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Heinrich Heines 150. Todesjahr 2006

Enno Stahl hat die aktuelle Literatur gesichtet und mit einigen maßgeblichen Heine-Forschern gesprochen

Nach dem Schillerjahr 2005, parallel zu Mozarts 250., zu Rembrandts 400. Geburtstag, zu Henrik Ibsens, Hannah Arendts, Wolfgang Koeppens und Samuel Becketts 100. Geburtstag wird auch Heinrich Heine Objekt eines “Gedenk-Events” sein. Am 17.2.1856 vor 150 Jahren verstarb er im Pariser Exil, nach langen Jahren des Leidens in seiner “Matratzengruft” - Anlass fĂŒr zahlreiche Veranstaltungen und noch viel mehr Buchpublikationen. Nun hat Heine, der ja lange Zeit die Geister schied, spĂ€testens seit dem letzten Gedenktag, dem 200. Geburtstag im Jahr 1997, neue PopularitĂ€t erlangt. Sein berĂŒhmtestes Gedicht “Die Loreley” kennt nahezu jeder. Und dazu muss man nicht unbedingt auf rheinischen Ausflugsdampfern unterwegs gewesen sein: bei denen “Die Loreley” - in der Vertonung von Friedrich Silcher, geschmettert von markig-nostalgischen MĂ€nnerchören -, lĂ€ngst zum Pflichtprogramm gehört, sobald er in Sicht gerĂ€t, der mysteriöse “Orakelstein”.

Heine hĂ€tte das sicher nicht gestört, sagte er doch von sich: “ich bin kein Gelehrter, ich selber bin Volk.” Gerade diese VolkstĂŒmlichkeit, die seinen Gedichten, seiner Prosa eigen ist, hat ihn zu Deutschlands zweitgrĂ¶ĂŸtem, fĂŒr manche gar grĂ¶ĂŸtem Dichter gemacht, je nach politischer Couleur des Betrachters. VolkstĂŒmlich, das bedeutet bei Heine zeitlos und zugĂ€nglich. Nicht zuletzt deswegen wird er heute noch viel gelesen. Sein Werk erfreut sich aber auch einer lebhaften wissenschaftlichen Rezeption. Ein, wenn nicht das Zentrum der internationalen Forschung ist das Heinrich-Heine-Institut in DĂŒsseldorf. Ein großer Teil des Nachlasses liegt hier, die Bibliothek sammelt und dokumentiert alles, was von und ĂŒber Heine erscheint.

Wie sieht Joseph Anton Kruse, Leiter dieses Hauses, den Rummel, der sich in den nĂ€chsten Wochen und Monaten um den frĂŒher einmal so verfemten Dichter rankt:


KRUSE: Die Not des Gedenkens nimmt ja in den letzten Jahren zu, aber das gab es immer, und ich meine, dass die Geburtstage und Sterbetage als Hauptgedenkgelegenheiten in der Heine-Wirkung eine große Rolle gespielt haben. Dass zum Beispiel der handschriftliche Nachlass, die so genannte Sammlung Strauss 1956 von DĂŒsseldorf erworben wurde, hing auch ganz ohne Zweifel mit dem hundertsten Todesjahr zusammen.

Kann aber auch die Forschung von einem solchen Anlass profitieren?


KRUSE: Es ist immer die Frage, wie weit die AufnahmefĂ€higkeit eines wachsenden Publikums ist und Gedenkjahre haben es an sich, dass natĂŒrlich eine Popularisierung erfolgt, ohne die man aber dann die Namen derer, denen man gedenken will, auch nicht in die Breite bekommt.


Diesen Eindruck bestÀtigt auch Bernd KortlÀnder, Leiter des Archivs im Heine-Institut:


KORTLÄNDER: Das, was man bisher so in die Tiefe geforscht hat, geht jetzt etwas in die Breite, man liest die Briefe, Biographien werden jetzt nicht mehr selbst geschrieben, man nimmt dann die Briefe dazu, um Biographien daraus zusammen zu stellen, was ja sicher sehr schön ist und legitim, weil gerade die Briefe vielleicht noch ein Feld sind, das noch nicht so im Vordergrund stand. Ansonsten eben viel an ZitatenschĂ€tzen, die angesammelt und angelegt werden, in verschiedensten Formen umgepflĂŒgte Werkfelder gewissermaßen.


“UmgepflĂŒgte Werkfelder”, das bezeichnet treffend das Erscheinungsbild der Hunderten von Veröffentlichungen. Neben den erwĂ€hnten Biographien und Briefbiographien, neben verschiedensten Neuausgaben der populĂ€rsten Werke, etwa der “Reisebilder” in allen ihren Teilen, des “WintermĂ€rchens”, des “Buchs der Lieder”, gibt es vor allem thematisch geordnete Anthologien: seine schönsten Gedichte, seine erotischen Gedichte, Heine-Texte illustriert. Hier ist besonders zu nennen: das “WintermĂ€rchen” mit Zeichnungen des bekannten TITANIC-Mitarbeiters Hans Traxler. Dessen BeitrĂ€ge sind schön, teilweise witzig, kĂŒnstlerisch wertvoll sowieso. Bei Traxlers Klasse hĂ€tte man allerdings mehr textdeutende Kommentare in den Zeichnungen erwartet. Solche gibt es, dann auch pointiert, aber sie bleiben doch die Ausnahme.

Zu fast allen Sparten hat Jan-Christoph Hauschild beigetragen, insgesamt sieben EinzelbĂ€nde, darunter ausgesprochene Kuriosa. So hat er nicht nur ein Liederbuch mit den Notationen vertonter Heine-Gedichte herausgegeben, sondern auch einen Gedichtband fĂŒr Kinder, stilecht illustriert von Reinhard Michl. Und da Heine bekanntlich kein KostverĂ€chter war, kann man in seinem Sinne auch dem Gaumen frönen. Zusammen mit dem DĂŒsseldorfer 3-Sterne-Koch Jean-Claude Bourgueil hatte Hauschild bereits vor einigen Jahren einen Band ĂŒber ”Essen und Trinken mit Heinrich Heine” ediert, der jetzt wieder neu aufgelegt worden ist. Neben einschlĂ€gigen TextauszĂŒgen prĂ€sentiert dieser prĂ€chtige Farbband Kreationen wie ”GerĂ€ucherten Saibling mit Sellerie-Apfelsalat und Meerettichcreme” oder ”Argumente von Rinderbraten mit KnödelgrĂŒnden”, wobei es sich schlicht um einen Rheinischen Sauerbraten handelt.

Was macht fĂŒr Hauschild die Faszination aus, sich so nachhaltig mit dem Autor Heine zu befassen?


HAUSCHILD: Auf mich wirkt Heine frisch und jung. Und weil er ein witzigster Schriftsteller ist, vielleicht der witzigste unserer großen Schriftsteller, wird er mir auch nicht leid.


Außer diesen eher amĂŒsanten Publikationen hat Hauschild, gemeinsam mit Michael Werner, Leiter des Deutschland-Zentrums in Paris, schon 1997 eine umfangreiche Biographie herausgegeben, die nun neu aufgelegt wurde. Gerade bei einem Autor wie Heine, ĂŒber den inzwischen Tausende von BĂŒchern und AufsĂ€tzen erschienen sind, fragt man sich, was lĂ€sst sich da noch ans Tageslicht fördern, was nicht lĂ€ngst anderswo prĂ€sent ist?


HAUSCHILD: Also, als wir angefangen haben, die Biographie zu schreiben, konnten wir uns auf die abgeschlossene Heine-Gesamtausgabe stĂŒtzen, also wir konnten wirklich auf die besten Textgrundlagen zurĂŒckgreifen, die historisch-kritische Heine-Ausgabe, die Manfred Windfuhr mit Hilfe der Stadt DĂŒsseldorf herausgegeben hat, die bei Hoffmann und Campe erschienen ist, das ist das eine. Das andere ist, dass sowohl Michael Werner als auch ich Lebenszeugnisse von Heine sehr gut kennen. Michael Werner kennt sich besonders gut in der Pariser Zeit aus, und ich hab mich intensiv mit Heines deutscher Zeit beschĂ€ftigt, und ich glaube, wir haben da manche Legenden aufrĂ€umen können und haben manches wichtige Detail zu Tage gefördert. Ein anderer wichtiger Aspekt, fĂŒr den Michael Werner in erster Linie steht, ist die Untersuchung des materiellen Hintergrunds von Heine. Um nur ein Beispiel zu sagen, wir glaubten bis vor kurzem, dass Heine in großer Armut gestorben sei. Das Gegenteil ist aber richtig: wenn man es ganz vorsichtig auf heutige WĂ€hrung umrechnet, mĂŒsste man sagen, Heinrich Heine war bei seinem Tod - zumindest D-Mark-MillionĂ€r -, er hat ungefĂ€hr 750.000 Euro hinterlassen.


Dem politischen Emigranten Heine ging es wirtschaftlich also gar nicht so schlecht. 1831 war er, nach Veröffentlichung seiner politisch brisanten “Reisebilder”, aus Sorge um seine persönliche Sicherheit nach Paris ĂŒbergesiedelt, wo er fast sein halbes Leben bis zu seinem Tod im Jahr 1856 verbrachte. Diese beiden kulturellen IdentitĂ€ten, die deutsche und die französische, sind fĂŒr Heine prĂ€gend gewesen, nachzulesen etwa bei Joseph Anton Kruse. Er hat gleichfalls eine Biographie ĂŒber Heine geschrieben, die in ebenso fasslicher wie ĂŒbersichtlicher Weise dessen Weg und Werk nachzeichnet:


KRUSE: Die Suhrkamp-Basisbiographie hat ja insgesamt sich zum Ziel genommen, in der alten klassischen Aufteilung “Leben” – “Werk” – “Wirkung” jeweils eine Persönlichkeit aus allen Feldern des politischen, des musikalischen, des literarischen und anderen Lebens darzustellen, und so habe ich im Grunde am Ende einer langen TĂ€tigkeit, die sich auf Heine immer wieder konzentriert hat, die Gelegenheit gehabt, das, was ich in jungen Jahren in spezieller Weise erprobt hatte, also auch teilweise popularisiert hatte, versucht darzustellen, in jener Aufteilung, in jenem Dreischritt zu machen, der mir eigentlich von der tĂ€glichen Arbeit gewohnt war.


Dieser klassische Dreierschritt, der in der Germanistik mitunter als altmodisch angesehen wird, ist leserfreundlich, tauglich besonders fĂŒr SchĂŒler und Studenten, hilft er doch dabei, komplexe ZusammenhĂ€nge sĂ€uberlich zu scheiden. Trotz ihrer relativen KĂŒrze erweist sich Kruses “Basisbiographie” als ausgesprochen kenntnis- und detailreich.

Die ambitionierte und viel besprochene Biographie von Kerstin Decker dagegen, “Heinrich Heine. Narr des GlĂŒcks” ist in mehrerer Hinsicht Ă€rgerlich - auch wenn man in Rechnung stellt, dass es sich hier um einen bewusst populĂ€ren Ansatz handelt. Die Auswahl an SekundĂ€rliteratur, auf der sie basiert, ist von verrĂ€terischer Kargheit, sie beinhaltet ĂŒberdies zu großen Teilen BeitrĂ€ge von Feuilleton-Philologen Ă  la Marcel Reich-Ranicki, Fritz J. Raddatz, Ludwig Marcuse. Das muss nicht verwundern, denn auch Kerstin Decker entstammt diesem Umkreis. Statt aus der historisch-kritischen DĂŒsseldorfer Heine-Ausgabe bzw. der Heine-SĂ€kular-Ausgabe der Briefe zu zitieren, wie es dem Standard entspricht, bezieht sie sich zu allem Überfluss auf völlig veraltete Werk- und Korrespondenzausgaben (darunter eine Briefesammlung von 1906!).
Der Stil passt dazu: einfache HauptsĂ€tze, zumeist gar im PrĂ€sens, werden hintereinander geschaltet, sozusagen ”gefĂŒhlte Vergangenheit”. Dazu ergibt sie sich in plakativen BehauptungssĂ€tzen wie ”Madame de StaĂ«l hatte einen großen Fehler. Sie mochte Napoleon nicht.” Das hört sich fetzig an, sagt aber leider wenig aus. Immer wieder wechselt Decker quasi-romanhaft in die erlebte Perspektive des Dichters Heine, wahrscheinlich weiß sie deshalb ganz genau, wie es wirklich war, die Wahrheit ĂŒber Heine, nach Tausenden von Monographien und AufsĂ€tzen endlich an den Tag gebracht! Zahlreiche Germanisten, behauptet sie etwa, hĂ€tten dicke BĂŒcher ĂŒber das Volksliedhafte bei Heine geschrieben, doch ihnen allen sei “die Urszene der Heineschen Dichtung” entgangen: Des roten Sefchens Kinderlied, dem Heine als kleiner DĂŒsseldorfer Junge voller RĂŒhrung beigewohnt hatte, habe den Anstoß gegeben fĂŒr dessen spĂ€tere lyrische Brillanz und Leichtigkeit, na dann: Problem gelöst! Dass diese Szene aber letztlich nur von Heine selbst ĂŒberliefert wurde, in der ihm eigenem ironisch-amĂŒsierten Form literarischen ZurĂŒckschauens, stört sie dabei nicht. Wieso denn auch, wenn es doch da steht, Schwarz auf Weiß?!
Ähnlich ist ihre Argumentationsweise bei einem anderen Komplex: als ”Amalien-Erlebnis” bezeichnet man in der Forschung die unglĂŒckliche Liebe des mittellosen Heines zu seiner schwerreichen Hamburger Kusine. Angesichts des finanziellen Standesunterschieds konnte daraus nichts werden, manche Literaturhistoriker der Vergangenheit werteten das als Auslöser fĂŒr die einzigartige Liebespoesie Heines.

Diese uralte MĂ€r verkauft Decker nun als allerneueste Erkenntnis, um der angeblich ach so verstaubten Philologenschar eins auszuwischen - mit dem lapidaren Hinweis, Liebe sei eben mysteriös, aber davon hĂ€tten Philologen eben keine Ahnung. Vor allen andern zielt sie damit auf die ausgewiesene Heine-Forscherin Edda Ziegler, doch Deckers Seitenhieb fĂ€llt umgehend auf sie selbst zurĂŒck. Als habe Ziegler, die ebenfalls mit einer Monographie im Heine-Jahr aufwartet, diesen Angriff bereits antizipiert, fordert sie ausdrĂŒcklich und zurecht, ”sich von einer ungebrochen biografischen Deutung von Heines Liebeslyrik zu distanzieren.”

TatsĂ€chlich, auch wenn es sich nicht bis zu Frau Decker herum gesprochen haben mag, ebenso wenig wie zu Herrn Reich-Ranicki, der hinter jedem Liebesgedicht Heines einen Weiberrock wĂ€hnt: Dichter können durchaus ohne konkretes Vorbild schreiben, dafĂŒr ist sie ja da - die poetische Imagination! Dass nicht jedes lyrische Ich unbedingt auf ein unmittelbares Erlebnis verweist, ist eigentlich eine Binsenweisheit, die man gerade beim genialen Spurenverwischer Heine beherzigen sollte.

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