Die Begriffe ‚Archiv’ und ‚Literatur’ legen in all ihrer Allgemeinheit bei jedem, der sie hört oder liest, eine andere Spur, jenachdem welche selbstgemachten, mittelbaren oder vermittelten Erfahrungen im Einzelfall zugrunde liegen. Im vorliegenden, konkreten Falle führte die Spur den Verfasser ganz unmittelbar und intuitiv zunächst zur „Bibliothek von Babel“ (1941), dieser Erzählung des argentinischen Autors Jorge Luis Borges (1899-1986), in der eine Bibliothek beschrieben wird, die so umfangreich und ausufernd ist, daß sie (vereinfacht gesagt) in ihren Büchern sämtliche Kombinationen und Permutationen der Buchstaben des Alphabets beherbergt – und damit jedes auch nur irgend denkbare Buch in ihr steht. Diese Bibliothek mag zwar kein Literaturarchiv im engen Sinne sein, jedoch ist sie in einem umfassenden Sinne ein Archiv der Literatur, in dem alles Geschriebene aufgehoben sowie alles Schreiben zu einem schon Geschriebenen geworden ist und dort gleichsam seinen Platz hat.
Ein Weiterblättern in den Büchern Borges’ führt, die Begriffe Archiv und Literatur noch im Hinterkopf, zu einem Gedicht mit dem Titel Inventar (1975).
Inventar
Man muĂź eine Leiter nur anlegen, um hinaufzukommen. Eine Sprosse fehlt.
Was können wir anderes auf dem Dachboden suchen,
als das was die Unordnung angehäuft hat.
Es riecht feucht.
Die Abenddämmerung dringt durchs Bügelzimmer ein.
Die Deckenbalken sind niedrig, der Boden ist eingesunken.
Keiner wagt aufzutreten.
Da ist ein ausgeleiertes Klappbett.
Da ist ein unbrauchbares Werkzeug.
Dort steht der Rollstuhl des Toten.
Da ist ein LampenfuĂź.
Da ist eine zerfranste Hängematte aus Paraguay, mit Troddeln.
Da sind Geräte und Papiere.
Da ist ein Bild von Aparicio Saravias Generalstab.
Da ist ein altes KohlebĂĽgeleisen.
Da ist eine Uhr mit angehaltener Zeit und zerbrochenem Pendel.
Da ist ein abgeblätterter Goldrahmen, ohne Bild.
Da ist ein Spielbrett aus Pappe mit einzelnen Figuren.
Da ist ein Kohlebecken mit zwei FĂĽĂźen.
Da ist ein Lederkoffer.
Da ist ein angeschimmeltes Exemplar von Foxes Book of Martyrs
mit seiner umständlichen Fraktur.
Da ist eine Fotografie, die längst einem jeden gleicht.
Da ist ein morsches Fell, das einem Tiger gehört hat.
Da ist ein SchlĂĽssel, der seine TĂĽr verloren hat.
Was können wir anderes auf dem Dachboden suchen,
als das was die Unordnung angehäuft hat.
Dem Vergessen, den Dingen des Vergessens habe ich dies Monument errichtet,
zweifellos weniger dauerhaft als Erz, und es vermischt sich mit ihnen. (1)
In diesem Gedicht, in der Übersetzung von Gisbert Haefs, klettern wir gemeinsam mit dem Ich des Textes auf einen modrigen Dachboden und finden dort die verschiedensten Dinge, die sich dort im Laufe der Jahre und Jahrzehnte eines Lebens angehäuft haben. „Unordnung“ herrscht hier, „[e]s riecht feucht“, Ausgeleiertes, Unabrauchbares, Zerfranstes, Morsches, Altes, Abgeblättertes und Angeschimmeltes findet sich hier. All dies Dinge „des Toten“, wie es heißt, und man darf daher vermuten, daß man es hier wohl mit dem Nachlaß des Verstorbenen zu tun hat. Die Beschreibung, die hier mit dem Gedicht zusammenfällt, ist, wie der Titel bedeutet, ein „Inventar“: das Ergebnis einer Inventur, einer (zunächst bloß) sammelnden und registrierenden Bestandsaufnahme des Vorgefundenen.
Stellen wir uns nun vor, dies sei der Dachboden eines Dichters gewesen (oder einer Dichterin, versteht sich), eines (oder einer) nicht unbedeutenden. Nach seinem (oder ihrem) Tod wird der Nachlaß an ein Archiv übergeben, ein Literaturarchiv. Das Beschriebene, so komplett übergeben, würde nach der Bestandsaufnahme vom Archivar zunächst sortiert werden nach denjenigen Teilen des Nachlasses, die „von bleibendem Wert sind und die z.B. Aufschluß über Werk, Tätigkeit und Biographie des Nachlassers bzw. der Nachlasserin bieten.“ (2) In die „Unordnung“ des Dachboden-Nachlasses müßte eine Ordnung gebracht werden.
Die borgesische ‚Gedicht-Inventur’ spricht nun u.a. von „Papiere[n]“, die dort auf dem Dachboden lagern. Das Literaturarchiv, das sich dieses Nachlasses angenommen hat, wird wohl darauf zunächst sein Augenmerk richten. Schließlich sammelt das Literaturarchiv literarische Nachlässe, d.h. das “Schriftgut, das bei literarisch tätigen Personen […] als Dokumentation von Leben und Werk erwächst und aufbewahrt wird.“ (3)
Was sind dies nun für Papiere, die dort überdauert haben? Es mögen Handschriften des Dichters darunter sein, sensationelle Funde mitunter: Manuskripte seiner Werke, frühen Fassungen, Vorstufen und Varianten davon, vielleicht bislang gänzlich Unpubliziertes, Unbekanntes aus des Dichters Feder, Jugendwerke womöglich, die allesamt darauf warten, kritisch ediert und posthum veröffentlicht zu werden, um so das Gesamtbild des Werkes und seines Autors zu ergänzen und weiter zu vervollständigen. (4)
Weiters sind dort Typoskripte mit Anmerkungen, Exzerpte von Lektüren und vor allem Briefe: Briefe an den Dichter, Abschriften von gesendeten Briefen, die meisten aufschlußreich und in jedem Falle erhellend für „Werk, Tätigkeit und Biographie“, und dann: das Tagebuch, das Allerheiligste, dem sich der Dichter zu Lebzeiten anvertraut hat und in das nun Einsicht genommen werden kann.
Unter den Papieren finden sich aber auch Einkaufzettel, Broschüren, Kritzeleien, womöglich am Telefon entstanden, Kochrezepte, Zettelchen, auf denen schriftlich und flüchtig Beträge multipliziert und addiert wurden. Nach den methodischen Maßgaben von Inklusion und Exklusion muß der Archivar entscheiden, was davon der Überlieferung wert ist und den Weg ins Archiv findet. Einerlei! Hier sind es fast alles Autographen, Dokumente jedenfalls, die verbürgen, daß unser imaginierter Dichter auch einkaufte, sich verrechnete, kochte und aß, kurz: daß er Mensch war – also wird es aufgenommen ins Archiv, inventarisiert.
Doch wie verhält es sich mit dem Rest des Nachlasses? Das „ausgeleierte[] Klappbett“ etwa, das womöglich Dichterfreunden ein Nachtlager bot; das „Werkzeug“, mit dem die Regale der Bibliothek des Autors montiert wurden; „der Rollstuhl des Toten“, Zeugnis eines Leidens, einer Krankheit, des Alters; die „zerfranste Hängematte aus Paraguay, mit Troddeln“, ein Souvenir, ein Geschenk; „Geräte“, darunter seine Schreibmaschine vielleicht; „die Uhr mit angehaltener Zeit und zerbrochenem Pendel“; der „abgeblätterte[] Goldrahmen, ohne Bild“, der zur Frage verleitet, was für ein Bild er grahmt haben mag; das „Spielbrett aus Pappe mit einzelnen Figuren“; der „Lederkoffer“, ein leerer Reisebegleiter oder Hort weiterer Papiere oder bloß aussortierter Kleidung; das „angeschimmelte Exemplar von Foxes Book of Martyrs“, das vielleicht Anstreichungen, Lektürenotizen, Exzerpte enthält; die „Fotografie, die längst einem jeden gleicht“ (war sie in dem Goldrahmen? Wen oder was bildet sie ab?) und der „Schlüssel, der seine Tür verloren hat“ (welche Tür mag das gewesen sein, wohin hat sie sich geöffnet oder was hat sie verschlossen?).
Was hiervon ist im archivalischen Sinne „von bleibendem Wert“ und aufschlußreich für „Werk, Tätigkeit und Biographie des Nachlassers bzw. der Nachlasserin“, wie es hieß? Selbst der großzügigste und gewogenste Archivar wird, nein: muß von diesen Dingen viele, die meisten wohl, kassieren und aussondern, handelt es sich doch hier immer noch um ein Literaturarchiv.
Finden von diesen Dingen tatsächlich einige Einlaß ins Archiv, gehören sie zur Gruppe der sogenannten „Sammelstücke“ als „Sondermaterial“ und dienen letztlich vermutlich eher dazu wie im Marbacher LiMo anekdotisch etwaige Ausstellungen interessant zu machen, Lockstoffe anzubieten, in deren ‚Windschatten’ man auch die ausgestellten Autographen eines zweiten, vielleicht weniger flüchtigen Blickes würdigt. (So befinden sich in Marbach beispielsweise Nietzsches Totenmaske, das Taufkleidchen Thomas Manns, Gadamers Schere oder Thomas Strittmatters Atari)
Aber können nicht auch das Klappbett, die Hängematte, die beschädigte Wanduhr, das Spielbrett und der Lederkoffer, die verblichene Fotografie und der Schlüssel ohne Tür ihrerseits und auf ganz eigene Weise „von bleibendem Wert“ sein, jenseits allen musealen, und im engen Sinne archivalischen Werts? Der Autor des Gedichtes, Borges, hat all diese Gegenstände sehr wohl für archivwürdig befunden und sie aufbewahrt im Gedicht, aufgenommen in sein Archiv und sie dadurch für relevant, für bedeutsam erklärt. Mittlerweile ist dieses Gedicht selbst Teil des borgesischen Nachlasses, ist als Manuskript längst selbst Archivgut geworden.
Der Leser nun steigt ein in dieses Archiv des Textes und ist eingeladen, die einzelnen Archivalien, das Klappbett, den Koffer, den Bilderrahmen, (ganz wie der Wissenschaftler im realen Archiv) zu Teilen einer plausiblen ‚Geschichte’ (oder auch mehreren ‚Geschichten’) werden zu lassen, die die einzelnen Teile miteinander verknüpft, in Beziehung setzt und im besten Falle zu einer weit über das Gedicht hinausreichenden Erfahrung werden kann. – Und auch für einen Autor, der dieses Gedicht-Archiv betritt, mag hier die produktive Arbeit ihren Ausgang nehmen, mögen doch hier vielleicht gerade die in der Archivrealität vordergründig irrelevanten Elemente, die Entdeckungen, die Keimzellen sein für einen Schreibprozeß, in dessen Verlauf nun der Autor seinerseits ein neues Archiv anlegt, seinen Text.
Literatur entsteht aus Literatur. Das ist eine Binsenweisheit – trotzdem beschreibt gerade sie die Eigenart der Literatur, selbst ein umfassendes Archiv zu sein, das sowohl die Literatur der Tradition, das Geschriebene eben, wie auch die Literatur der Zukunft, das noch zu Schreibende (wie wohl auch das, was niemals geschrieben werden wird), zu beherbergen vermag. Jederzeit kann Literatur Auslöser sein für ein wieder neues Stück Literatur, das so seinerseits zu einem Archiv der Literatur wird, das nach seinen ganz eigenen Kriterien über Inklusion und Exklusion entscheidet.
So kann nun der Weg in ein tatsächliches, d.h. nicht metaphorisches, sondern institutionelles oder privates Archiv für den Autor in vielfacher Weise Möglichkeiten zur Recherche bieten: zur Recherche von (etwa literatur- oder werk-)historischen, biographischen Zusammenhängen, aber auch – zur Suche nach dem eigenen, noch zu schreibenden Werk, der eigenen Literatur, die von dem im Archiv vorgefundenen, mitunter ganz ‚unwissenschaftlich’, ihren Ausgang nimmt und den (nach Nabokov) „ersten Herzschlag“ eines Textes in Gang zu setzen vermag. Der Autor wird zum Archivar im Archiv der Literatur und zum Bauherr immer neuer Archive (seiner Texte) gleichermaßen.
Und so wird also auch das Gedicht über den Dachboden, den Speicher, selbst (in mehrfacher Hinsicht) zu einem Speicher, indem es nicht nur aufbewahrt und überliefert, was für seinen Autor von bleibendem Wert ist, sondern auch indem es (im- und explizit) die literarische Tradition sowie einen Keim von dem miteinschließt, was erst künftig zu Literatur werden mag. Hierin gleicht das (und wohl ein jedes ‚gute’) Gedicht der borgesischen Bibliothek von Babel, ist auch in ihm doch das noch zu Schreibende bereits angelegt, ja eingeschrieben, bewahrt es die Vielzahl möglicher Werke und Bücher in sich auf, nach denen also dort nur noch gesucht werden muß, die nur re-cherchiert, also wieder-gefunden werden müssen.
„Dem Vergessen, den Dingen des Vergessens habe ich dies Monument errichtet, / zweifellos weniger dauerhaft als Erz, und es vermischt sich mit ihnen.“ Die letzten Verse des Gedichtes sind eine Abwandlung der berühmten Horazschen Worte "Exegi monumentum aere perennius" ("Ein Denkmal habe ich mir gesetzt dauerhafter als Erz"). Hier spricht das Gedicht, gleichermaßen bescheiden wie selbstironisch, von sich selbst, von den Dingen, die es bewahrt und die zusammengenommen nichts weniger sind als das Gedicht selbst.
Vielleicht ist dieses „Monument“ letztlich sogar sehr viel dauerhafter als Erz, indem es sich unablässig fortsetzt in all den Texten, zu denen es Anstoß gegeben, die es inspiriert hat und die ihrerseits wieder Anstoß geben und Auslöser sind von wieder neuen Texten ad infinitum. Eine wahrhaftige Babelbibliothek, ein Dachboden, ein Speicher: ein Archiv.
(1) Jorge Luis Borges: Der Geschmack eines Apfels. Gedichte. Ausgewählt von R. Schrott. München, Wien: 1999, S. 15.
(2) „Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA).“
http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/verbund/RNA/rna_r1_richtlinie.html [Stand 12.01.07, 13:49 Uhr]
(3) Glossar der Internetpräsenz der Literaturkommission für Westfalen: http://www.lwl.org/literaturkommission/alex/index.php?id=00000028& [Stand 14.01.07, 15:09 Uhr]
(4) Zuweilen gibt es solche Funde: Man erinnere sich etwa an das lange verschollene und 1997 in Mexico gefundene Manuskript von Lorcas „Dichter in New York“.