Lesesaal > Essays > Beitrag
Weitere Beiträge
  • Max von der Grün: Als das Revier noch rührt

    Ein Porträt von Wolfgang Delseit
    [12.12.2017]
  • Carmina Buerana. Ein Nachruf auf Michael Klaus

    von Gerd Herholz
    [12.12.2017]
  • Eberhard Illner: „König Dampf“. Frühindustrialisierung und Literatur im Rheinland

    Vortrag, gehalten im Heine-Institut am 9.12.2008
    [12.12.2017]
  • Simon Peters: „Ein Königreich aus Worten“

    Rose Ausländers poetische Sprachutopie
    [25.11.2017]
  • Tafelausstellung geht auf Wanderschaft
    [24.11.2017]
  • Matthias Bickenbach: Thomas Kling zu ehren

    Dichterfeier am Totensonntag
    [21.11.2017]
  • Pilar Baumeister: Pilar Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert, Auszug II

    Offener Konflikt zweier Gruppen: Gert Hofmanns
    [21.11.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

zurück zurück | Seite 2 von 3 | weiterweiter

Wolfgang Delseit: »Eine Stadt mit tausend Gesichtern«

Paul Schallück und Köln
Die »Germania Judaica« wurde am 17. Juni 1958 vom ehemaligen Kölner Oberbürgermeister Theo Burauen, dem Literaturkritiker Wilhelm Unger, dem Verleger Ernst Brücher und Schallück begründet. Unger schilderte die Gründung 1984:


»Theo Burauen bat mich, am 17. Juni 1958 an einer Schiffsfahrt teilzunehmen, zu der Martin Buber erwartet wurde. Da ich schon seit geraumer Zeit beabsichtigte die Germania Judaica (Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums) zu gründen, kam diese bevorstehende Schiffsfahrt sehr gelegen, denn die Presse sollte bei diesem Anlaß über das Vorhaben informiert werden. Da ich der Meinung war, daß ein solches Unternehmen vorwiegend von deutschen Nachkriegsschriftstellern gegründet werden sollte – und nicht unbedingt von jüdischen ›Heimkehrern‹ wie ich einer war – bat ich Theo Burauen, auch Paul Schallück, der außerdem am 17. Juni seinen Geburtstag feierte, zu dieser Schiffsfahrt einzuladen. Der von Paul Schallück verlesene Pressetext zur Gründung der Germania Judaica stieß sogleich auf ein lebhaftes Echo.«

Bis zur offiziellen Vereinsgründung 1959 stießen auch Heinrich Böll, der Buchhändler Karl Keller, der Bankier Iwan D. Herstatt und der Kulturdezernent Kurt Hackenberg zu der Gruppe. Gemeinsam waren sie der Überzeugung, dass Unkenntnis Vorurteile begünstige, und wollten eine Einrichtung schaffen, die den nachfolgenden Generationen Zeugnis von Geschichte und Kultur des vernichteten deutschen Judentums geben sollte. In der von Paul Schallück mitformulierten Satzung heißt es:


»Es soll die Aufgabe der Germania Judaica sein, Bücher und Dokumente aller Art zu sammeln, die geeignet sind, das Judentum in unserem Land bekannter zu machen. Der Bereich der Sammlung wird durch kein historisches Datum begrenzt. [...] Über diese Sammlung von Büchern und Dokumenten hinaus wird die Bibliothek eine Schriftenreihe herausgeben, publizistische Arbeiten und Forschungsergebnisse, die über die Geschichte des Judentums in Deutschland Auskunft geben. In den Räumen der Bibliothek sollen auch Gespräche stattfinden.«


Schallück wirkte an den ersten beiden Bänden der Schriftenreihe der »Germania Judaica« mit und formulierte in seinem Vorwort des ersten Bandes Sinn und Ziele der Vereinigung.


Als sich der Vorstand sich 1962 entschloß, die Ziele und Satzung der »Germania Judaica« zu ändern, nahm Schallücks Engagement im Verein ein abruptes Ende. Obwohl er den Vorsitz des Vereins gerade von Böll übernommen hatte, konnte er sich in einer Vorstandssitzung nicht durchsetzen, als man die Ziele des Vereins auf den reinen Auf- und Ausbau der Sammlung reduzieren wollte. Das in den Satzungen des Vereins festgelegte Programm, das neben der Herausgabe der Schriftenreihe auch ein Bulletin sowie die Bildung eines Referentenstabes für Informationsveranstaltungen in Schulen und Universitäten plante, war nach Ansicht Schallücks unzulässig reduziert worden. Die schriftliche Ankündigung der Geschäftsführerin Jutta Bohnke-Kollwitz, der Enkelin der Künstlerin Käthe Kollwitz, die Geschäftsführung des Vereins wegen Arbeitsüberlastung niederzulegen, hatte den Vorstand zu diesem Schritt gezwungen. Konsequent erklärte Schallück in seinem Schreiben an die Vorstandsmitglieder vom 20. September 1962:


»Bei der Gründung der GERMANIA JUDAICA war es meine Absicht nicht, diese Bibliothek zur Sinekure eines Geschäftsführers zu machen, oder die Aufgaben und Ziele des Instituts den Fähigkeiten eines temporären Geschäftsführers anzupassen und sie dementsprechend zu reduzieren.
Da die Mehrheit des Vorstandes am 13. September 1962 beschlossen hat, Absichten und Ziele der GERMANIA JUDAICA zugunsten der gegenwärtigen Geschäftsführung zu reduzieren, da ich als erster Vorsitzender, aber auch als Vorstandsmitglied ohne Amt die Realisierung dieser Beschlüsse, den Schlaf der Gerechten also, ganz gewiß stören würde, da man die bereits angenommene Kündigung der Geschäftsführerin Frau Dr. Bohnke-Kollwitz, ohne mich anzuhören, rückgängig gemacht hat, da..., trete ich ab sofort vom ersten Vorsitz der GERMANIA JUDAICA zurück und aus dem Verein der GERMANIA JUDAICA e. V. aus.«


In einem Brief an Theo Burauen schrieb Schallück: »Eine Bibliothek, die wie ein Museum darauf wartet, ob jemand kommt, um sich das eine oder das andere Buch anzusehen oder auszuleihen, bedarf meiner Energien nicht«


Wie andere Autoren, die entweder aus Köln kamen oder dort zugezogen waren, zollte auch Schallück der Stadt und ihren Menschen literarischen Tribut. »Paul Schallück hat Köln geliebt«, so Heinrich Böll in einer Rede anläßlich einer Gedenkfeier für Paul Schallück 1982 in Köln. Köln »wurde für ihn zu einem Architypus einer freiheitlich-liberalen und offenen Lebenswelt.« Alle seine Werke sind hier entstanden. In Rundfunk- und Fernsehsendungen wie »Köln, alte heilige und schöne Dinge« (1956), in Prosabeiträgen wie »Zum Beispiel die Hohe Straße« (1953), »Mönche und Landstreicher« (1958), »Menschen am Rhein« (1961) oder »Kölscher Klüngel« (1965) und Gedichten wie »Gesichter. Köln II« (1967) hielt Schallück seine Lobreden. Seine beiden bekanntesten Plädoyers für Köln, seine Liebeserklärungen für die »nördlichste Stadt Italiens«, erschienenen 1959 unter dem Titel »Köln – Porträt einer Stadt« und »Der Platz, an dem ich schreibe« (1960).


In »Köln – Porträt einer Stadt« hebt einen magischen Pluralismus Kölns hervor: »Diese Stadt hat tausend Gesichter und unter tausend Gesichtern das eigentliche: ein flutendes Geheimnis. [...] Das wahre Gesicht dieser Stadt« läßt sich im Neben-, Über- und Miteinander »nur erahnen«. Das Porträt basierte auf der Rundfunksendung mit dem Titel »Köln – alte heilige und schöne Dinge« vom 31. Mai 1956. Angelehnt an den gleichnamigen Bildband von Otto Förster und Toni Feldenkirchen (Köln 1955) führt Schallück seine Leser auf und einen Gang durch die Kunstgeschichte der Stadt. In der kunsthistorischen Perspektive spielte die politische Geschichte nur eine Nebenrolle. Schallück entwarf ein insgesamt unkritisches, fast für einen Reiseführer geeignetes Bild der Stadt. Bei Beschreibungen von Kriegsschäden fällt ein metaphorisch-poetischer Sprachgebrauch auf: »Hotels und Wohnungen skelettiert, den Hauptbahnhof, ein Monstrum der Großbürgerlichkeit, hatte die Kriegsfurie zerfasert« (S. 163). Solche Mystifikationen des Kriegselends anonymisieren das Geschehen und nehmen der durchaus kritischen Aussage den Stachel. Die bildhaften Formulierungen entsprechen in ihrer Wirkung nicht der Brutalität des Krieges.

Ausdrücke wie »wiederkehrende Ergriffenheit« oder »Wunder des Nebeneinanders« stehen für die Grundstimmung dieses Köln-Porträts. Schallück begnügte sich mit vagen Annäherungen an die Wahrheit und sprach von einer doch »eigentlich liberalen Haltung« der Stadt Köln. Diese Lesart einer affirmativen Geschichtsbetrachtung steht eindeutig im Widerspruch zu Schallücks sonst so wenig konformistischen und kritischen Publikationen, in denen er sich exakt gegen diese Art von Vergeßlichkeit und Verantwortungslosigkeit wendete. Schallücks glorifizierendes Porträt der Stadt Köln muss als Teil seines anderen, eher unpolitischen publizistischen Schaffens registriert werden.


In »Der Platz, an dem ich schreibe« ist die mönchische Zelle, die Schallück in Jugendjahren erträumte, ein mit zahlreichen Relikten der Vergangenheit angereichertes Arbeitszimmer geworden, das einen sehr persönlichen Blick auf ›sein‹ Köln ermöglicht:


»Der Platz liegt in Köln am Rhein. Köln dringt zu mir herein mit Glockengeläut und Motorengesumm, Hubertushörnern und Rasenmähern, Straßenbahngeknirsch, Hundegebell und Massengebrüll, wenn im nahen Stadion der Ball in den Kasten gepfeffert wurde. Kölns Luft atme ich ein, ein Gemisch aus Landgeruch und Chemiedünsten, Industriegasen und Blumendüften. Ich gehe in die Stadt, in der eine sonderbare, lebendige, aus Mittelhochdeutschem, aus dem Rom der Römer und Italiener, aus Frankreich, Spanien, den Niederlanden angereicherte Sprache gesprochen wird. Mein Platz hängt auch im Netz der Kölnischen Mundart, in der vieles gegenwärtig ist: Geschichte und Gegenwart, der Bauer und der Großstädter, der Dom und Rosenmontag, der Rhein und die Mädchen.

Köln ist eine unter den Städten der Bundesrepublik. Mit vielen hatte sie die Trümmer eines Tausendjährigen Reiches und des zweiten Weltkrieges gemeinsam; wie viele hat sie sich unterm Neonlicht wieder aufgebaut. [...] Wie in anderen Städten: ein Rundfunkhaus und ein Fernsehpalast, eine wiedererrichtete Synagoge, Hochhäuser, hier und da noch Baracken; Studenten aus Asien, Afrika, Amerika, aus Deutschland einige mit zerschnittenen Gesichtern. Unverkennbar: eine Stadt der Bundesrepublik, in der sich der Platz befindet, an dem ich schreibe.

Diese Republik liegt in Europa. Über meinen Schreibtisch hinweg wackelt der Hubschrauber von Bonn nach Brüssel; wenn es still ist, höre ich den Expreß von Stockholm nach Paris, oder von Warschau nach Madrid sausen. Düsenjäger der Nato durchbrechen die Schallmauer, lassen Fensterscheiben klirren, mich mit Verwünschungen hochfahren und auf den Balkon stürzen; aber der Pilot sieht dann schon Aachen und Belgien oder Holland vor sich auftauchen. Im Lebensmittelgeschäft gegenüber werden polnische Pflaumen und jugoslawischer Honig angeboten, französischer Wein und englischer Whisky, dänische Butter und spanische Apfelsinen, griechisches Öl und Zitrusfrüchte aus Israel, holländische Eier und portugiesische Sardinen, italienische Trauben und Schweizer Schokolade. Der Platz, an dem ich schreibe, liegt in Europa.

Und nachts manchmal blinken durch den Dunst der Stadt, des Landes und des Erdteils die Sterne. Ich schaue hinauf und weiß, daß der Platz, an dem ich schreibe, ein Punkt auf einem Planeten ist, den ein Unbekannter Erde genannt hat. [...] Geographen und Anthropologen, Chemiker und Biologen, Atomphysiker und Spekulanten streiten sich um das Alter des Planeten, auch um seine Lebensdauer. In den fünf Millionen oder Milliarden Jahren sind mir, so es der Krebs oder der Herzinfarkt, die Tuberkulose, das Auto, Flugzeug oder die Straßenbahn, oder mein Lebenswille es zulassen, sechzig, siebzig, achtzig Jahre zugemessen. Nicht erst an dieser Stelle werden Raum und Zeit identisch. Der Platz, an dem ich schreibe, liegt irgendwo im Jünglings- oder Greisenalter des Planeten Erde und im zwanzigsten Jahrhundert unserer Zeitrechnung und in der Bundesrepublik Deutschland und in Köln am Rhein und in meiner Mietwohnung und an einem Schreibtisch, der sich im Traum bisweilen noch immer in ein Stehpult verwandelt.«


zurück zurück | Seite 2 von 3 | weiterweiter