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Wolfgang Delseit: „Ein kurzes Künstlerleben“

Ernst Isselmann 1885-1916
Rasch gewann Isselmann Kontakte zu den Kölner Modernen und dem „Sonderbund Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler“, dem der Leiter des Wallraf-Richartz-Museum, Rudolf Hagelstange (1874-1914), vorstand, und auf deren Ausstellung in Köln er 1912 mit verschiedenen Werken vertreten war. Isselmann galt in der zeitgenössischen Kritik als ein interessierter, informierter und reger Künstler. Mit dem Kölner Maler Franz M. Jansen (1885-1958) verband ihn eine enge freundschaftliche und kollegiale Beziehung. Als Jansen nach Auseinandersetzungen mit dem „Kölner Künstlerbund“ zusammen mit August Deusser (1870-1942) u.a. im Frühjahr 1910 die „Cölner Secession“ gründete, trat Isselmann ihr bei und war auch mit Arbeiten auf den beiden Ausstellungen 1912 und 1913 vertreten. Jansen und Isselmann wurden Ateliernachbarn im Brückenturm der Homberger Brücke in Ruhrort-Homberg. Dort arbeiteten sie gemeinsam von Mai bis September 1913 an einer graphischen Mappe für die „Werkleute auf Haus Nyland“, die zu einer Reihe von Arbeiten führte, die die Industrie- und Arbeitswelt thematisierten.

Die „Werkleute auf Haus Nyland“ wurden Ostern 1912 von den Schriftstellern Josef Winckler (1881-1966) und Wilhelm Vershofen (1878-1960), unter Mitarbeit von Jakob Kneip (1881-1958) im Köln gegründet. Ihren Namen leiteten sie von dem Geburtshaus der Mutter von Winckler, von „Haus Nieland“ in Hopsten (bei Rheine) ab. Dieser Bund war eine lockere Verbindung von Schriftstellern und Malern, die sich künstlerisch mit der Industrie- und Arbeitswelt auseinandersetzten und häufig auf Haus Nieland zusammentrafen. Auch literarisch interessierte Bürger, die sich mit der Programmatik identifizierten, schlossen sich der Vereinigung an.

Bereits im Jahrzehnt vor dem I. Weltkrieg entwickelten sich Ansätze einer Literatur über Industrie und Technik, die im Aufstieg des Deutschen Werkbundes und der Konstituierung der Werkleute, die sich den Zielen des Werkbundes verpflichtet fühlten , ihre Ausformung fanden. Schriftsteller wie Gerrit Engelke (1890-1918), Carl Maria Weber (1890-1953), Karl Bröger (1896-1944), Heinrich Lersch (1889-1936), Max Barthel (1893-1975) oder Otto Wohlgemuth (1884-1965) und Maler wie Carlo Mense (1885-1967) oder Franz M. Jansen (1885-1958) gehörten neben Winckler, Vershofen und Kneip dem Bund an bzw. waren ihm freundschaftlich verbunden. Förder- und Ehrenmitgliedern waren der Vorsitzende der Berliner Handelsbank und spätere Reichsaußenminister Walter Rathenau (1867-1922) und der Lyriker Richard Dehmel (1863-1920). Der Schriftsteller Alfred Walter von Heymel (1878-1914) und der Verleger Anton Kippenberg (1874-1950) zählten neben Dehmel zum ehrenamtlich wirkenden künstlerischen Beirat.

Der Zweck der „Werkleute“ war „Leistungen auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt des inneren Wertes zu fördern“, wie es in der Programmatik heißt. Man wollte am „Werk deutscher Kultur und Freiheit“ mitarbeiten und forderte eine „Synthese von Industrie und Kunst“:


"Ein vorurteilsfreier Standpunkt soll uns fernhalten von der bloßen Theorie und dem geisttötenden Schlagwort, von einem weltfremden Ästhetentum und unfruchtbarer L\'art pour l\'art-Anmaßung [...]
Nicht beklagenswert dünkt uns das Dasein; wir sehen in ihm kein endlos zweckloses Geschehen. Wir wissen, daß alles Seiende ein ewiges Fließen und Werden ist. Daß der Mensch in diesem Fluß des Werdens nicht willenlos kreisendes Treibholz ist, daß er vielmehr die Kraft ist, die in den Fluß der Zeiten die Staudämme des forschenden und schaffenden Geistes baut und diesen Strom hineinleitet in die Sammelbecken und Kraftspender der Kultur.
Darum erfüllt uns der harte Kampf unserer Tage um Brot und Licht nicht mit zagender Furcht, er erfüllt mit der Zukunftshoffnung des Sieges der kulturellen Interessen. Nicht sentimentales Bedauern erweckt in uns der Rauch der Schlote und Hochöfen, die menschenverschlingende Großstadt und das landüberzitternde Gestampf der Maschinen. Wir grüßen die tausend Kräfte, die an der Arbeit sind, um unsere Zeit von sich selbst zu erlösen. Wir finden uns kämpfend ab mit den düsteren Schatten unserer Tage, Schatten, an denen zuerst das Licht sich offenbaren wird. Schatten, ohne die das Bessere nicht werden kann und die eine folgende Zeit wird überwunden haben in Kultur und Freiheit: Kultur erwächst uns nur aus einem kampf- und arbeitsreichen Streben zur Schlichtheit, Echtheit und Wahrheit. Freiheit dem Einzelmenschen und seiner Mission in einer Zeit der Trusts und Sozialisierung, der Prämierung der flachen und gespreizten Mittelmäßigkeit! [...] Eichenblätter und Rosenkränze wollen wir in das fliegende Rad der Maschine flechten und um die Bronzestirn der nimmermüden Arbeit."


So diffus diese Programmatik auf uns Heutige wirkt, so sehr war sie Ausdruck des Zeitgeistes jener Jahre. Die Ästhetisierung der Technik innerhalb der Kunst fand ihren Ausgangspunkt bei den italienischen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944) und innerhalb der futuristischen Malerei. Die Futuristen propagierten die Hinwendung zum realen Leben als Hauptaufgabe der Kunst: „Da das Leben als Bewegung, als Dynamik, als allgegenwärtige Geschwindigkeit, die die Katagorien Raum und Zeit aufhebt, verstanden wurde, sollte die Kunst eben diese Geschwindigkeit veranschaulichen.“ Die Abwendung von der L\'art pour l\'art-Kunst, als Zeichen retardierender Traditionen, kennzeichnet beispielsweise sowohl die Werke der Futuristen und fühen Expressionisten, als auch diejenigen der „Werkleute auf Haus Nyland“ und des „Deutschen Werkbundes“.

Im Frühsommer 1913 vereinbarte Winckler mit Isselmann die Gestaltung einer Graphikmappe mit Industriezeichnungen, die als Sonderveröffentlichung der „Werkleute“ im Quadriga-Verlag, Jena, erscheinen sollte. Er stellte neben dem Honorar einen kostenfreien Aufenthalt in Moers und Folgeaufträge in Aussicht. Zuerst sollte Isselmann ein Ölportrait von Wincklers Mutter anfertigen, daß dieser ihr nachträglich zum 65. Geburtstag schenken wollte und heute im Winckler-Nachlaß in Rheine erhalten ist. Als man sich hinsichtlich der Konzeption und Umfang der Mappe geeinigt hatte, schlug Isselmann vor, einen weiteren Maler bei der Arbeit hinzuzuziehen. Winckler war hiermit einverstanden, zumal er den zweiten Maler bald kennenlernte. An Dehmel, seinen maßgeblichen Förderer in diesen Jahren, schrieb Winckler am 12. Juli 1913:


"ich [habe] einen jungen Maler hier einquartiert, ließ m. Mutter malen, verschaffe ihm sonstige Porträts u. in der Zwischenzeit rückten wir der Industrie zu Leib. Was da nun herauskam ist - des Lohnes übergenug!!! Ich habe noch einen herbeigelockt [i.e. Franz M. Jansen], Resultat: große Kunstmappe mit Lithographien und Radierungen, den Rest der Eisernen Sonette hinein, Dr. Lüthgen schreibt Vorrede und wir werfens in die Welt."

Isselmann und Jansen richteten von Mai bis September 1913 in einem der Brückentürme der Ruhrort-Homberger-Rheinbrücke ihr Atelier ein, wo Jansen in dieser Zeit auch wohnte, und begannen mit der Anfertigung erster Zeichnungen und Entwürfe, während Winckler die Gedichte auswählte, die der Mappe beigegeben werden sollten. Im Heft V der Quadriga (Sommer 1913, S. 277) kündigte Winckler die Publikation an:


"In Vorbereitung befindet sich unsre erste Sonderveröffentlichung:
„Industrie“, eine Kunstmappe von 10 Originalblättern und zwar Radierungen und Lithographien. Gedichte vom Dichter der Eisernen Sonette. Subskriptionen werden schon jetzt vom Verlag entgegengenommen zum Preise von 20 Mark. Nach Erscheinen kostet die Mappe 25 Mark; Vorzugsausgabe mit je einer Original-Handzeichnung und von den Künstlern signierten Blättern 75 Mark."


In gemeinsamer Arbeit fertigten Isselmann und Jansen das Titelblatt der Mappe: Die Zeichnung stammt von Isselmann, während Jansen das leicht bräunliche Papier auswählte und die graphische Gestaltung der Schriftzüge übernahm. Beide arbeiteten dann an jeweils fünf Radierungen und Lithographien, wobei allerdings eine Vielzahl weiterer Bilder zur Auswahl entstanden. Jansen hatte bereits seit 1910 Erfahrungen mit der Radierkunst gemacht und bevorzugte gerade im Bereich der Darstellung industrieller Themen diese Technik.

Für Isselmann „war die Beschäftigung zunächst eine Auseinandersetzung mit der Materie. Er mußte sein körperliches Sehen zu Papier bringen, um zum Wesen, der inneren Verarbeitung, vorzudringen.“ In der Arbeit Brücke in Duisburg (1913) ist das Thema auch malerisch umgesetzt. Die Hafensituation wird mit einer andeutenden Pinselhandschrift geschildert und die Komposition auf einen grün-blau-weißen Farbkanon reduziert, durch den die nebligen Industrieabgase sich mit den Wolken und der Vordergrundszone zu einer Bildeinheit verbinden. Isselmann zog es in Industrie- und Werkshallen, wo er den Arbeitsprozeß beobachtete und zu Papier brachte - Verladekräne, Eisenbahnbrücken, Lagerschuppen oder Verladerampen scheinen eine besondere Faszination auf ihn ausgeübt zu haben.

Zum eigentlichen Entstehungsprozeß ist recht wenig bekannt. Isselmann und Jansen nutzten die Zeit, in der sie nicht arbeiteten, um Malausflüge in die nähere Umgebung zu machen (Moers - wo Isselmann im Haus Wincklers lebte - lag nur wenige Kilometer vom Atelier entfernt). Gemeinsam unternahmen sie Bootsfahrten auf dem Rhein, die sie u.a. bis nach Rees führten. Winckler besuchte die Künstler häufig im Turmatelier, um sich vom Stand der Arbeit zu informieren. In der letzten Augustwoche konnten die Künstler ihre Arbeiten abschließen, und Isselmann teilte Winckler mit:


"Ich schicke soeben die Lithographien alle an Lüthgen, der wieder in Cöln ist, Teuteburgerstr. 29. Er fragt darum und will wie es scheint jetzt doch wieder die Vorrede schreiben. Ich habe ihm gesagt wir hielten die Sache für gut und stark genug auch ohne weiteres ihre Wirkung zu tun. Aber er kann ruhig wenn er will mitarbeiten.
Ich habe L[üthgen] den Auftrag gegeben die Blätter sämtlich an Sie schnellstens nachdem er sie angesehen weiterzuleiten. Sie werden also ungefähr am Dienstag in Ihren Händen sein. Das für Quadriga [Heft VI (Herbst 1913)] bestimmte liegt auch dabei. Die für die Mappe bestimmten sind oben in der Ecke bezeichnet. Die übrigen verkaufe ich einzeln für je 20 M. Können Sie mir ein paar Serien verkaufen damit ich wenigstens die Druckkosten herausbekomme, ich schenke sie Ihnen dann. Die Mappe wird schon werden. Wenn man sie nur erst einmal in der Hand hätte."

Obwohl der Verlag Bernhard Vopelius in Jena (auch Quadriga-Verlag) die Mappe vertrieb, wurde die Herstellung der Lithographien durch die Pan-Presse, Berlin, und der Radierungen durch die Wetteroth-Druckerei, München, vorgenommen. Nur der Umschlag, das Innentitelblatt und die Gedichte wurden von Vopelius gedruckt. Isselmann und Jansen bestanden darauf, ihre graphischen Arbeiten von ihnen bekannten Druckereien herstellen zu lassen.
Die Mappe wurde schließlich auf einer Festveranstaltung der Monisten am 8. September 1913 im Düsseldorfer Schauspielhaus anläßlich der Uraufführung von Herbert Eulenbergs (1876-1949) Ikarus und Daedalus. Ein Oratorium der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. Die Auflage von 70 Exemplaren - zuzüglich der 30 Vorzugsmappen - war innerhalb weniger Monate vergriffen und der Erfolg größer als erwartet: „Hamburger Fremdenblatt, Rh[einisch] Westf[älische Zeitung] pp brachten bereits enthusiastische Besprechungen“, teilte Winckler dem organisatorischen Leiter der „Werkleute“ Theo Rody (1879-1954) am 30. Oktober 1913 mit. Der Rezensent des Hamburger Fremdenblatts betonte:


"Die weltbewegende Gewalt unsrer Großindustrie erscheint hier zum ersten Male mit dem Ausdruck rastlos stürmischen Temperaments und jenes düster glühenden Pathos geschildert, wie sie nur diese beherrschende Macht unsres Jahrhunderts erfüllt. Hingerissen von der Urkraft der Erscheinungen erlebt der Künstler innerlich ihre brausende Macht. Der Engländer Brangwyn und der Amerikaner Pennell haben wohl zuerst in Einzelbildern das moderne Leben der Industrie gezeigt. Jetzt aber kommen junge deutsche Künstler und Dichter aus dem Gebiet des Niederrheins und lösen aus der Fülle heraus das Ganze in all seiner Vielseitigkeit."


Selbst Wilhelm Vershofen, innerhalb der „Werkleute“ schärfster Kritiker des Projektes, konzedierte in einem Brief an Winckler vom 11. November 1913, nachdem er die Mappe erhalten hatte:


"Ich habe mich über dieses Werk gefreut wie ein Kind, über die Typographie, über die Gedichte, über die Radierungen und vor allen Dingen über Isselmanns Lithographien die mir (einem Kenner der Impressionen jener Gegend) am meisten zu sagen wussten. Darunter sind Zeichnungen, die mir zeitlebens das Liebste bleiben werden, was ich an graphischer Kunst kenne. Auch unter den Radierungen sind Blätter, die immer wieder hervorgeholt werden wollen. Und einem auf moderne Technik als Modesache Eingeschworenen werden sie vielleicht noch besser scheinen wie Isselmanns Lithographien, die natürlich durchaus nicht weniger modern sind. Ich kann mir den Luxus gestatten, unbekümmert um Mode meine Meinung zu bilden und da gebe ich Isselmann den Preis. Der Mann hat Kraft und Schmiss und Auge und Phantasie, ist grosszügig bis in die Fingerspitzen und offenbar von Theorien nicht angekränkelt, gesund und rund: eine Persönlichkeit. [...] Nur Isselmann ist ein Werkmann in unserem Sinne."


Winckler und Isselmann planten anschließend eine weitere Mappe, die unter dem Titel Industrie II erscheinen sollte. Isselmann wollte die Mappe allerdings allein gestalten, und auch die Beigabe lyrischer Werke war nicht beabsichtigt. Bedingt durch Finanzierungsschwierigkeiten war es Winckler allerdings nicht möglich, die Mappe drucken zu lassen, weshalb Isselmann die fertigen Arbeiten 1913 im Selbstverlag erscheinen ließ. Die Zusammenarbeit mit den „Werkleuten“ eröffnete Isselmann weitere Ausstellungsmöglichkeiten: Nachdem sich im August 1913 einige bildende Künstler als „Werkleute auf Haus Nyland. Gruppe: Die Maler“ zusammengeschlossen hatten, sollen sich die „Werkleute“ mit ihren Publikationen im Winter 1913/14 auf zwei Ausstellungen in Berlin und Jena präsentiert haben. Daneben beauftragte Winckler Isselmann mit der Erstellung einer Lithographie, die als Mitgliedergabe dem Richard-Dehmel-Heft der Quadriga beigelegt wurde.

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