Sarah Kirsch bezeichnete Annette von Droste-Hülshoffs Prosafragment „Ledwina“ einmal als „Geschenk des Himmels“. Sie las sich fest, kam von der Novelle nicht mehr los. Die Lektüre der „Ledwina“ löste eine intensive Beschäftigung der wohl bekanntesten lebenden deutschen Lyrikerin mit ihrer berühmten Vorfahrin aus, war aber auch für andere Künstlerinnen eine Initialzündung, sich eingehender mit dem nur vermeintlich so braven Biedermeierfräulein zu beschäftigen. Damit war der Weg für eine Neuentdeckung der Droste gebahnt. Die Heimatdichterin rückte aus dem Blickfeld – man fragte sich eher, wie es möglich war, die vielfach verstörenden Verse Drostes über lange Jahre derart zu verharmlosen, wie es im Sinne einer westfälisch-katholischen Mythenbildung geschehen ist. Heute öffnet sich ein ganz anderer Horizont – von weltoffener Modernität und von gefährlich-subversivem Dichtungspotenzial auf einem schwankendem, unsicheren Boden ist die Rede. Betont wird das Sperrige und das Unkonventionelle der Droste, das lange Zeit von glatten Etiketten verdeckt gewesen ist. Die radikale, in Teilen geniale Poesie der Droste wird verortet in einer zerbrechenden Welt, die für das Individuum nicht mehr Heimat sein kann.
Schon „Ledwina“ liefert hierfür einen eindrucksvollen Beweis. Es handelt es sich um den ersten größeren Versuch Annette von Droste-Hülshoffs in Prosa überhaupt. Sie war gerade 22 Jahre, als sie sich an diesen Text heranwagte. Er war beiliebe noch nicht für die literarische Öffentlichkeit gedacht, und so verschwand das Manuskript für mehrere Jahre wieder in der Schublade. Die junge Dichterin wandte sich anderen Stoffen zu, experimentierte mit Gedichten und Theaterstücken. Später erwog noch einmal eine Weiterarbeit an dem Roman, doch auch diesmal blieb es beim guten Vorsatz. Die Handschrift des Manuskripts bricht auf Seite 43 ab. Stichpunkte für die Fortsetzung waren zwar notiert, blieben aber unausgeführt, das Werk ein – zugegeben – sperriges Fragment, dessen Handlungsrahmen recht weitmaschig und kompliziert angelegt war.
In der vorliegenden Bearbeitung des Textes werden solche Strukturprobleme durch sinnvolle Kürzung umgangen. Das Augenmerk liegt ganz auf dem Psychogramm der Hauptprotagonistin Ledwina – einer blassen, hochsensiblen, gefühlsmäßig überspannten Person. Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesem Todesengel um ein frühes Selbstporträt der Dichterin. Sie beschreibt sich als Menschen, der unter den Symptomen einer fragilen Dichter-Hypochondrie litt, einer literarischen Zeitkrankheit. Und genau so wurde die junge Droste damals von anderen wahrgenommen: Als ewig un- und missverstandene Außenseiterin, die gesundheitlich so angegriffen und nervlich überreizt war, dass sie – nach den Worten ihrer Mutter – „fast überschnappte“.
In seiner emotionalen Intensität birgt das Novellenfragment für den Leser/Hörer manche Überraschung – besonders für diejenigen, die Droste nur als zurückgezogene, fromme und heimatbezogene Autorin kennen. „Ledwina“ zeigt uns eine ganz „andere Annette“, eine selbstbewusste Autorin, die mit geniehafter Attitüde ihren Stoff inszeniert. Hierfür fand sie bereits in solch jungen Jahren eine angemessene, ihre ganz eigene Sprache. „Ledwina“ enthält wunderbare poetische Abschnitte, Erzählpassagen, die den Leser oder Zuhörer gleich in ihren Bann ziehen, ja geradezu fesseln vermögen. Es ist das, was von der Jugendnovelle zuletzt bleibt, ihre Sprache – eine poetische, hochpoetische, und vor allem eine sinnliche Sprache.
Durch die Auswahl und Bearbeitung von Walter Gödden, von dem auch die hilfreichen erläuternden Zwischentexte stammen, ist eine Hörproduktion entstanden, die jedem Interessierten eine unbekannte Droste näher bringt und überraschend neue Einblicke verschafft. Hinzu kommt der beeindruckende und vereinnahmende Vortrag der Schauspielerin Sabine Negulescu, die der „Ledwina“ ihre Stimme geliehen hat, und mit ihrer Interpretation alle Abgründe hörbar macht und den sinnlichen Kosmos des Materials zum Klingen bringt. So wird die vorliegende Hörproduktion „Ledwina“ in der Tat ein „Geschenk des Himmels“ – für jeden, der bereit ist, sich näher auf Annette von Droste-Hülshoff, ihre Gedankenwelt und ihre Virtuosität näher einzulassen.
Annette von Droste-HĂĽlshoff: Ledwina. Gelesen von Sabine Negulescu. CD. MĂĽnster: Aschendorff-Verlag 2007
Jochen Grywatsch