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Ruhr 2010 – eine Bücherschau

Das Kulturhauptstadtjahr im Rückblick. Was bleibt unterm Strich für die Literatur? Der Versuch einer Bilanz von Walter Gödden

Ein ganzer Stapel Bücher ist zum Metropolenjahr 2010 erschienen und es wird höchste Zeit, ihn abzutragen. „Carpe diem!“ mag sich mancher Autor, Herausgeber und Verlag gedacht haben, nutze die Gunst der Stunde. Und siehe da, niemals zuvor sind in einer so kurzen Zeitspanne so viele Ruhrgebiets-Bücher erschienen wie in diesem Jahr. Welche Akzente setzen die neuen „Ruhri“-Bücher?

Noch bevor Ruhr 2010 seine Tore öffnete, erschien mit „Schreiben in der Metropole Ruhr“ so etwas wie ein literarischer Kompass des Reviers. Das Buch ist ein Remake. Schon 1974 stellte Hugo Ernst Käufer unter dem Titel „Sie schreiben zwischen Moers & Hamm“ Ruhrgebietsautoren mit bio-bibliographischen Daten und Textauszügen vor. Der Vergleich beider Kompendien dokumentiert den Wandel, der sich seitdem vollzogen hat. Von den 43 Autoren der 1974er-Dokumentation hat es nicht ein einziger(!) ins neue Nachschlagewerk geschafft. Was natürlich nicht bedeutet, dass Autoren wie Josef Reding oder die Herausgeber des Kompendiums Hugo Ernst Käufer und Volker W. Degener inzwischen literarisch verstummt sind. Die Namensauffrischung geht vielmehr darauf zurück, dass – auch aus Platzgründen – ausschließlich Autorinnen und Autoren berücksichtigt wurden, die nach 1945 geboren wurden. Dies führt in der Konsequenz zu einer größeren thematischen Bandbreite. Während die frühere Dokumentation eine halbwegs homogene thematische Einheit bildete, überwiegt nun das Heterogene – bis zum Pop-Roman eines Wolfgang Welt, den Glossen des Kabarettisten Frank Goosen oder den Poetry-Slam-Texten eines Sebastian Rabsahl (aka Sebastian 23). Unterm Strich ist der Meinung der Herausgeber zuzustimmen, dass die Literatur an der Ruhr ebenso vital wie vielfältig sei. Erfreulich: Der Band nennt die Kontaktadressen der Autoren. Feedback ist ausdrücklich erwünscht.

Das Ruhr.Buch.

Von den Autoren der genannten Anthologie treffen wir im „Ruhr.Buch“ nur Frank Goosen wieder. Die Binnenperspektive wird ergänzt durch den Blick in die Historie und auswärtigen Stimmen über das Ruhrgebiet. Der weltoffene Blick ist Programm. Das gilt auch für die beiden Herausgeber, Gregor Gumpert noch Ewald Tucai, die, beide in Berlin ansässig, sich dem Thema ohne Scheuklappen und Ressentiments näherten.
In einer Rezension wurde das „Ruhr.Buch“ treffend als „Sampler“ bezeichnet. Denn alles ist – in postmoderner Manier – bunt durcheinander gemischt: Geschichte und Gegenwart, literarische Epochen und Genres (Pop-Song, Kabarett, Ballade, Erzählung, Romanauszug...). Ein Rezensent fragte rhetorisch: „Welche Anthologie kann von sich behaupten, solch gegensätzliche Autoren wie Hermann Löns und Jürgen von Manger, Anna Seghers, Helge Schneider und Ernest Hemingway in einem Buch zu vereinen?“ Die Vielfalt lässt auf der anderen Seite die Perlen um so deutlich hervorscheinen. Es sind die Texte von Marion Poschmann und Ralf Rothmann, die mit einfühlsamer Sprache eine harte, unter dem Strich aber doch schöne Jugend im Ruhrgebiet der 1950er und 1960er Jahre Revue passieren lassen.
Den Beginn der „eigentlichen“ Ruhrgebiets-Literatur setzen die Herausgeber mit der Gründung der Dortmunder Gruppe 61 an. Von da an ließen sich über zwei Jahrzehnte hinweg Gemeinsamkeiten feststellen: „Es ist eine Literatur der Arbeitswelt, dokumentarische und Reportage-Literatur, es sind sozialkritische und teils auch kapitalismuskritische Texte.“ Repräsentativ für jüngere Texte sei häufig „der autobiographische Rückblick auf Kindheit und Jugend im Revier“. Im Ruhrgebiet sei zwar keine Großstadtliteratur im Sinne von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ anzutreffen. Aber es gäbe Romane, die kennzeichnend seien für die Lebenswelt des Ruhrgebiets. Ein Beispiel hierfür sei Max von der Grüns Roman „Irrlicht und Feuer“ aus dem Jahre 1963.
Das zeitliche Panorama reicht von einem Auszug aus dem „Nibelungenlied“ bis zu Texten Florian Neuners, Jahrgang 1972 und Österreicher. Im Nachwort rekurriert Gregor Gumpert auf ein 50 Jahre altes Diktum Heinrich Bölls, demzufolge das Ruhrgebiet noch nicht entdeckt worden sei, was Nikolas Born später auf die Literatur münzte: "Das Ruhrgebiet ist noch immer für die Literatur ein unentdecktes Land". Solche Einschätzungen seien heute revisionsbedürftig, wie die Herausgeber betonen: „Die Literatur des Ruhrgebiets entfaltet Außenwirkungen, und zwar wie nie zuvor.“ Aufs Hauptstadtjahr angesprochen, antworteten die Herausgeber: Man erweise sich einen Bärendienst, wenn man auf Gedeih und Verderb „auf Metropole mache“. Das „Ruhr.Buch“ ist keine Image-Lobeshymne auf das Revier, sondern eine ehrliche Bestandsaufnahme. Es erklärt „warum das Ruhrgebiet heute ist, was es ist. Aber auch: Warum man es lieben muss“ (Sarah Meyer-Dietrich).

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