der einen ganz zerfransten Anzug und sehr schmutzige Wäsche verdeckte; gerne ließ er sich jedesmal von unserem Drängen verleiten, aus einer seiner Rocktaschen ganz zerknüllte Manuskripte hervorzuholen und seine Gedichte vorzulesen. Es waren Gedichte ungleicher Art, eigentlich Improvisationen eines lyrischen Genius, nur zu locker, zu zufällig geformt. Er schrieb sie in der Straßenbahn oder im Cafe mit Bleistift hin, vergaß sie dann und hatte Mühe, beim Vorlesen in dem verwischten und verfleckten Zettel die Worte wiederzufinden. Geld hatte er niemals, aber er kümmerte sich auch nicht um Geld, schlief bald bei diesem, bald bei jenem zu Gast, und seine Weltvergessenheit, seine absolute Ehrgeizlosigkeit hatten etwas ergreifend Echtes. Man verstand eigentlich nicht, wann und wie dieser gute Waldmensch in die große Stadt Berlin geraten war und was er hier wollte. Aber er wollte gar nichts, nicht berühmt, nicht gefeiert sein, und war doch sorgloser und freier dank seiner dichterischen Traumhaftigkeit, als ich es je später bei einem anderen Menschen gesehen.“

Nicht alle fanden, wie hier Stefan Zweig, so freundliche Worte für den Zerzausten, Unbehausten. Und brachten soviel Verständnis für ihn und für seine seltsame Begleiterin auf, die mit ihrem exzentrischen und exaltierten Auftreten gleich alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Bettler mit einer orientalischen Prinzessin an seiner Seite. Ein führwahr sonderbares Gespann. Gerhard Hauptmann verspottet es in seinem Roman „Der Narr in Christo Emanuel Quint“:

 

„Und da saß neben einem nicht sehr großen, einem russischen Bauern ähnelnden Menschen, ein junges Weib, das immer wieder schmachtend und abhängig nach den kleinen, unter Bart, Haupt- und Wimpernhaar fast verborgenen, blöde zwinkernden Schweinsäuglein ihres Nachbars hinblickte. Dieser Nachbar, der ein fast immer subsistenz- und obdachloser Dichter war, zog zuweilen ein Blättchen heraus, auf das er mit Bleistift Notizen machte. Sein Name war Peter Hullenkamp und der seiner Freundin Annette von Rhyn. Peter Hullenkamp, mit Bettfedern im verwahrlosten Haar und dem langen, kaftanartigen Paletot, den er deshalb nicht auszog, weil er ihn direkt auf dem Hemde trug, war eigentlich eine Apostelgestalt. Kurt Simon erschien er wie ein Waldbruder, dem jungen Dominik wie ein kynischer Philosoph des Altertums. In Wirklichkeit war er ein zeitfremder Mensch, hinter dessen steiler, gewaltiger Stirn sich eine ferne Zukunft und eine ferne Vergangenheit in ein ewig gärendes Märchen zusammenbildeten. Auch Annette von Rhyn, die überall neben ihm herlief, wie Antigone neben dem blinden Ödipus, war vollkommen durch ihn und er durch sie in dieses brodelnde Märchen eingeschlossen. Sie nannte ihn abwechselnd einen König von Taprobane, einen Kaiser der sieben schwimmenden Silberinseln, einen Aufseher der hängenden Gärten der Semiramis. Vier Wochen lang nannte sie ihn den Herzog von Ophir, die nächsten vier Wochen lang war er ihr Harun al Raschid, der Kalif, und sie lebte mit ihm, indem sie ihm seine Flöhe absuchte, an den mit Früchten, Gewürzen und Ge-tränken überlasteten Tischen in den Palästen und bedient von den vielen hundert Sklaven ihrer Einbildung.“


Styx

Plötzlich begegnet uns Else Lasker-Schüler nicht mehr als Malerin, sondern als Dichterin. Hat Hille hieran Anteil? Vieles spricht dafür. Er bleibt jahrelang ihr einziger Mentor. Sie ist von Hille fasziniert. Von seinem Bücherwissen, das alle Nationen und Kulturen umspannt. Von seiner Toleranz gegenüber den Religionen, gegenüber dem Judentum. Seiner Geistes- und Gemütstiefe.
Und ist fasziniert von der Radikalität, mit der er sein Künstlertum definiert. Nahezu anarchistisch auslebt. Hille wird ihr Vorbild.

Auch Else Lasker-Schüler beginnt, ihr eigenes Künstlertum immer radikaler auszuleben. Ein Verlust an äußeren Maßstäben. Und ein unendlicher Zugewinn an Selbstgewissheit über die eigene literarische Mission.

1899 geht alles Schlag auf Schlag. Else Lasker-Schüler zieht aus der ehelichen Wohnung aus. Im August wird ihr Sohn Paul geboren, der ihr einziges Kind bleiben wird. Bertold Lasker ist nicht der Vater. Dessen Namen wird seine Mutter nie preisgeben. Die Spekulation, es sei Peter Hille, ist unwahrscheinlich, wird jedoch bis heute nicht ganz ausgeschlossen.

Es erscheinen – vielleicht durch Vermittlung Hilles – erstmals Gedichte von ihr im Druck. Else Lasker-Schülers Talent ist umstritten. Ihre ersten Lesungen enden teilweise mit einem Eklat.

Die Autorin stört es nicht. Hille und sie gehen ihren eigenen Weg. Mit Freunden, darunter Herwarth Walden, Lasker-Schülers zweiter Ehemann, gründen sie die Künstlervereinigung „Teloplasma-Cabaret für Höhenkunst“. Zwei Abendveranstaltungen enden in Chaos und Gelächter.

Ist Hille eifersüchtig auf Walden? Nein, keine Spur. Die Beziehung zwischen Hille und Else Lasker-Schüler ist nicht im Erotischen angesiedelt. Ist sie überhaupt zu beschreiben? Allenfalls schickt Hille der Freundin einen „Kurfürstenstraßen-Handkuß“ (mit dreifachem Ausrufezeichen) ins Haus. „Immer Dein Peter Hille“.
Im „Peter- Hille-Buch“ heißt es: „Warum kommst Du nicht näher? fragte Petrus mich. Aber ich wartete auf etwas nie Geschehenes. Ein rotwangiger Sturm sprang über den Weg und weckte die schlafende Wurzelgreisin und ihre zwei haarigen, knorpeligen Äste legten sich über braunleuchtende Locken. „Frühling, Frühling, der Frühling der ist da!“ Mädchen wie schimmernde rote und blaue Libellen kamen und helläugige Kinder mit silbernen Glockenspielen, junge mutwillige Lämmer, so sprangen sie und feierten Frühlingsgeburtstag. Blau wehten die Himmelsfahnen.“ Er kam ihr nicht zu nahe. Während sie sich immer mehr in rauschhafte Fantasiefarben verlor.

Mitte Dezember 1901 erscheint Else Lasker-Schülers erstes Buch, der Gedichtband „Styx“. Das Vorwort stammt von Hille. Es ist nahezu hellsichtig. Die Autorin übernimmt es in weitere Auflagen. „Styx“ hat eine erstaunliche Presse. Unter dem Strich überwiegt die Ablehnung.

Im selben Jahr will Hille Else Lasker-Schüler einen Roman „Sappho“ widmen, der allerdings Fragment bleibt. Man schreibt sich häufig. Etwa dreißig Billets sind erhalten. In einer Zeitschrift veröffentlicht Else Lasker-Schüler erstmals Prosaskizzen über Hille, ihren „Meister von Palmyra“. Ein Wettbewerb der Namenserfindungen entbrennt. Er steht im Zusammenhang mit der Suggestion fremder, mystischer Märchenwelten. Ein Sog, der Else Lasker-Schüler immer mehr erfasst und den sie im Peter-Hille-Buch ins Phantastisch-Parabelhafte steigert.

Als die ersten negativen Reaktionan auf „Styx“ in der Presse erscheinen, nimmt Hille Else Lasker-Schüler in Schutz, spendet Trost und Zuversicht: „Laß Dich durch die Presse nicht kopfscheu machen, ich halte nachdrücklich zu Dir.“ Im selben Jahr beteiligt er Else Lasker-Schüler an seinem kurz zuvor gegründeten Kabarett „Zum Peter Hille“. Sie wird seine Partnerin und übernimmt sogar für kurze Zeit die Leitung der Abende.

Und dann: „Es war im Spätfrühmonat 1903, als mich die Furcht vom Erdältesten vertrieb. Die Jünglinge finden mich an der Hecke.“ (Peter-Hille-Buch). Unstimmigkeiten, auch in den Briefen. Die Schülerin ist keine Schülerin mehr. Sie ist ihrem Mentor ebenbürtig. Hat ihren Ton gefunden.

Ihr „Peter-Hille-Buch“, das 1906, zwei Jahre nach Hilles Tod erscheint, ist Dokument dieser persönlichen und künstlerischen Emanzipation. Braucht sie Peter Hille noch? „St. Petrus“ hatte ihr den Weg aus einem Gefängnis gewiesen. Doch nun ist alles anders. Das Spiel ist eröffnet. Traumfiguren erwachen zum Leben, das Tor zu einer schillernden Märchenwelt ist aufgestoßen. Eine Welt unendlicher Möglichkeiten, wie sie nur dem Dichter offen steht. Das „Peter-Hille-Buch“ sucht in seiner traumversponnenen, hochpoetischen Sprache in der deutschen Literatur seinesgleichen.

„Ich schrieb über Peter Hille, der ein Prophet war“, sagt sie später. Das Peter-Hille-Buch blieb lebenslang ihre Bibel. Sie müssen es lieben, „schon der befreiten Bergluft und der vielen Rauschewälder darin“, schreibt sie Richard Dehmel. Ein anderes Mal nennt sie es ein Buch, „nur für Prinzen und Prinzessinnen geschrieben“.

Sie hielt Hille die Treue. Die Dichter-Ehe hatte Bestand. In einer Rundfunksendung im Jahre 1929 äußert sie: „Niemals zweifelte ich an der Prophetie Peter Hilles. Er wandelte über unserer Erde wie Nebel, durch den, wenn er sich lichtete, man die Gestirne am Tage leuchten sah. Er war ja selbst ein Gestirn, Meteor stieß er von sich! Zur heimatlichen Tragik paßt es noch immer, den Propheten im Vaterlande nicht gebührend zu würdigen.“
Nach und nach veröffentlichte Else Lasker-Schüler Zeugnisse aus ihrer Korrespondenz mit Hille. 1921 gab sie sie als Buch heraus.

Zur Nachgeschichte gehört auch, dass Else Lasker-Schüler 1929 an der Enthüllung einer Gedenktafel für Hille in Erwitzen teilnahm. Sie berichtet hierüber: „Der Herr Ortsvorsteher im Brautanzug, Zylinder, mit neuen Schuhen und schwarzen Handschuhen, der nach der Übergabe und Enthüllung der Tafel eine kurze Rede halten sollte und nach drei Sätzen in die peinlichste Verzweiflung geriet, wie er den angefangenen vierten vollenden solle. Krampfhaft suchten die Finger in den ungewohnten Glanzledernen das Manuskript zu entfalten; es betrug sich wie ein eigensinniger Fallschirm: so brach der Redner jäh ab. Ein Tusch der Musikkapelle kam ihm dabei zu Hilfe.“

So landen wir zu guter Letzt doch noch in der tiefsten Provinz. Da, wo alles seinen Ausgang nahm. Peter Hilles Leben, Else Lasker-Schülers Leben. Abendhimmel, Sterne, ein Meteor, ein eigensinniger Fallschirm… Und bei Peter Hilles Aphorismus: „Erde bewohnen um Sterne zu verstehen.“



Peter Hille und Else Lasker-Schüler waren Gegenstand einer Tagung, die die Literaturkommission für Westfalen am 8./9. April 2005 im Westfälischen Literaturmuseum Haus Nottbeck durchführte. Die Dokumentation der Veranstaltung erscheint im Februar 2006 im Bielefelder Aisthesis-Verlag.

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