Lesesaal > Rezensionen > Beitrag
Weitere Beiträge
  • Generation 39: Judith Kuckart: Kaiserstraße

    Rezensiert von Walter Gödden
    [27.12.2017]
  • Inventar des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts

    Rezensiert von Jochen Grywatsch
    [22.12.2017]
  • Befiehl dem Meer!

    Ludwig Homann folgt in seinem neuen Roman vertrauten Spuren. Und doch ist ein ganz anderes Buch dabei heraus gekommen.
    [22.12.2017]
  • Thomas Kade: Körper Flüchtigkeiten

    Rezension von Michael Starcke
    [02.12.2017]
  • Rezensiert von Kerstin Dümpelmann
    [01.12.2017]
  • Die Arschlöcher waren draußen

    Martin Willems über den Bildband
    [26.11.2017]
  • Herznähe bringen

    Michael Starcke über den neuen Gedichtband
    [07.11.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

Markenzeichen Maskerade. Neue Erzählungen von Jürgen Noltensmeier

Rezensiert von Walter Gödden

„Wunderbare Geschichten von Gestörten. Danke Jürgen“, lesen wir auf dem Buchrücken. Und schon sind wir mittendrin im Erzähl-Universum Jürgen Noltensmeier, in dem alles so schräg zugeht wie im wirklichen Leben.

Haben wir es nicht immer schon gewusst? Jürgen Noltensmeier hat uns mit seinem Debütroman „Geburtenstarke Jahrgänge“ (Kiepenheuer und Witsch 2002) mächtig aufs Glatteis geführt. Oder sollte man sagen: Er hat ein besonderes Talent dafür, seine Geschichten – denen man zu gern einen autobiografischen Kern entlocken möchte – auf eine ganz spezifische Art und Weise zu Ende zu denken?

Nur zu gern erinnern wir uns an jene „schmutzigen Geschichten“, in denen Noltensmeier vier rotznasige Lümmel ins Rennen: sprich in die Trostlosigkeit eines lippischen Dorfes schickt, um dort ihren aberwitzigen Schabernack zu treiben. Seitdem wissen wir, dass der Schrecken dieser Welt einen Namen hat: Kalletal. Dort ist Bildung nur sprichwörtlich bekannt: „Schiller sagt zu Goethe, du bist ’ne alte Tröte“. Das wirkliche Leben beweist sich anderswo. Prall und gnadenlos auf so berüchtigten Tatorten wie Schützenfesten und Saufpartys, so schrieb der Westfalenspiegel etwa: „Unterm Strich wird der Lippischen Provinz gnadenlos, aber nicht ohne Sympathie der Garaus bereitet. So dreist und unbekümmert ist wohl selten das „Sittenbild“ einer Landschaft gezeichnet worden. Ein schnodderig-schönes Stück Schelmenliteratur heutiger Tage.“

Auch in seinem neuen Story-Band „Tweedhosen-Astronaut“ erzählt Noltensmeier komisch, lakonisch und tragisch zugleich. Seine Episoden sind auch weiterhin schräg, schrill und verstörend. Und doch ist etwas anders. Denn der autobiografische Faden wird mehr und mehr verlassen. Die Schraube wird eine weitere Drehung angezogen. Nämlich dann, wenn das Geschehen ins Surreale und Phantastische abdriftet.

Fühlt sich der Leser düpiert ob soviel nassforscher Willkür und Übermut? Keineswegs. Er erfreut sich daran, wenn der Autor so richtig in Fahrt kommt und sich, wie es im Klappentext heißt, im grotesken Irrsinn verlieren, „von dem wir immer befürchtet und gehofft haben, dass er den Dingen innewohnt“. Und genau dann ist Noltensmeier ganz in seinem Element und weiß die Leser bzw. Zuhörer - die Storys sind zigfach live performed – auf seiner Seite. Das Schöne daran: Er spekuliert nicht auf den lauten Lacher und schnellen Effekt, sondern überrascht mit lang andauernden Spannungsbögen, die überraschende Wendungen nehmen. Der Leser bleibt bei der Stange - und verblüfft zurück.
Noltensmeiers Markenzeichen ist die Maskerade. Und so besitzen auch seine Geschichten ein stets anderes, schillerndes Kostüm. Sie sind - wie erwähnt - , hundertfach bühnenerprobt, will sagen: die Pointen sitzen.

Man kann sich vorstellen, dass Noltensmeier einmal großer Erzähler wird. Er hat das Talent dazu, den Mut und eine Portion Selbstironie, die auch nicht schaden kann. Außerdem tummelt er sich in einem Milieu, das offensichtlich hinreichend Vitalität und Inspirationskraft abwirft. Für den Herbst 2006 ist Noltensmeiers zweiter Roman bei Kiepenheuer und Witsch angekündigt. Wächst hier ein Konkurrent des Kultautors Sven Regener heran?

Jürgen Noltensmeier wurde 1965 im ostwestfälischen Kalletal geboren. Er lebt und arbeitet heute in Leipzig. Von 1987 bis 1993 studierte er Illustration an der Freien Hochschule für Gestaltung, Hamburg. Anschließend nahm er bis 1995 ein Stipendium für den „Master of Fine Art“ an der Glasgow School of Art wahr. Von 1995 bis 1999 ging er in Berlin verschiedenen Tätigkeiten nach, unter anderem als Nachtrichtenredakteur, Mal- und Zeichenlehrer, Illustrator, Maler und Tanzmusiker. Er erhielt mehrere Kunstpreise. Noltensmeier ist Mitinitiator der Liv-Ullmann-Show und anderer Literaturshows, u.a. „Noltens my yeah“, „Die Profis“, „Lipsi Lounge“ und „Lancaster Let Show“; in Hamburg, Leipzig und on Tour. Dem Buch ist eine Audio-CD beigegeben, auf der der Autor vier Erzählungen des Bandes liest, drei davon live. Dort ist er auch musikalisch zu vernehmen, als Gitarrist des Adornoduos. Nichts ist heilig auf dieser Welt. Und das ist gut so.

Tweedhosen Astronaut ist sograde in dem noch jungen Verlag Volant und Quist erschienen. Der bebilderte Band (mit Fotos von Live-Auftritten des Autors) enthält zwölf Erzählungen und umfasst 136 Seiten. Buch und CD kosten 11,80 Euro. ISBN 3938424052.