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Jochen Grywatsch (Hg.): Aribert von Ostrowski: Droste (Second sight)

Rezensiert von Cornelia Ilbrig

Nach einem ersten Blick in die “Wunderkammer” handelt das zweite Kapitel (S. 11) von deren Schauplatz und Spielort, Haus Nottbeck. Das dritte Kapitel (S. 11-13) ist der Person gewidmet, die im Zentrum von Ostrowskis Ausstellungsprojekt steht: Annette von Droste-Hülshoff. Dabei ist es Grywatsch ein Anliegen, den Leser auf den “anderen”, den dekonstruktivistischen Blick auf die Droste einzustimmen: Im Ledwina-Fragment zerfließt Ledwinas Spiegelbild – aufgrund der Bewegung des Wassers – in seine Bestandteile: eine hinreichende Grundlage für Assoziationen mit dem Ich-Konzept des französischen Dekonstruktivisten und Psychoanalytikers Jacques Lacan, auf dessen “Spiegelbild-Philosophie” Grywatsch hier griffig und gut verständlich eingeht.

Um Ostrowskis Droste-Projekt, seine Techniken und um den “Gedankenkosmos” Ostrowskis geht es folgerichtig auch in den Kapiteln 4-6 (S. 13-17). Um den Zugang zu den weiteren Serien, vor allem jener zu der mantis religiosa, zu erleichtern, schickt Grywatsch Erläuterungen zu den namentlich auftretenden Philosophen Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche und Karl Marx voraus. Er bezieht sich auf jene Aspekte, die in den mantis-religiosa-Serien eine Rolle zu spielen scheinen: das Unbewusste als wichtiger Faktor der Persönlichkeitsentwicklung (Freud), die Wahrheitsproblematik, über die Nietzsche in seinem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn reflektiert, sowie der Mensch als gesellschaftliches und politisches Wesen (Marx), der aber eben darauf nicht reduziert werden kann. Im siebten Kapitel (S. 17-19) nun kommt Grywatsch auf den Komplex der mantis religiosa zu sprechen. Die Gottesanbeterin durchläuft – ausgehend vom Stadium eines nachdenklichen Melancholikers – verschiedene Entwicklungsstadien der Selbstbespiegelung, Suche, Anpassung, Abgrenzung und Aneignung: Bei den Theorien Freuds, Nietzsches und Marx’ sucht sie nach einer Lebensform, passt sich an, distanziert sich. Grywatsch beschreibt die Serien folgendermaßen: “Die Gottesanbeterin tritt auf im Kreislauf des Lebens, in Zeitabläufen, in Prozessen der Selbstbespiegelung, in Kontakt mit der Außenwelt, der Welt der Objekte.” (S. 18) Die Linienknäuel, die das Unsagbare und die Verwirrungen beschreiben, denen die Gottesanbeterin bei ihrer Suche ausgesetzt ist, sieht Grywatsch in “assoziativer Nähe” zu “Lacans Borromäischem Knoten, in dem er die Bestandteile der Psyche verbunden sieht und sogar zu Nietzsches Bild der Wahrheit als Metaphernwand” (S. 18).

AvO_Gottesanbeterin.jpg

o.T. (27.10.05) mantis religiosa A30/33, 2005

Siehe Ausstellungskatalog, S. 48

Vor allem durch das Zusammenspiel von Bildern und Texten kommunizieren Ostrowskis Zeichnungen auf verschiedenen Ebenen. Grywatsch gelingt es in seinen Erläuterungen, diese Ebenen zu erfassen und zusammenzuführen: Er beschreibt anschaulich die Bilder selbst und erzählt dabei eine spannende Entwicklungsgeschichte des Ichs unter Rückgriff auf Traditionen der europäischen Geistesgeschichte. Dabei nimmt er dem Rezipienten keineswegs die eigenen Betrachtungen ab, sondern liefert durch seine Erklärungen Ansätze zur weiteren Auseinandersetzung sowohl mit den Bildern als auch mit Annette von Droste-Hülshoff.


Auf diese rekurriert er im achten Kapitel (S. 19f.), indem er seine Beschreibung der mantis-religiosa-Serien an die Droste und ihr Werk, vor allem die Haidebilder, rückbindet: “Auf schwankendem Boden entfaltet sich ein diffuses Zwischenreich von Tag und Nacht, in dem nichts mehr Bestand hat. Ehemals vertraute Verhältnisse sind erschüttert, die Wahrnehmung ist verunsichert, der feste Boden ist verloren. Es geht – und hier drängt sich der Vergleich zu Ostrowskis vielfach gestalteter Gottesanbeterin auf – um den unausweichlichen Prozess der Veränderung, des Wechsels, um die Transformation und darum, wie das Ich, das Individuum seinen Platz definieren kann.” (S. 19f.)


Im neunten Kapitel (S. 20-24) dann geht Grywatsch weg von Identitäts- und Subjektfragen hin zur gesellschaftlichen und geschichtsphilosophischen Problematik. Dies ist nur folgerichtig: Stand zuvor die Einheit des Ich-Konzepts in Frage und zur Debatte, geht es jetzt um die einheitlich-lineare Entwicklung in der Geschichte, einen zentralen Aufklärungsgedanken: also um Fortschritt und um die Emanzipation des Individuums und der Menschheit. Der Hintergrund dieser Zeichnungen ist durchweg in ‚aufgeklärtem’ Universalbibliotheks-Gelb gehalten. Dieses wird kontrastiert durch die Symbolik von der industriellen Revolution bis hin zum Nationalsozialismus. Deshalb verortet Grywatsch die Bilder in der aufklärungskritischen Postmoderne, indem er auf Lyotard und seine Rede vom “Ende der großen Erzählungen” verweist (S. 20) sowie auf die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno. Diese spielt dann auch in den Kapiteln 10 und 11 (S. 24-28) eine Rolle: Kontraste und Widersprüche charakterisieren die Zeichnungen, die hier vermittelt werden – Kontraste zwischen der Aufklärung/Romantik und dem Nationalsozialismus, zwischen dem Humanitätsgedanken der Klassik und den Verbrennungsöfen von Auschwitz, der Widerspruch zwischen hoher Kunst und dem Verbrechen.

AvO_Wenn_Du1.jpg

o.T. (06.01.06), Nr. 2, aus: Droste (Second sight) / heiĂź, heiĂź

der Sonnenbrand, 1-5, 2006

Siehe Ausstellungskatalog, S. 26

Auch hier wieder weckt Grywatsch mit seinen Erläuterungen die Neugierde der Rezipienten: Ausgehend von Ostrowskis Bildern legt er Akzente auf Fragen, die von der individuellen Problematik der Identitäts- und Sinnsuche über eine geschichtsphilosophische Thematik bis hin zum konkreten Problem unserer Vergangenheitsbewältigung reichen. Der Katalog ist eine vollends gelungene Anregung zur Auseinandersetzung mit Ostrowskis Kunst, mit der Droste und weiterführend auch mit Fragen unserer Existenz. Grywatschs Erläuterungen setzen keinen Schlussstrich, sondern werfen Fragen auf und schaffen “produktive Leerstellen” (S. 11). Mit seiner Zusammenführung von Bild, Text und Musik stellt damit der Katalog zu Ostrowskis Ausstellungsprojekt Droste (Second sight) einen Dialog zwischen den Künsten und mit den Rezipienten dar, denn die spannenden Sinnbezüge regen zum genaueren Betrachten und Zuhören ebenso an wie zum Weiterdenken.


Aribert von Ostrowski: Droste (Second sight). Eine Ausstellung im Museum für Westfälische Literatur. Kulturgut Haus Nottbeck. Bielefeld: Aisthesis 2007, 64 S. mit CD.


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