„Den Tod konstatiere ich nicht!“ lautet Goethes berühmtes Diktum gegen die Darstellung des Todes in der Kunst. Und doch läßt sich der Tod weder aus dem Leben noch aus Kunst und Literatur heraushalten, schon gar nicht aus einem Buch über das Alter, ein Thema, das gerade in jüngster Zeit im medialen Getriebe omnipräsent zu sein scheint. Doch wird dort nur die äußere Hülle diskutiert, die politischen und ökonomischen Probleme. Das wahre Signum des Alters ist aber das Bewußtsein von der Annäherung an den Tod, vom langsamen Verschwinden jener Verkleidungen, unter denen wir unser Wissen um das Ende verbergen. Um es vorweg zu nehmen: Ingrid Bachér, der seit vielen Jahren in Düsseldorf lebenden Autorin solch bedeutender Bücher wie „Das Paar“ oder „Woldsen“, ist ein eindringliches, ein anrührendes Buch gelungen, ein Buch, das gar nichts hat von der Harmlosigkeit der jüngeren deutschen Literatur, das den Leser fordert, ihm Anstrengung abverlangen, ihn „erschüttern“ will und sich so würdig einreiht in die lange Liste der Bücher zum Thema „Alter“ von Cicero bis zu Jean Améry.
Der Text besteht aus einem Netz von Tagebuchnotizen, gespannt zwischen dem 10. Juli und dem 31. Dezember 2001, niedergeschrieben in einem italienischen Ferienhaus, im Düsseldorfer Arbeitszimmer und in Lübecker Hotels. Die unterschiedlichen Orte sorgen für sehr verschiedene Stimmungen und Beleuchtungen. Das öffnet den Text genau wie der beständige Wechsel der Sprachebenen, das Schwanken zwischen kunstvoll gerundetem Sprechen und flüchtigen Notaten. In ihrem Ernst und ihrer Schlichtheit geradezu ergreifend sind die Berichte über das Sterben der Eltern. Und doch wird der Leser auch an solchen Stellen daran erinnert, daß es sich um literarische Glanzpunkte handelt. Das Tagebuch hat den trügerischen Ruf, eine besonders subjektive Gattung zu sein: es führt scheinbar sehr nah heran an die Person der Erzählerin, so nah man eben kommen kann. Auch dem Tod nähern wir uns im Alter, umkreisen ihn mit Gedanken und Worten, und doch bleibt eine unüberbrückbare Distanz. Schon die Form spiegelt so auf kunstvolle Weise das Thema und erinnert sofort daran, daß wir uns auf dem Gebiet der Literatur befinden, ohne daß es deshalb allzu feierlich würde. Wohl fallen für den Leser immer wieder nachdenkenswerte Sentenzen und Aphorismen ab, doch ist dies mehr ein offenes Spiel mit diesem typischen Kennzeichen des Altersstils. Überhaupt wird Unmittelbarkeit des Erlebens ständig zitiert und zugleich gebrochen, auch durch Reflexe auf Geschichte und Bildung (wichtig hier: die Begegnung mit der etruskischen Kultur), durch Lektüre und Träume, durch Spiegelungen des eigenen Alterns in dem der Freunde und Nachbarn, den Einbruch des aktuellen Tagesgeschehens in den privaten Raum (der Schrecken des 11. Septembers fällt in diese Zeitspanne), vor allem aber durch die Erinnerung.
Sie ist es, die den Zusammenhang stiftet zwischen den Textfäden dieses Buches, zwischen den Zeiten und Orten, die das anwesende mit dem abwesenden Personal, Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet. Um Nähe und Intensität von Erinnerung geht es dieser Tagebuchschreiberin, die zunächst unschlüssig ist, ob sie sich der Wirkung der realen Orte ihrer Kindheit aussetzen soll, weil sie fürchtet, daß Vorstellung und Realität so gar nicht mehr zusammen gehen. Und dann bricht sie doch auf in ihre Geburtsstadt Lübeck, besucht die vertrauten und so sehr veränderten Orte, weicht der Sturzflut von Eindrücken nicht aus, vervielfältigt sie noch durch einen Besuch im Archiv. Ihr Leben erscheint ihr jetzt als das Auftauchen aus einem großen Strom, in den sie bald wieder eintauchen wird. Diese beiden Bewegungen des langsamen Auf- und Abtauchens, Kindheit und Alter, werden in diesem Akt des Erinnerns zusammengeschlossen. Erst danach ist sie bereit, den Übertritt in das Alter tatsächlich zu akzeptieren und bilanziert nüchtern: „Die Grenze zum Land, in dem ich früher lebte, hat sich hinter mir geschlossen. Ich bin im Alter angekommen. Ich richte mich ein, aber nicht auf Dauer.“
Ingrid Bachér: Sieh da, das Alter. Tagebuch einer Annäherung. Köln: Dittrich Verlag 2003, 191 S., Euro 17,80