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Adrian Kasnitz: Das endlose Archiv der LĂŒcken

Vortrag auf der Tagung „Wohin mit dem ganzen Papier“ des Rheinischen Literaturarchivs, Köln, 4. Dezember 2006

Wenn man sich dem Charakter von Archiven nĂ€hert, rĂŒckt zunĂ€chst die Frage Was ist ein Archiv in den Mittelpunkt. Den Sinn und Zweck von Archiven fasst Heiko Reisch wie folgt zusammen:

„Archiv bezeichnet seit dem 17. Jh. zunĂ€chst einen Aufbewahrungsort fĂŒr Dokumente, Akten, Urkunden und Zeitschriften. In metaphorischer Erweiterung der institutionellen AusprĂ€gung umfaßt das Archiv jegliche Einrichtungen, die eine Kultur ausbildet, um Schriftzeichen zu erfassen, zu erhalten und auszuwerten. Mit der Ausbildung neuer Medien wird der Begriff allerdings auch auf andere Speichersysteme ausgedehnt. Das Schriftarchiv erscheint neben Ton-, Bild- und Filmarchiven.“ (1)


Der Definition des Archivs als StĂ€tte der Aufbewahrung, Pflege, Katalogisierung und Auswertung von NachlĂ€ssen geht der Gedanke des Sammelns voraus. Dieses Sammeln ist kein schieres AnhĂ€ufen, sondern erfolgt als Auswahl unter bestimmten Kriterien, ist immer ein Abbild von MachtverhĂ€ltnissen - MachtverhĂ€ltnissen, die Auskunft ĂŒber den Grund des Sammelns geben, Ausdruck von Kultur und Politik einer bestimmten Zeit sind. Welches sind die jeweils kulturellen Werte, die Eingang in eine Sammlung finden, und was wird als wertlos im - mit Boris Groys gesprochen - „profanen Raum außerhalb des Archivs“ verbleiben? (2) Welche Dinge gelangen in die Heiligen Hallen? Welchen Dingen wird die Ruhe des Archivs gegönnt und was muss sich in der alltĂ€glichen Welt behaupten?

Und ĂŒberhaupt: „wo beginnt das Draußen“ des Archivs könnte man mit Jacques Derrida fragen. (3) FĂŒr einen bestimmten Zeitpunkt ist die Grenze zwischen Archiv und Alltag geschlossen, ĂŒber eine Dauer hinweg ist diese Grenze aber durchlĂ€ssig. Immer wieder wird der Bestand aktualisiert. Neuaufnahmen ergĂ€nzen das Inventar, das jedoch nicht nur wachsen kann, sondern von Zeit zu Zeit „gesĂ€ubert“ wird. Gerade nach politischen UmbrĂŒchen (Französische Revolution, Zweiter Weltkrieg, Fall der Mauer) wird neu entschieden, was archivierungswĂŒrdig ist und was als irrelevant ausgesondert wird. Es sind also die MachtverhĂ€ltnisse, die darĂŒber entscheiden, was aufgenommen oder ausgesondert wird und wie dieser Prozess vonstatten geht - das kann besonnen oder auch bilderstĂŒrmerisch ablaufen. Weitere Szenarien der Schrumpfung eines Archivs wĂ€ren z.B. Vernichtung durch Brand oder Wasser (wie in jĂŒngster Zeit in Deutschland passiert) oder gerade bei elektronischen Daten als Fehler durch Löschen.

GlĂŒcklicherweise ist die Sammel- und damit ReprĂ€sentations-Macht nicht nur auf höchster politischer oder institutioneller Ebene zu finden, die selbstverstĂ€ndlich das kulturelle GedĂ€chtnis einer Gesellschaft formt. Was gesammelt wird, bestimmen wir alle, es hĂ€ngt also vielfach von Privatinteressen ab - man denke einerseits an die Privatsammlungen, aus denen große Kunstmuseen hervorgegangen sind oder andererseits Tausch- und Sammelbörsen zu allen Themen, wie sie in jeder Stadt organisiert werden oder gar an die Fernseh-Sendung „Gesucht - gefunden“, die ĂŒber Jahren vom WDR ausgestrahlt worden ist. Dort traten Menschen mit ihrer Sammelleidenschaft z.B. fĂŒr Streichholzschachteln oder Elvis-Platten an die Öffentlichkeit. (4)


Welcher Sammelgegenstand Eingang in eine Sammlung, in ein Archiv findet, muss folglich immer wieder aufs Neue verhandelt werden. Sammelbar ist theoretisch alles. Doch selbst eine Vielzahl von Archiven bildet nur eine „registrierte Wirklichkeit“. Nur ein Bruchteil der realen Welt findet sich in einem National-, Landes-, Stadt- oder Spezialarchiv (wie z.B. dem Literaturarchiv) wieder. (5) Die LĂŒcken dieser „registrierten Wirklichkeit“ werden offenkundig.

Um den Archiv-Begriff schließlich noch ins Metaphorische zu erweitern, möchte ich - ohne jetzt das gesamte Konzept erlĂ€utern zu wollen - Michel Foucault zitieren:

„Ich werde als Archiv nicht die TotalitĂ€t der Texte bezeichnen, die fĂŒr eine Zivilisation aufbewahrt wurden, noch ihre Gesamtheit der Spuren, die man nach ihrem Untergang retten konnte, sondern das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxe Existenz als Ereignisse und als Dinge bestimmen.“ (6)


Das Archiv handelt demzufolge von Aussagen. Aussagen, die bestimmten Regeln unterworfen werden. Das Archiv ist hier kein GebĂ€ude, kein Ort, sondern eine Institution der Gesellschaft, eine Praxis, die ĂŒber Inklusion und Exklusion entscheidet hinsichtlich der Frage, was kulturell relevant ist und was nicht.


Dieser erweiterte, metaphorische Archiv-Begriff ist meines Erachtens (auch wenn er von der Archivwissenschaft nicht immer fĂŒr fruchtbar gehalten wird (7)), derjenige, an den es fĂŒr den Schriftsteller zunĂ€chst anzuknĂŒpfen gilt. Sicherlich muss ein Autor auch Bibliotheken und Archive im herkömmlichen Sinne aufsuchen und dort recherchieren. Aber fĂŒr sein Werk muss er das gleiche Verfahren der Inklusion/Exklusion anwenden: Er ist ein Gast in einem Archiv und findet sich wieder umgeben von einer FĂŒlle an Material. Ein Mitarbeiter stellt ihm eine Auswahl aus dem Bestand zur VerfĂŒgung, die er nun vor sich liegen sieht: Akten, BĂŒcher, lose Zettel in einem Karton. Was ist damit anzufangen? Mit welcher Erwartung ist der Autor ĂŒberhaupt ins Archiv gekommen? Sucht er etwas ganz bestimmtes oder ist seine Suche einer Schatzsuche vergleichbar? Wird er enttĂ€uscht sein, wenn er ein bestimmtes Dokument nicht findet?

Oder lĂ€sst er sich von der FĂŒlle des Materials ĂŒberraschen? Im ersten Fall wird er das Archiv rasch verlassen und ein anderes aufsuchen, das ihm Auskunft ĂŒber den gewĂŒnschten Gegenstand geben könnte. Im zweiten Fall steht er vor dem Problem der Auswahl. Was wird er auswĂ€hlen und aus der Versenkung befördern? Welches Element verlĂ€sst das Archiv, um wieder in das AlltĂ€gliche zurĂŒckbefördert zu werden, indem es eine neue AktualitĂ€t erhĂ€lt? Hier setzt der Schriftsteller (aber genauso gut der Wissenschaftler) an der Stelle wieder ein, die das grundlegende Charakteristikum des Archivs ausmachte: das Bewahren fĂŒr einen spĂ€teren Zeitpunkt. Diesen Zeitpunkt bestimmt nun derjenige, der Einsicht in den Bestand nimmt (und es dem Geheimen entreißt). (8)

Das Archiv selbst ist kein Autor, der Geschichten erzĂ€hlt, sondern es bedarf des Autors, um die einzelnen FundstĂŒcke zu einer Geschichte zu arrangieren. Die LĂŒcken des Archivs, der „registrierten Wirklichkeit“ können im Text aufgehoben werden. Und andererseits schließen die Quellen die LĂŒcken des Textes, dort wo es der Tiefe bedarf. (9)

Der Text des Schriftstellers gerĂ€t damit in der Auseinandersetzung mit dem Archiv selbst zu einem Archiv. Der Text archiviert das AusgewĂ€hlte. Es ist ein Archiv zweiter Ordnung, da es auf bereits Gesammeltes zurĂŒckgreift, aber es funktioniert in den Begriffen des Archivs: Sammeln/Aussondern - Aufbewahren/Vergessen - (Wieder-)Entdecken. (10) Und hieraus ergibt sich die Verantwortung eines Textes: was ist relevant, um erzĂ€hlt zu werden; was wird vor dem Vergessen geschĂŒtzt; welche Neuigkeiten (Wiederentdeckungen) liefert ein Text? Das Archiv als Metapher handelt von den aufnehmbaren Spuren, von der Suche nach dem Sagbaren, die immer Ausdruck einer Zeit und einer Kultur sind. Und in diese Suche schreibt sich der Schriftsteller ein, in dem er Vorhandenes neu erzĂ€hlt / beschreibt.


Zum Schluss möchte ich Ihnen ein Beispiel fĂŒr den Archiv-Charakter eines Textes geben, dessen AktualitĂ€t bei der Entstehung nicht absehbar war.

Im Winter 1933/34 macht sich der englische Schulabbrecher Patrick Leigh Fermor auf eine Wanderung von Hoek van Holland nach Konstantinopel/Istanbul. In den zwei bislang publizierten BĂŒchern (11) ĂŒber diese Reise durchwandert er Holland, Deutschland, Österreich, die Tschechoslowakei, Ungarn und RumĂ€nien - eine mitteleuropĂ€ische Landschaft, die wenige Jahre spĂ€ter durch den Zweiten Weltkrieg ihre heterogene Morphologie einbĂŒĂŸen wird. WĂ€hrend der Reise fĂŒhrt dieser merkwĂŒrdig gebildete SchulschwĂ€nzer mit dem Wunsch, Schriftsteller zu werden, ein Reisetagebuch, in das er seine Erlebnisse, Gedanken, Begegnungen, Beobachtungen eintrĂ€gt. Er schlĂ€ft bei Bauern in der Scheune oder in Schlössern adliger Familien, er isst mit Zöllnern und verbringt Tage in Privatbibliotheken.

Er beschreibt letztendlich eine in England (im Westen) völlig unbekannte Landschaft, die der Leserschaft nur aufgrund von Redewendungen fĂŒr eine barbarische Ferne bekannt sind (wie Karpaten, Transsilvanien oder Walachei). Sein Ziel ist es, seinen Landsleuten diese Landschaft als Kulturlandschaft nĂ€herzubringen / zu vermitteln. Das Buch wird er erst Jahrzehnte spĂ€ter schreiben (am dritten Teil arbeitet er sogar noch) und es liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor. Das, was als Reisebericht geplant war, hat sich zu einem auch fĂŒr MitteleuropĂ€er nicht minder interessantem Kompendium (Lehrbuch) entwickelt, das Aufschluss ĂŒber eine untergegangene Landschaft geben kann, ĂŒber StĂ€dte, die im Krieg zerstört, ĂŒber Menschen, die umgebracht, ĂŒber Archive, die vernichtet, ĂŒber Grenzen, die verschoben worden sind, ĂŒber antike Spuren, die auf dem Grund von Stauseen zu suchen sind.

Fungiert diese Sammlung an Reiseerlebnissen nicht wie ein kleines Archiv? Sind darin nicht Dinge verborgen, die aus der alltÀglichen Welt, aus der RealitÀt der letzten sechs Jahrzehnte verschwunden sind, und die es nun w iederzuentdecken gilt?

Stellen Sie sich vor, Patrick Leigh Fermor spaziert im Sommer 1934 durch das rumĂ€nische Sibiu, das von seinen Bewohnern auch Hermannstadt und Nagy Szeben genannt wird. Der kulturbeflissene EuropĂ€er wird es ihm im Jahre 2007 gleichtun, wenn diese barocke Stadt in SiebenbĂŒrgen als EuropĂ€ische Kulturhauptstadt wiederentdeckt wird. Und der eine oder andere wird sich zweifelsohne auf Spurensuche machen und erfahren wollen, was sich eigentlich hinter den gekĂ€rcherten Fassaden dieser Stadt verbirgt. (12)


Zitate:
(1) Heiko Reisch: Das Archiv und die Erfahrung. Walter Benjamins Essay im medientheoretischen Kontext. WĂŒrzburg 1992, S. 19. Zitiert nach Timo Skrandies: Echtzeit - Text - Archiv - Simulation. Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft. Bielefeld 2003, S. 189.
(2) Boris Groys: Unter Verdacht. Eine PhĂ€nomenologie der Medien. MĂŒnchen/Wien 2000, S. 7.
(3) Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997, S. 19. Vgl. auch Skrandies: Echtzeit, hier vor allen das Kapitel Archiv (Foucault), S. 177-206.
(4) Vgl. Krzysztof Pomian: Zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem: die Sammlung. In: ders.: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1998, S. 13-72. Pomian nennt eine Sammlerin von Orangen-Einwickelpapieren als Beispiel.
(5) Vgl. Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002, S. 24.
(6) Michel Foucault: Über die ArchĂ€ologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistĂ©mologie. In: Ders.: Schriften in vier BĂ€nden, Bd. 1. Frankfurt/M. 2001, S. 887-931, hier: S. 902. Zitiert nach Skrandies, S. 185. XXX
(7) Vgl. Ernst: Rumoren, S. 7.
(8) Damit ist der Geheimnis-Charakter gemeint, der auf einige staatliche Archive zutrifft (Vatikan, Hl. Römisches Reich, Preußen, DDR) und noch in manchen Titeln weiterlebt z.B. Geheimes Staatsarchiv in Berlin-Dahlem. Vgl. Ernst: Rumoren, S. 7f.
(9) Vgl. Ernst: Rumoren, S. 22-26.
(10) Vgl. Groys: Verdacht, S. 7.
(11) Patrick Leigh Fermor: Die Zeit der Gaben. Zu Fuß nach Konstantinopel: Von Hoek van Holland an die mittlere Donau. Der Reise erster Teil, ZĂŒrich 2005; ders.: Zwischen WĂ€ldern und Wasser. Zu Fuß nach Konstantinopel: Von der mittleren Donau bis zum Eisernen Tor. Der Reise zweiter Teil, ZĂŒrich 2006.
(12) Vgl. Margarete Affenzeller: Putzmunter in Sibiu, in: Der Standard vom 4./5. November 2006.