Dieser Sammelband vereinigt die Referate einer Tagung, die aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern stattfand. In vier Abteilungen geht es um verschiedene Aspekte des Umgangs mit den Quellen - wobei der Begriff in diesem Band das ganze Spektrum seiner Bedeutungen entfaltet: von ganzen Nachlässen und einzelnen Handschriften bis hin zu punktuellen Lektürespuren im Werk eines Autors und Dokumenten zu seiner Biographie. In der ersten Abteilung erläutern vier erfahrene Literaturwissenschaftler aus verschiedenen Ländern ihre Perspektive auf das Problem, wobei zugleich nationale Unterschiede anklingen. Der Franzose Antoine Compagnon, Proust-Herausgeber, schwärmt von der Lust des „Quellenjägers“, der durch das Aufdecken von intertextuellen Bezügen und Anregungen gewissermaßen Teilnehmer wird am schöpferischen Prozeß. Seit Gustave Lanson liegt hier ein Hauptinteresse der französischen Philologie. Demgegenüber sieht Maria Antonietta Grignani in der italienischen Tradition die strukturellen Beziehungen zwischen Text und Quelle im Vordergrund. Sie plädiert, genau wie Compagnon, für eine Vermittlung der beiden Ansätze. Wendelin Schmidt-Dengler geht es in seinen eher kursorischen Betrachtungen nicht um die philologische Quellenarbeit im Detail, sondern um die institutionellen Rahmenbedingungen, die er am Beispiel der Entstehung und Arbeit des Österreichischen Literaturarchivs erläutert. Solche Rahmenbedingungen haben meist wenig zu tun mit hehren wissenschaftlichen Prinzipien, sondern mit Föderalismus (Verhältnis Regionalarchive - Zentralarchiv), mit Geld, mit persönlichen Beziehungen. Erst solche Überschreitung des universitären Rahmens in Richtung Lebenswirklichkeit durch das Archiv und seine Mitarbeiter legte, so betont Schmidt-Dengler zu Recht, den Grund dafür, daß die Quellen der österreichischen Gegenwartsliteratur und damit eine angemessene Forschung gesichert werden konnten. Aufschlußreich auch sein Hinweis darauf, daß sich in Österreich „die Forschung zusehends von den Universitätsinstituten weg hin zu den Literaturarchiven verlagert“, ein Vorgang, der zumindest im Bereich der Editionen auch in Deutschland zu konstatieren ist. Mit dem Quellenverständnis der deutschen Philologie beschäftigt sich der vom essayistischen Charakter seiner Vorgänger durch Umfang und Gestus deutlich unterschiedene Beitrag von Wolfgang Pross. Er stellt ein weiteres Mal die Frage nach dem Werkbegriff in der Tradition der deutschen Literaturwissenschaft. Die für sie charakteristische hermeneutische Methode mit ihrer Bewegung zwischen individueller und allgemeiner Perspektive schlägt bis auf die Editionspraxis im einzelnen durch - Stichwort: „Autorwille“ - und begründete auch die wertende Unterscheidung von Text als „Werk“ und Text als bloße Vorstufe. Genau dieses Problem steht seit nunmehr 30 Jahren im Zentrum der Diskussion der deutschen Editionsphilologie und hat seinen Niederschlag in einer Fülle von Kolloquien, Sammelbänden (etwa denen von Winfried Woesler u.a. herausgegebenen) und Einzeluntersuchungen (etwa von Herbert Kraft) gefunden. Merkwürdig, daß diese Diskussion im Beitrag von Pross und in der umfangreichen Literaturliste mit keinem Wort Erwähnung findet.
Diese vier einleitenden Beiträge stecken einen weiten Rahmen ab, der in den folgenden zwölf Referaten auf sehr unterschiedliche Weise gefüllt wird. Stets von eigenen Erfahrungen im Umgang mit Quellen und einem konkreten Fallbeispiel ausgehend, dabei teils systematisch, teils mehr anekdotisch verfahrend und entsprechend von sehr unterschiedlicher theoretischer Fundierung, geben sie einen guten Eindruck von der Vielfalt und Buntheit des Problemfeldes. Im einzelnen geht es um die wohlverstandenen Interessen von Dichterwitwen und deren Einfluß auf die Edition (Ulrich Ott) ebenso wie um die Versuche wohlmeinender Herausgeber zur „Verbesserung“ von Texten (ein schönes Beispiel aus dem rätoromanischen Sprachraum bringt Clà Riatsch); es geht um konkrete Editionsprojekte, wie etwa die historisch-kritische Gottfried Keller-Ausgabe, deren Plan Walter Morgenthaler vorstellt oder die exemplarische und höchst anspruchsvolle textgenetische Rekonstruktion von Friedrich Dürrenmatts „Stoffe“ (Ulrich Weber und Rudolf Probst); schließlich um die äußerst spannende Frage, ob die seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer dichter werdende Quellenlage das Schreiben von Dichterbiographien wirklich erleichtert und dieser steigende Quellenreichtum sich proportional verhält zur Annäherung an die beschriebene Figur (Daniel Madelénat).
Die Beiträge sind ein Beleg dafür, wie die Schmidt-Denglersche Beobachtung von einer teilweisen Verlagerung der Forschung aus den Instituten in die Archive in allen hier zur Wort kommenden Ländern bereits Realität ist. Abgeschlossen wird der sorgfältig redigierte Band, der die Lektüre der in drei Sprachen verfaßten Texte durch kurze Zusammenfassung in Französisch bzw. Deutsch erleichtert, von einem wie stets nützlichen Namensregister, leider immer noch keine Selbstverständlichkeit bei literaturwissenschaftlichen Untersuchungen und hier wohl auch ein Zeichen für die „archivische“ Verwurzelung der Gesamtunternehmung.
Vom Umgang mit literarischen Quellen. Internationales Kolloquium vom 17.-19. Oktober 2001 in Bern/ Schweiz. Hrsg. von Stéphanie Cudré-Mauroux, Annetta Ganzoni und Corinna Jäger-Trees. Genève - Bern: Éditions Slatkine - Archives littéraries suisses 2002, 306 S.