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„ich vertraue auf schnee regen und wind“. In Memoriam Reinhard Döhl

Nachruf von Walter Gödden

Die Nachricht traf uns wie ein Schock. Wir wussten, dass Reinhard Döhl krank war, auch, dass er schwer krank war, aber dass es zuletzt so schnell ging, damit hatte niemand gerechnet. Erst vor zwei, drei Wochen hatte er in einer der vielen Mails, die zwischen Bognang und Münster gewechselt wurden, geschrieben: „nachdem mich die aerzte eine weile aus dem verkehr gezogen hatten, ist es vernuenftig, mit dem aufraeumen anzufangen...“ Schon damals, Ende Mai, muss es Reinhard Döhl viel schlechter gegangen sein, als wir vermuteten. Es war eine Krankheit, die Jahre währte. Die „hegelsche furie des verschwindens“ habe ihn bereits mehrfach „am jackenaermel gezupft“, schrieb er einmal über einen seiner vielen Krankenhausaufenthalte. Das seien schlimme Tage und Wochen gewesen, aber auch eine „zeit, in der man manches gewinnt, auch wenn man dies oft erst spaeter merkt“.
Um seine Krebserkrankung wollte der Autor nicht viel Aufhebens machen. Sie schlug sich nicht in Verbitterung nieder. Im Gegenteil. Noch kurz vor seinem Tod hat Döhl – in Analogie zur Gattung Kalauer – skurril-schnurrige „Doehlauer“ erdacht. Mit dem ihm eigenen Optimismus versuchte er, seinen Gesundheitszustand auf seine Weise zu verarbeiten – literarisch. Beispielsweise in dem Gedicht „nächstes jahr in jerusalem“ mit den Versen: „ich sehne mich / aber die vögel wollen nicht ziehen // noch schlägt mein herz / und der gebrochene flügel / wächst langsam zusammen / / der krebs hat seinen panzer / die schnecke ihr haus.“
Im „Reinhard-Doehl-Lesebuch“ (2003), dem der Text entstammt, findet sich ein weiteres Abschiedsgedicht, „Auf der nämlichen Erde“: „Die Ulme Theokrits, / Die schöne Buche Mörikes, / Der Tod des Vergil – / gleichgültig ist den Vögeln / meine späte Lektüre. // Le but ultime / du monde c'est le livre. / Und die Erde wird / schön sein: Himmel, Felsen, Meer. / Shizuka, sora to mu. / / Ich schreibe meinen / Namen in den Wind; ihm ist / schwer zu widerstehn. / Wie Mimosenstaub treibt er / die Buchstaben vor sich her.“ Seinen Totenzettel entwarf der Autor selbst. Er ist sehr schlicht gehalten. Neben einem Lebensbaum finden sich die Verse: „angesprochen, dass er nichts tun könne / ohne spuren zu hinterlassen, antwortete er / ich vertraue auf schnee regen und wind.“

Ein UniversalkĂĽnstler

Selten bin ich einem Menschen begegnet, der so in der Literatur lebte wie Reinhard Döhl. Er w a r im Grunde genommen Literatur – ein hochsensibler, inspirierender Geist, ein Künstler sui generis, jemand, der im Universum der Kunstgeschichte querbeet Querverweise auftat und sie seinem eigenen Schreiben nutzbar machte. Und dessen Werk, nicht nur hierdurch, ein entschiedenes Plädoyer für die literarische Moderne war. Max Bense, Begründer der sogenannten „Stuttgarter Schule“, holte den gebürtigen Wattenscheider seinerzeit in die schwäbische Metropole. Hier avancierte Döhl zu einem der bekannteren Vertreter der experimentellen und visuellen Poesie Deutschlands. Im Hauptberuf war er Professor für Literatur an der dortigen Universität.
Döhls Arbeitswerkstatt schloss nicht nur die Literatur, sondern auch die Bildende Kunst und die Musik mit ein. Er war Collagist, Typograf, Hörspielexperimentator, Theaterautor, Chansonnier und vieles mehr. In all diesen Arbeitsbereichen wurde ihm hohe internationale Anerkennung zuteil. Er pendelte zwischen den Kontinenten so wie zwischen den künstlerischen Genres, rastlos tätig und Brücken bauend zwischen Kunstschaffenden und Publikum. Dass er dabei immer neue, innovative Ausdrucksmöglichkeiten erkundete und erprobte, lag in der Natur der Sache.
Neben alledem war Döhl ein angesehener Wissenschaftler. In einem Nachruf auf ihn war zu lesen: “Der Gesamtkünstler Döhl hatte im Künstlerforscher Döhl einen harten Konkurrenten.“ Und der Grenzgänger Döhl über sich selbst: „Wissenschaftlich komme ich von der Philologie, literarisch von der experimentellen und engagierten Literatur, bildkünstlerisch von der Photographie und der Collage her. Wechsel dieser Tätigkeitsfelder, die für mich nicht eigentlich zu trennen sind, ist Fortsetzung meines Fragens mit anderen Mitteln. Wenn möglich bevorzuge ich den künstlerisch-wissenschaftlichen Dialog. Den Gesprächen und der Arbeit mit meinen Freunden und Schülern verdanke ich viel.“ Döhl befand sich in einem ständigen internationalen Künstlerdiskurs, den er antizipierte, um ihn im nächsten Schritt produktiv zu bereichern. Was bei alledem nicht zu kurz kam, war das Element des Spielerischen, Leichten, auch des Humors: Ein Beispiel hierfür ist Döhls wohl bekannteste Arbeit: In der Silhouette eines Apfels hat sich neben dem vielfach repetierten Wort „Apfel“ das kleine Wörtchen „Wurm“ eingenistet. Das Musterbeispiel Visueller Poesie wurde in viele Sprachen übersetzt und fand Eingang in Schullesebücher.

Buchstabensuppe und Russisches Brot

Erst vor wenigen Monaten haben wir gemeinsam im Westfälischen Literaturmuseum Haus Nottbeck die Ausstellung „bildertexte / textbilder. Reinhard Döhl / Karl Riha“ konzipiert und gezeigt. Döhl begeisterte sich für den Ausstellungsort, das alte Rittergut: „ich habe mich im museum sehr wohl (um nicht zu sagen: zuhause) gefuehlt, und das schliesst die spargelsuppe (so etwas habe ich seit meiner kinderzeit nicht mehr gegessen) ebenso ein wie die fuer mich einleuchtend aufgebaute praesentation. mit buchstabensuppe oder auch keksen (= russisch brot) oder sonstiger essbarer literatur sollte man einmal ein kleines fest feiern. man koennte dazu abecedarien an die waende haengen und die anwesenden buchstaebliches verlauten lassen.“ Ganz vernarrt war er in die Idee, Dichter-Findlinge im Park des Museums und der umliegenden Landschaft zu platzieren. Auch bot er bereitwillig seine Hilfe an, im Internet so etwas wie einen „Nottbecker Poetenwinkel“ einzurichten. Überhaupt das Internet: Die Modernität und Offenheit Döhls zeigt sich auch daran, dass er dieses Medium von Anfang an als Bühne seiner künstlerischen Arbeiten betrachtete. Es bot ihm ideale Möglichkeiten, seine Kunst weltweit zu präsentieren und mit anderen Kunstschaffenden in Kontakt zu treten.
Döhl steckte bis zuletzt voller Hoffnungen und Pläne. Einer davon war der einer „Sommerresidenz“ auf Haus Nottbeck. Er wollte sich eine Zeitlang in Klausur begeben und seiner westfälischen Vergangenheit nachspüren. Womit es ihm sehr ernst war. Mit der Ausstellung und dem erwähnten Lesebuch, das in der Reihe „Neue Westfälische Literatur“ erschienen ist, sei ihm, was er ganz unpathetisch meinte, „etwas heimat wiedergegeben“ worden.
Mit Döhls Tod geriet ein weiteres Projekt vorerst ins Stocken. Seine Chansons, teilweise dreißig, vierzig Jahre alt, sollten neu erarbeitet und von Jazzmusikern auf Haus Nottbeck zu Gehör gebracht werden. Die Pläne werden nun ohne ihn weiter verfolgt – schon als Verpflichtung und innerer Verbundenheit einem Künstler gegenüber, der auch ein guter Freund war. Reinhard Döhl starb am 29. Mai 2004 wenige Monate vor seinem 70. Geburtstag.


Walter Gödden

Biografische Info:

Reinhard Döhl wurde 1934 in Wattenscheid geboren. Er lebte als Künster, Autor und Wissenschaftler in Botnang bei Stuttgart. Neben zahlreichen literarischen Veröffentlichungen war er an künstlerischen Gemeinschaftsarbeiten, Ausstellungs- und Mailart-Projekten beteiligt. Seine fächerübergreifenden Forschungen galten den Medien, der Literatur- bzw., nach seinen eigenen Worten, der Kunstrevolution. Eine umfassende Bio-Bibliographie findet sich unter http://www.reinhard-doehl.de.