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„Wenn du dich diesem Orte nahest“ –

19 Gegenwartsautorinnen und Autoren schreiben Annette von Droste-Hülshoffs „Judenbuche“ weiter

Wäre es nicht reizvoll, darüber zu spekulieren, wie sich die Droste im heutigen Literaturbetrieb geschlagen hätte? Wäre sie vielleicht sogar eine ernsthafte Kandidatin für den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis gewesen? Oder würde ihr Werk – wie zu ihren Lebzeiten – als „merkwürdig“ und „unverständlich“ abgelehnt?

Die „Judenbuche“ hätte wohl die größten Chancen, auch heutige Leser anzusprechen. Der Text ist spannend geblieben, „rumort“ im Kopf weiter wie ein Krimi. Nicht nur das. Durch seine offene Struktur animiert der Text auch zur künstlerischen Ausgestaltung – in der bildenden Kunst wie in der Literatur.
Die Autorinnen und Autoren der vorliegenden Anthologie „So wie du mir“ haben sich diese Deutungsvarianz produktiv zunutze gemacht. Sie sind vor der „Meisternovelle“ nicht vor Ehrfurcht erstarrt und ohne Scheuklappen an den Text herangegangen. Das in den Beiträgen entworfene zeitliche Spektrum reicht vom 18. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, mal aus der Globalperspektive, mal aus Sicht Friedrich Mergels, mal aus der Johannes Niemands. Manche Beiträger schließen unmittelbar an die historische Fabel und die Bearbeitung der Droste an, andere suchen einen freien, assoziativen Zugang.

In formaler Hinsicht reicht die Bandbreite vom dokumentarischen Bericht über den inneren Monolog, fiktive briefliche Zeugnisse, einem Romanauszug bis zur Lyrik und Drehbuchadaptation. Es überwiegt jedoch – was naheliegt – das Genre der Kriminalerzählung. Michael Weins „Das Loch“ ist eine Traumgeschichte mit ausufernden surrealen Gedankenketten, die uns nichts anderes sagen will als: Die Kausalität dieser Welt ist das eine, das Unvorhersehbare, Unberechenbare das andere: „es gibt nur dieses matte Tappen im Dunkeln.“ Carlo Schäfer („Ich dich auch“) macht ernst mit der Fragwürdigkeit der Erzählperspektive. Wir vertrauen zunächst dem Erzähler, bis wir gewahr werden, dass er an Hirngespinsten leidet und in einer Psychiatrie einsitzen musste. Das von ihm Mitgeteilte widerspricht den Tatsachen eklatant. Karin Irshaid steuert einen beschwörenden, magischen Text bei, der dem Wald mythische, zerstörerische Kräfte zuspricht.

Tanja Dückers umspielt Elemente des Textes. Während uns ein Erzähler Belangloses über seine musikalische Karriere erzählt, erfahren wir das wirklich Relevante (Zeithistorisches, Verdrängung von Schuld durch vorgeschobenen Pragmatismus) in Nebensätzen. Auch bei ihr kommt ein Friedrich vor (der in Russland gefallen ist; bei Sabine Ernst heißt die Hauptfigur Fritz, bei Mechthild Borrmann zeitgemäßer Frederik). In Hugo Dittbergers sensiblem Protokoll der Begegnung eines Einheimischen mit dem jüdischen kanadischen Arzt, George Bloom, der in hohem Alter noch einmal die Stätten seiner Jugend aufsucht, spürt man aus jeder Zeile das beklemmende Gefühl heraus, das die Generations-, Kultur-, und Glaubensdifferenz auslöst. Dies sind allesamt beeindruckende Antworten auf einen Text, dem hier auch in formaler Hinsicht Neues entgegengesetzt wird.

Darüber hinaus gibt es weitere Gemeinsamkeiten. Das Moment des Schicksalhaften (wie er von dem hebräischen Spruch an der Judenbuche „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast“) prophezeit wird, spielt wiederholt eine Rolle. Damit zusammenhängend erscheint die Judenbuche mehrfach als „magischer Ort“, dessen Einfluss sich die Protagonisten nicht entziehen können. Eine weitere thematische Verwandtschaft besteht hinsichtlich psychologischer Fragestellungen (Zwillingsforschung, Ödipus-Komplex, Motiv der ungleichen Freundschaft, Aberglaube, Gespensterglaube). Mehrfach wird das Geschehen in die Zeit des Nationalsozialismus transformiert und die Verfolgung und Ermordung der Juden zum Hauptgegenstand. Oder das Geschehen wird in ein heutiges prekäres Milieu verlagert (Klaus-Peter Wolf, Friedrich Ani) und – in Analogie zu Friedrichs Mergels Sozialisation – gezeigt, wie Jugendliche unverschuldet auf die schiefe Bahn geraten. Immer wieder klingt der hämische Druck der Öffentlichkeit/Dorfgemeinschaft an, der einhergeht mit Verschweigen, Vertuschen, (Mit)Schuld, Lüge, Wahrung des „guten Tons“. Bei Doris Gercke und Mechthild Borrmann wird das Thema Rassismus kontextualisiert.
Zu erwähnen sind ferner jene Texte, die sich weitgehend von der Folie gelöst haben und bei denen inhaltliche Korrespondenzen zur Vorlage nur sehr indirekt zu erkennen sind. Wenn, wie bei Tanja Dückers, das Holz, das die Holzfäller stehlen, in Korrespondenz tritt zum Holz eines Harmoniums, das man von verschleppten und später ermordeten Juden für einen Spottpreis erworben hat, ist das nur ein Beispiel für das erzähltechnische Raffinement, das in vielen Beiträgen zum Vorschein kommt.

Bei Willi Voss und Helmut Opitz erlangt der Zufall eine besondere Bedeutung. Judith Kuckarts Beitrag deutet in Analogie zu Friedrich Mergels Jugend an, wie ein Unschuldiger verführt und dadurch zu einem anderen Menschen wird. Bei Jenny Erpenbeck ist das (mit Überraschungen aufwartende) Erzählen vollends zum Selbstzweck geworden. Die Pointe („Erschossen hat er sich halt, sagt da die Maria“) lässt den Leser so perplex zurück wie den Leser der „Judenbuche“.
All dies zeigt die große Palette an Deutungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die die „Judenbuche“ eröffnet. Der Text animierte die Autorinnen und Autoren zu verwegenen Spekulationen. Einige Beispiele:

– auch Förster Brandis kommt als Mörder des Juden Soestman in Frage (Robert Hültner)
– Friedrich Mergel entpuppt sich gleichsam als Monster und hat drei Morde auf dem Gewissen (Stefan Brams)
– Friedrich Mergel hat Johannes Niemand umgebracht (Renate Niemann)
– Johannes Niemand hat Friedrich Mergel systematisch in den Tod getrieben (Stefanie Viereck)
– Friedrich ist das Kind Simon Semmlers und Margrets; Semmler hat seinen Vater Hermann umgebracht (Frank Göhre)

Die 19 Beiträger dieser Anthologie haben ihre Aufgabe sehr ernst genommen und den klassischen Status des Originals nicht als Ballast empfunden. Sie haben das Original dekonstruiert und nach eigenen Vorstellungen wieder neu zusammen gesetzt – Versuchsanordnungen und Planspiele, die einen eigenen Reiz bieten und Aspekte des „Urtextes“ neu zum Vorschein kommen lassen. Ein Experiment also, das als gelungen angesehen werden kann.
„So du mir“ schreibt frühere Sammlungen mit Widmungstexten an Annette von Droste-Hülshoff produktiv fort. Vielleicht sind solche Sympathiebekundungen der sichtbarste Beweis für die Modernität der Autorin – hier nicht wissenschaftlich-abstrakt zum Ausdruck gebracht, sondern im verwandten Sujet, von Du zu Du sozusagen.

Die Anthologie „So wie du mir“ erschien 2010 im Bielefelder Pendragon-Verlag.


Walter Gödden