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Ein rheinländischer Pazifist zwischen Expressionismus und Exil

Das Karl Otten-Lesebuch, rezensiert von Marc Reichwein

Ein rheinländischer Pazifist zwischen Expressionismus und Exil

Band 1 von Nylands Kleiner Rheinischer Bibliothek: das Karl Otten Lesebuch.

Rezensiert von Marc Reichwein

Schon seit 2002 macht die „Kleine Westfälische Bibliothek“ der Kölner Nyland-Stiftung in preisgünstiger Form auf vergessene oder vergriffene Texte von Autorinnen und Autoren der westfälischen Literaturgeschichte aufmerksam. Nun bekommt die Buchreihe ihr rheinisches Pendant: Den Auftakt bildet ein von Enno Stahl zusammengestelltes Lesebuch, das an den weitgehend vergessenen Schriftsteller, Journalisten und Pazifisten Karl Otten (1889-1963) erinnert.


Die 160-seitige Anthologie versammelt repräsentative Lyrik, Prosa und Romanauszüge eines Autors, dessen Name vor allen mit der expressionistischen Bewegung in Verbindung steht. Neben Lebensdokumenten, Bildern und Briefen aus dem im DLA Marbach gelagerten Nachlass Ottens enthält das Lesebuch auch einige bislang unveröffentlichte Texte, wie etwa die autobiografische Skizze „Weltgeist Luitpold“, in der Otten, der ab 1910 in München studierte, das Lebensgefühl der Schwabinger Boheme in sehr prägnanter Weise Revue passieren lässt. Ein ausführliches Nachwort und eine für den ersten Überblick gedachte Werkbibliografie runden das Lesebuch ab, das man nicht zuletzt (Hochschul-)Lehrern weiterempfehlen mag, weil es ein kleines Kaleidoskop an Anregungen für die literaturgeschichtliche Wieder- und Neuentdeckung Ottens im Rahmen von Seminaren bereitstellt.


Was aber macht Otten und seine Werke exemplarisch? Der in Oberkrüchten nahe der holländischen Grenze geborene Zollbeamtensohn, der in schwierigen katholischen Familienverhältnissen aufwuchs, war Zeit seines Lebens gegen Krieg. Auslösend für seine pazifistische Grundhaltung, die ihn zwangsläufig in Konflikte mit dem wilhelminischen Militarismus brachte, wirkte eine 1912 unternommene Reise nach Griechenland, bei der der damals 23-jährige Otten in die Wirren des albanischen Befreiungskrieges gegen die Türken geriet.


„Ich wollte weg von Europa und wählte den finstersten Balkan, Albanien; Türkei, Hellas als Wanderziel, was mich mit der wahren Zukunft unser aller Vater-Länder, dem Krieg, konfrontierte, mit dem wahren Krieg, mit brennenden Dörfern, erschlagenen Männern und Frauen, mit Heldengräbern und jenen entsetzlichen, von weißen Stieren gezogenen, kreischenden Karren, die mit Leichen gefüllt waren. So schlug der Krieg wie der Blitz in eine Kapelle, in mein dichterisches, allerdings seit jeher skeptisches Gemüt.“


Im Ersten Weltkrieg als Anarchist inhaftiert, arbeitete Otten während der Weimarer Republik als Redakteur und Autor in Wien und Berlin. Mit Beginn der NS-Zeit flüchtete er ins Exil zunächst nach Mallorca und 1936, nach dem Franco-Putsch, weiter nach London. 1958 kehrte der in Deutschland 1936 ausgebürgerte Otten, der seit 1947 die englische Staatsbürgerschaft besaß, auf den Kontinent zurück und lebte bis zu seinem Tod im schweizerischen Locarno.

Die in der Anthologie zusammengetragenen Materialien, namentlich die Briefe an Zeitgenossen wie Gottfried Benn, Alfred Döblin oder Armin T. Wegner, vergegenwärtigen zum einen, dass sich Otten nach dem Zweiten Weltkrieg wie kein zweiter als produktiver Herausgeber um das Vermächtnis des von den Nazis verfemten Expressionismus verdient gemacht hat. Sein Engagement erscheint umso eindrucksvoller, wenn man sich vor Augen hält, dass Otten seit 1944 erblindet war und nur mit der großen Hilfe seiner Frau Ellen überhaupt weiter publizieren und brieflich korrespondieren konnte.

Zum anderen, und auf diesen Aspekt legt die Anthologie gleichfalls überzeugend Gewicht, ist mit Otten keineswegs ein Autor ins literarische Bewusstsein (zurück) zu rufen, der sich nur in eine, nämlich die expressionistische, Schublade stecken ließe. Vielmehr wartet hier ein Werk mit einer großen stilistischen und thematischen Bandbreite auf: Bücher wie „Die Reise durch Albanien“ (1913), der Entwicklungsroman „Prüfung zur Reife“ (1928) oder der im spanischen Bürgerkrieg angesiedelte Roman „Torquemadas Schatten“ (1938) sind ebenso dokumentarisch wie autobiografisch gefärbt. Sie bestechen durch zeitgeschichtliche Bezüge und bezeugen ein ausgeprägtes soziologisches Interesse, das, wie Enno Stahl andeutet, durchaus in Korrelation zu Ottens eigener „Unterschichtsozialisation“ gesehen werden kann. Übrigens: Wie selbstverständlich grenzüberschreitend, heute würde man sagen „europäisch“, Otten seine wache Zeitgenossenschaft verstand, weiß auch, wer G. W. Pabsts Bergarbeiterdrama „Kameradschaft“ kennt, denn Idee und Drehbuch zu diesem frühen Meisterwerk des deutschen Tonfilms lieferte Karl Otten.


Das Karl Otten Lesebuch, zusammengestellt und mit einem Nachwort von Enno Stahl. Köln: Bücher der Nyland-Stiftung 2007 (Nylands Kleine Rheinische Bibliothek, Band 1). 160 S., 8,50 Euro