„Freiligrath wurde 1810 in Dettmold geboren. Er war der Sohn eines Lehrers. Er lernte Kaufmann in Soest in Westfalen. Später kam er nach Amsterdam. Er beschäftigte sich neben-bei mit Dichtkunst und Literatur.“
So beginnt der kurze Aufsatz einer uns unbekannt gebliebenen Schülerin aus dem September 1950, deren Schulheftseite irgendwann einmal den Weg ins Hermann-Smeets-Archiv gefun-den hat. Wir wissen nicht, was sie veranlasst hat, einen Aufsatz über Ferdinand Freiligrath zu verfassen, und auch nicht, ob sie einige der „wunderbaren Schilderungen von fremden Län-dern“, die er geschrieben hatte, auch gelesen hat. Wesentlich mehr über Freiligrath als von unserer Schülerin erfahren wir allerdings aus einer Zeitschrift, die zehn Jahre nach diesem Schulaufsatz über Freiligrath berichtet. Der „Westfalenspiegel“ - wegen Freiligraths Herkunft aus Detmold fühlt sich die Region ganz besonders mit dem Dichter verbunden – widmete ihm anläßlich seines 150. Geburtstages im Juni 1960 eine ganze Aufsatzserie.
Viel verdanken wir auch dem Journalisten Paul Vogelpoth. Von keinem Autor sind uns im Heimatarchiv mehr Freiligrath-Aufsätze überliefert als von ihm. Im Heft 4 der Düsseldorfer Heimatblätter schrieb er zum Beispiel über „Freiligraths Flucht aus Düsseldorf“, und die Redaktion der Heimatzeitschrift der Düsseldorfer Jonges, „Das Tor“ gab Vogelpoth 1935 eine Menge Raum für den großartigen Aufsatz „Ferdinand Freiligrath und Düsseldorf“.
Die richtigen Schätzchen aber finden wir weiter unten: Das Bilker Heimatarchiv besitzt einige Originaldrucke aus der Zeit von Freiligraths dichterischem Schaffen, ganz besonders aus der Zeit der Revolution von 1848/49, die ja auch in Düsseldorf ihre Spuren hinterlassen hat. Das berühmte Gedicht „Die Todten an die Lebenden“ ist uns auf diese Weise gleich mehrfach im Archiv überliefert - und mit dem Papier muss man pfleglich umgehen, denn es stammt aus dem Jahre 1848. Genau wie übrigens auch die Reaktion auf dieses ganz besondere Revolutionswerk Freiligraths, zum Beispiel „Die Wachenden an die Träumenden“ von einem gewissen „Ernst“ oder auch die „Kurze Antwort der Lebenden an die Todten.“
Ferdinand Freiligraths „Die Todten an die Lebenden“ - gemeint waren die Gefallenen vom 18. März 1848 in Berlin - ist eine reine Anklage. Einerseits an die konservativen Kräfte des spätfeudalen und spätabsolutistischen Zeitalters, die in den wenigen Jahrzehnten der Restauration zwischen 1815 und 1848 die liberalen Kräfte in Deutschland zurückgedrängt und im Gegenzug mit rigiden Maßnahmen liberalistische und nationalistische Flammen gewaltsam erstickt hatten, etwa durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Der Widerstand gegen diese konservativen Kräfte eskalierte in der Märzrevolution 1848 - und erlag ihnen nicht nur militärisch auf den Barrikaden, sondern auch politisch in der Paulskirche. Und gegen diese erlahmenden Kräfte, die der Reaktion zum Sieg verhalfen, richtete sich nun andererseits ebenfalls der Fluch der „Todten“ Freiligraths.
Dabei war Freiligrath ursprünglich kein politischer Dichter. Es lohnt sich, in der umfangreichen Bibliothek im Hermann-Smeets-Archiv zu blättern, die ursprünglich aus dem Besitz des oben erwähnten Paul Vogelpoth stammt. Nur dem schnellen Eingreifen von Hermann Smeets ist es übrigens zu verdanken, dass diese nun sorgfältig gehüteten Schätze seinerzeit nicht filetiert und antiquarisch verhökert worden sind. Wenn man irgendwo in Düsseldorf etwas über Freiligrath findet, dann hier: Es gibt wohl, abgesehen vielleicht von Detmold selbst, kaum einen Ort, in dem mehr Literatur von und über Freiligrath versammelt ist, als in unserem Heimatarchiv. Hier finden wir das Frühwerk des Dichters, die erste, bereits 1838 erschienene Sammlung von Gedichten: Völlig unpolitisch beschrieb Freiligrath die Wunder der Welt in farbenreichen Klängen.
Mit dichterischem Feuer schilderte er den Orient, die Geisterwelt der Sahara, den „Mohrenfürst“. Ihn deswegen für einen Vielgereisten zu halten, ist allerdings falsch: Freiligrath ließ hier „nur“ seine überreiche Phantasie spielen. In Gesprächen mit Matrosen, beim Anblick der Schiffe im Amsterdamer Hafen, beim Zusammenzählen der Waren und Geldsummen im „Comptoir“ wurden die fernen Länder, aus denen die Kisten und Säcke stammten, in seinen Gedichten lebendig. Daß er jedoch davon träumte, selbst Reisen in diese exotischen Welten zu machen, „für ein paar Jahre wenigstens ein rasches, in wilden Puls-schlägen hinstürmendes Leben“ zu führen und sowohl die Nordsee und die „schottländischen Inseln“ als auch „Smyrna, Konstantinopel und Odessa“ anzusteuern, erfahren wir aus einem Brief an Immermann. Wahr wurden diese Träume nie. Aber auch als Heimatdichter wollte Freiligrath sich versuchen. Das Volksliedhafte, das die deutsche Dichtung beherrschte, paßte allerdings wenig zu seinem magelnden Sinn für die innere Form eines Liedes. Erst von Victor Hugo lernte er „die Wucht des Verses und die Behandlung des Reimes“.
Deutschland hatte es Freiligrath angetan, und vor allem der Rhein. Am Rhein erlebte er die pure deutsche Geschichte, beispielhaft an der Burg Rolandseck. Diese Ruine wieder aufzu-bauen und den romantischen Deutschen dadurch ein Stück ihrer deutschen Geschichte wiederzugeben, diesem Ziel verschrieb er sich. Und so wurde er nach und nach politisch, sogar radikal politisch. Hatte er zuvor noch Georg Herwegh zugerufen: „Der Dichter steht auf einer höheren Warte aus auf den Zinnen der Partei“, stellte er sein Werk nun selbst ganz in den Dienst der liberalen Bewegung. Auf einmal hörte man einen ganz anderen Freiligrath, den Freiligrath der radikalen patriotischen Töne, der Revolution, des Liberalismus, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie. Davon kündet vor allem die zweite Gedichtsammlung, die unter dem Titel „Ein Glaubensbekenntnis“ erschien, und die ebenfalls im Archiv vorhanden ist. Das Volk jubelte ihm zu - und Fürst Metternich zwang ihn in die Emigration.
1848 kehrte er aus London zurück, kam nach Düsseldorf, nahm seine Wohnung zunächst an der heutigen Oststraße, dann, nach einem Zwischenaufenthalt in Köln, 1850 in Bilk. Im Rheinland stellte er sich an die Spitze der Rheinischen Demokraten und arbeitete an der von Karl Marx und Friedrich Engels redigierten, bis Mai 1849 in Köln erschienenen „Neuen Rheinischen Zeitung“ mit. Wegen seiner „Neueren politischen und sozialen Gedichte“ – vor allem natürlich wegen „Die Todten an die Lebenden“ - wurde er verhaftet, im nachfolgenden „Press-Process“ am 18. August 1848 allerdings freigesprochen – unter dem Jubel der Düssel-dorfer Bevölkerung und der ihn schützenden Bürgerwehr.
Selbst als die Revolution längst vorbei war, die Kräfte der Beharrung gesiegt hatten, stand Freiligrath weiter für deren Ideen ein, und „noch immer glaubte er Fahnen zu sehen, wo nichts war als das schmucklose blanke Holz der Masten“ (Vogelpoth). Damit geriet er in immer schärferen Gegensatz zur „Reaktion“, was nicht nur im Jahre 1850 zu seinem Austritt aus dem Künstlerverein Malkasten führte, sondern ein Jahr später auch zur Gefahr einer erneuten Verhaftung. Noch bevor der Steckbrief gegen ihn erlassen wurde, exilierte Freiligrath erneut nach London, angeblich als Heizer verkleidet. Erst 1866 kehrte er wieder nach Deutschland zurück, allerdings nicht in die Reichweite des preußischen Staates, sondern in das Königreich Württemberg. Dort erhob er seine dichterische Stimme erneut, diesmal gegen den Franzosen Napoleon III. Von 1874 an lebte er in Cannstadt bei Stuttgart, wo er am 18. März 1876 verstarb.
Paul Vogelpoth stellt Freiligraths politische Dichtung auf eine Stufe mit der eines Walter von der Vogelweide, eines Dante, eines Ulrich von Hutten oder eines Gotthold Ephraim Lessings. Wie diese erreichte auch Freiligraths Werk erst ihre richtige hohe Kunstform, als sie ausdrĂĽckte, was seine innerste Ăśberzeugung war, von der der Dichter auch trotz Anfeindung, Verbannung, Streichung der Pension, aber auch trotz Schmeicheleien, dem BemĂĽhen, ihn zur RĂĽck- und Umkehr zu bewegen, niemals ablieĂź.