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Seismograph und Soxleth-Apparat

Ein Gespräch über Hermann Harry Schmitz

Jürgensen: HHS wollte sich den leistungsorientierten Vorgaben seines Vaters und der Gesellschaft entziehen und war dabei doch in eine vergleichbare Mühle geraten. Man erwartete immer wieder neue Geschichten von einem Sonderling und ich ziele auf seine, wie es heißt, mit dem Erfolg immer wiederkehrende Schreibhemmung. Konnte oder durfte es einen HHS, einen deutschen Dandy wie ihn überhaupt geben? Scheiterte er - neben seiner ständigen Krankheit natürlich - auch an diesem Zwiespalt?

Matzigkeit: Zum einen muß man sagen, daß sich HHS den Anforderungen des „normalen“ beruflichen Alltags als kaufmännischer Angestellter der Piedboeuf‘schen Kesselschmiede in Düsseldorf-Eller bis zum Erfolg seines Erstlings „Der Säugling“ 1911/12 ausgesetzt hat. Zu diesem Zeitpunkt muß er durch den Tod seiner Mutter wohl zusätzlich eine Erbschaft gemacht haben; Hanns Heinz Ewers, auch ein literarischer Mentor von HHS, schildert ihn gegenüber seinem Verleger Georg Müller als „finanziell unabhängig“. Daß sich HHS unter diesen neuen Bedingungen im Alter von ca. 31-32 auf eigene Füße stellt, ist wohl begreiflich, da sein Lebensplan nach eigener Überzeugung in eine mehr künstlerische Richtung verlaufen sollte.

Allerdings hatte er schon seit ca. 1904/05 erfolgreich direkten Kontakt zu Düsseldorfer Künst-lern aus dem „Akademischen Verein Laetitia“ geknüpft und sich so eine Gegenwelt zum nüchternen Arbeitsalltag aufgebaut. Dort wurden ja auch erstmals seine grotesken Einakter aufgeführt.

Dass er zum Schreiben nicht geboren war, beweist, daß er sich seine leicht hingeworfenen Improvisationen, seine Stehgreif-Geschichten für eine Papierfassung abquälen mußte. Er hat sich da - auch wohl durch die unverantwortliche Erwartungshaltung des Feuilletonredakteurs Victor M. Mai - zum Schreiben pressen lassen. Natürlich ist er zu diesem Zeitpunkt auch ein Opfer seiner eigenen Eitelkeit geworden, eine Eigenschaft, die er wenig später unter dem Eindruck schwerster Krankheiten nur noch sehr kritisch gesehen hat.

Daß seine zahlreichen Krankheiten psychosomatische Ursachen haben, die nicht zuletzt aus dieser Notlage heraus begriffen werden müssen, steht für mich außer Frage. Selbst seine besondere Gabe, sein Rede- und Vortragskunst wurde davon ja nicht verschont: Er bekam eine Zyste unter der Zunge!

Jürgensen: Fatal! So enden auch die Geschichten des HHS oft in einem totalen Desaster. - Kurz vor dem Ende der DDR - 1987 - erschien unter dem Titel „Wie ich mich entschloß, auf Händen zu gehen“ (Eulenspiegelverlag Berlin) ebendort eine Auswahl seines Werkes. War die Zeit gerade dort reif dafür geworden?

Matzigkeit: Da sehe ich keinen unmittelbaren Zusammenhang, schon gar nicht im Hinblick auf die so-genannte „Wende“ von 1989. Schmitz ist in der DDR ja bereits viel früher erschienen. Die erste Veröffentlichung war 1965, eine zweite Auflage kam 1974 heraus; beide unter dem Titel „Die Taufe“, ausgestattet von Horst Hussel, der kräftige Anleihen bei Max Ernst genommen hatte. Die Illustrationen sind in die Diogenes-Ausgabe, herausgegeben von Otto Jägersberg übernommen worden.

Schon die frühen Ausgaben wurden von Karl Heinz Berger herausgegeben, der dann zusammen mit seiner Frau Alice die Ausgabe zusammengestellt hat, die Sie in Ihrer Frage angesprochen haben. Was die wesentlichen Beweggründe für Berger waren, sich konsequent diesem „rheinischen“ Autoren anzunehmen, konnte ich bisher nicht herausfinden. Ein direkter Kontakt zu Berger in der DDR-Zeit war mir nicht möglich; inzwischen ist er nach Angaben des Eulenspiegel-Verlags verstorben. Bliebe natürlich noch seine Frau für weitergehende Fragen...

Fakt ist, daß HHS in der DDR in einem Nischenverlag erschien. Die kritische Zielrichtung seiner Geschichten konnte nicht oder kaum systembezogen interpretiert werden. Gleichwohl handelte es sich um einen Autor, der - zwar im Verständnis der herrschenden DDR-Ideologie - unpolitisch, aber dennoch kritisch gegenüber den schon um 1900 absehbaren problematischen Entwicklungen des bürgerlich industriellen System eingestellt war, auch wenn diese Tendenz nur vermittelt über die Groteske erkennbar wird.

Jürgensen: Tritt diese unterschwellige politische Komponente manchmal auch zutage?

Matzigkeit: Schmitz ist nur mit einem erweiterten Politikverständnis als „politischer“ Autor zu begreifen. Für mich ist er ein Seismograph seiner, zum Teil auch unserer Zeit, der mit seinen Grotesken die tektonischen Verwerfungen einer industriellen Gesellschaft ausleuchtet. Immer wieder wird das Mißverhältnis zwischen der geistig-mentalen Unreife der Menschen und der Notwendigkeit einer regulierenden Vernunft deutlich, um die mehr und mehr autark werdende Technik beherrschen zu können. HHS ist hier ein Moralist, der im Untergang die Vernunft beschwört. Für ihn ist weniger mehr. Diese Bescheidenheit und die Erkenntnis von der Nichtigkeit allen Seins hat ihn auch an den Buddhismus herangeführt.

Jürgensen: Im Nachwort der Noch-DDR-Sammlung wurde von den Herausgebern Alice und Karl Heinz Berger der bewußte oder unbewußte Bezug zu den Anfängen des Kintopps und seinen Slapstickkomödien gezogen. War HHS eifriger Besucher der kinematographischen Anstalten? Brauchte er diese Krücke überhaupt, oder erlebte er das ihn befremdende Leben der „Normalbürger“ wie einen Film?

Matzigkeit: Die Möglichkeit, in Düsseldorf derartige Etablissements besuchen zu können, bestand durchaus. Ob er diese Gelegenheit tatsächlich genutzt hat, ist - anders als bei Franz Kafka - nicht überliefert.

Daß seine Phantasie derartige Konserven kaum bedurft hat, legen seine Geschichten nahe. Umgekehrt hat sich bisher noch kein Filmemacher an seine Geschichten herangetraut, was angesichts der heutigen tricktechnischen Animationsmöglichkeiten ja kein Problem mehr wäre.

Jürgensen: Oh ja! Da könnte ich mir gut einen Jean-Pierre Jeunet oder Terry Gilliam vorstellen... Warten wir ab und hoffen auf deren Gespür für gute Stoffe.

Wie wir der Biographie des HHS entnehmen können, war er so etwas, sicher etwas mehr als das, was man heute einen Comedian nennt. Nur standen ihm zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, nicht zur Verfügung. Fehlte HHS die Chance zur Massenverbreitung oder fehlen uns heute die Salons, die ihm zu kleinem Ruhm verhalfen?

Matzigkeit: Ich glaube, heute ist beides gegeben. Es gibt die Millionen berieselnden Comedies, aber auch die Clubs mit der fast intimen Privatatmosphäre. Was HHS heute braucht, sind Leser, aber ebenso Vorleser, Animateure des Geistes, die in der Lage sind, seinen Witz zu vermitteln. Davon gibt es einige, aber immer noch nicht genug. Ich freue mich, daß HHS immer wieder Freunde findet, mit denen er nach nun fast 100 Jahren kaum noch rechnen konnte. Es wäre ihm wohl auch Wurst gewesen. Schauen wir lieber, was wir in ihm finden...

Jürgensen: Setzen wir ihn dennoch einmal in die Zeitmaschine. Wo könnte er landen?

Matzigkeit: Ich sehe ihn mehr im Bereich des Kabaretts, wenn auch nicht in dem des klassisch politischen. Bei den „Mitternachtsspitzen“ könnte ich ihn mir durchaus vorstellen, weniger bei „Night-Wash“. Im übrigen hatte er ein Engagement an ein Wiener Kabarett, das er dann aber wegen seiner Krankheiten ausschlagen mußte.

Jürgensen: HHS war ein begnadeter Vortragskünstler, der schon im Kindesalter sein Publikum begeisterte. Hatte er überhaupt literarisch/künstlerische Ambitionen? Schrieb er aus Mitteilungsbedürfnis, oder weil er damit - ganz legitim ökonomisch - mehr Menschen erreichen konnte, als mit seinen Auftritten?

Matzigkeit: HHS hat mit seinen Auftritten nie Geld verdient. Er trat bei Wohltätigkeitsveranstaltungen auf oder im Kreise seiner Künstlerfreunde. Zu den Umständen seiner Schreibqualen habe ich mich bereits geäußert.

Gleichwohl war da ein Drang zur Selbstdarstellung. Die massenwirksamste Möglichkeit dazu war damals natürlich die Zeitung, die in einer Auflage von einigen zehntausend erschien. Diese Chance hat er genutzt. Allerdings mit den bekannten Folgen, die ihn - verschärft durch die Krankheiten - schließlich in den Tod getrieben haben.

Jürgensen: Herr Dr. Matzigkeit, Sie werden sicher keine Ruhe geben, für das Werk Schmitzens zu werben. Was ist 2005, dem Jahr seines 125. Geburtstag zu erwarten?

Matzigkeit: Geplant ist Einiges; ich wünsche mir, daß wenigstens ein Teil davon zu realisieren ist. Um seinen Geburtstag herum - der ist am 12. Juli - soll im Rahmen des Düsseldorfer Bücherbummels eine Veranstaltung stattfinden. Als Akteur ist Konrad Beikircher im Gespräch, möglicherweise aber auch Frank Meyer. Frank Meyer sieht HHS nicht nur verteufelt ähnlich und hat seine Magisterarbeit über ihn geschrieben. Er ist auch der Autor des Schmitz-Stücks „Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel“, in dem er alle auftretenden Personen (6-8) einschließlich HHS himself selber spielt. Eine mehr als beeindruckende Leistung. Das Ergebnis dieser Veranstaltung soll ein Hörbuch werden.

Für den Herbst 2005 ist eine Ausstellung mit begleitender Publikation an einem öffentlichkeitswirksamen Ort geplant. Wo, wird noch nicht verraten. In der Ausstellung sollen besonders Gegenstände zu sehen sein, die in einem direkten Bezug zu Schmitz-Geschichten stehen (Wellenbadewanne, Soxleth-Apparat, Füllfederhalter, Kaffeemaschine etc.) Über Kopfhörer kann sich der Besucher die jeweilig pas-sende Ge-schichte anhören.

Die Publikation soll ein Bild-, Lesebuch zu Leben und Werk von HHS werden. Hier sollen sämtliche Abbildungen von ihm, aus seinem Umkreis, aber auch unveröffentlichte Briefe, Fundstücke etc. abgedruckt werden. Außerdem ein biographischer Essay, etwas zur über 100jährigen Schmitz-Rezeption in Düsseldorf und einer vollständigen Bibliographie (á jour).

Wünschen würde ich mir, wenn auch die Aktion des Literaturbüros „Düsseldorf liest ein Buch“ sich zeitgleich beteiligen könnte.

So viel in Kürze. Ich hoffe, ich konnte Sie neugierig machen.

Jürgensen: Ein echter Schmitz-Fan ist Ihnen jedenfalls sicher! Ich denke, daß sich auch unsere Leser nun begeistert mit der verfügbaren Literatur versorgen werden. Wir bleiben am Ball und werden auch die Geburtstagsfeiern im kommenden Jahr gern begleiten.

Vielen Dank für dieses Gespräch!

 

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Internetmagazin einseitig.info (www.einseitig.info)

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