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Das „Westfälische Literaturarchiv im Westfälischen Archivamt“.

Ein möglichst praktischer Leitfaden von Walter Gödden und Jochen Grywatsch

I.
Jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller sieht sich irgendwann mit der Frage konfrontiert: „Wohin mit meinem (literarischen) Nachlass?“ Autorinnen und Autoren, die mit den Strukturen des literarischen Lebens gut vertraut sind, knüpfen deshalb bereits zu Lebzeiten Kontakte zu regionalen oder überregionalen Literaturarchiven. Beispiele aus dem westfälischen Bezugsrahmen sind Max von der Grün, Josef Reding oder Hugo Ernst Käufer. Sie übergeben in bestimmten Zeitintervallen Teile ihrer Arbeitsmaterialien an sammelnde Institutionen und stellen damit sicher, dass diese der Nachwelt erhalten bleiben und bestmöglichen konservatorischen Schutz bekommen. Dasselbe gilt für den aus Dortmund gebürtigen Peter Rühmkorf, der Teile seines „Vorlasses“ dem „Deutschen Literaturarchiv“ in Marbach übergeben hat.

Die Materialien verbleiben im Eigentum des Autors, der jederzeit Zugriff auf „sein“ Archiv behält. Dasselbe gilt für seine Erben. Unter Umständen kann er die Übergabe von Materialien auch an bestimmte Bedingungen knüpfen, wobei – angesichts der knappen finanziellen Ausstattung der sammelnden Institutionen – nur in wenigen Fällen von einem Ankauf ausgegangen werden kann. Die Vereinbarungen werden grundsätzlich in Form von Depositalverträgen schriftlich fixiert.

In der Regel – aber nicht notwendigerweise – steht das übernommene Material der Forschung und allgemeinen Benutzung zur Verfügung. Auf Wunsch können aber bestimmte Manuskripte und persönliche Dokumente (hauptsächlich Briefe) mit einer Sperrfrist belegt werden; sie werden dann erst nach einer bestimmten Zeitspanne (in der Regel nach 30 Jahren) allgemein zugänglich. Eine einschränkende Klausel kann auch besagen, dass eine Benutzung erst nach Rücksprache mit dem Autor oder seinen Erben möglich ist. Auch kann die Zustimmung zur Veröffentlichung grundsätzlich oder für eine bestimmte Dauer verwehrt werden.

Autorinnen und Autoren tun gut daran, frühzeitig für den Verbleib ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft zu sorgen. Auf diese Weise haben sie es selbst in der Hand, sich jenes Archiv auszuwählen, das ihnen am besten geeignet erscheint. Sie sollten sich dabei bewusst sein, dass die Archive Serviceleistungen für sie erbringen. Anfragen sammelnder Institutionen nach Arbeitsmaterialien oder Teilen des Vorlasses sollten deshalb nicht als pietätlos, sondern unter dem Gesichtspunkt „Sicherung von Kulturgut“ betrachtet werden. Nochmals sei erwähnt, dass es gängige Praxis ist, dass Autorinnen und Autoren bereits in frühen Jahren Teile ihres Arbeitsarchivs an sammelnde Institutionen abgeben, um damit eine dauerhafte Präsenz ihres Werkes sicherzustellen.

Wenn eine Initiative des Schriftstellers ausbleibt, regiert, was den Verbleib eines Nachlasses angeht, oft das Prinzip Zufall. Die Erfahrung zeigt, dass für Nachfahren oft Hemmschwellen bestehen, mit Bibliotheken und Archiven in Kontakt zu treten, mit diesen zu verhandeln bzw. diese Institutionen überhaupt für einen Nachlass zu interessieren. Oft sind die Erben nicht mit den Gegebenheiten des literarischen Lebens vertraut oder wissen den Wert eines Nachlasses nicht einzuschätzen. Nachlässe, die auf diese Weise statt in ein Archiv auf einen Dachboden oder gar in eine Altpapiersammlung wandern, sind irreparabele Verluste.

Die Zeitspanne bis zur Übergabe sollte nicht zu groß sein. Sind seit dem Tod eines Autors Jahre oder Jahrzehnte vergangen, ist es in der Regel schwierig, Projekte, die sich um die Aufarbeitung eines Nachlässes ranken, zu initiieren. Oft ist dann das Engagement eines Literaturinstituts, einer (häufig universitären) Forschungsstelle oder auch einer literarischen Gesellschaften gefragt, die sich um die Bearbeitung und gegebenenfalls um eine Edition kümmern.


II.
In der Vergangenheit fanden Autorinnen und Autoren bei der Frage, wie sie langfristig mit ihren Arbeitsmaterialien verfahren sollten, kaum Hilfe. Nur wenigen sind „Anlaufstellen“ bekannt, an die sie sich wenden können. Die in Westfalen hierfür in erster Linie in Frage kommenden Institute – die Landesbibliotheken in Münster, Dortmund und Detmold sowie als weitere größere Sammelstelle das „Fritz-Hüser-Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur“ – betreiben in der Regel nur für ihre speziellen Sammelschwerpunkte eine gezielte Nachlasserwerbspolitik. Im Falle der westfälischen Gegenwartsliteratur werden diese Archive nur in Ausnahmefällen aktiv. Ausschlaggebend für die diesbezügliche Zurückhaltung sind mangelnde personelle und finanzielle Ressourcen, aber auch fehlende Platzkapazitäten.

In der Regel pflegen diese Archive keine näheren Beziehungen zu Autoren/innen, die ihrerseits keinerlei Bindung zu den oft als anonym empfundenen Institutionen verspüren. Es wird befürchtet, dass die großen Bibliotheken das Archivmaterial lediglich „verwalten“ und in Archivkellern „einmotten“. Dementsprechend gering ist die Hoffnung der Autorinnen und Autoren, dass ihre Arbeitsmaterialien „gepflegt“ und der Forschung zugänglich gemacht werden – eine Aufgabe, die Archivare sicher nicht als ureigene Aufgabe ansehen. Hier wäre die Literaturwissenschaft gefragt, die im günstigsten Fall den Archivar bei der Auswahl und Bewertung des Materials unterstützen wird.

Wie fruchtbar eine solche Allianz ausfallen kann, zeigt das Beispiel des Dortmunder Literaturmultiplikators Fritz Hüser (1908-1979), der über ein beispielhaftes Organisationstalent verfügte. Hüser war mit Leib und Seele Bibliothekar, Archivar, Literaturliebhaber und Literaturvermittler. Er begann 1928, damals noch im Bergbau tätig, systematisch Arbeiterliteratur (Erstausgaben, Briefe, Manuskripte) zu sammeln. Nach einem Betriebsunfall schulte er zum Bibliothekar um. 1945 wurde er Leiter der Dortmunder Volksbüchereien, deren Bestand er von 12.000 auf 300.000 Bände ausbaute. Außerdem begründete er eine Dokumentation zur proletarischen Kultur in Dortmund und im Ruhrgebiet. Hüsers Autorenförderung führte unter anderem zur Gründung der Dortmunder „Gruppe 61“, die durch ihre neue Form der Industriedichtung (Max von der Grün, Günter Wallraf, Josef Reding) bundesweit von sich reden machte. Das von Hüser begründete Autorenzentrum führte zu einer Archivstelle für Arbeiterliteratur, aus der das heutige „Fritz-Hüser-Institut für deutsche und internationale Arbeiterliteratur“ hervorging – eine für Europa einzigartige Sammelstelle dieser Literaturrichtung.


III.
Die unbefriedigende Situation literarischer Nachlasspflege wird in NRW bereits seit den 1970er Jahren beklagt. In einer 1978 vom Land NRW in Auftrag gegebenen Studie „Literarische Nachlässe in Nordrhein-Westfalen. Erhebung und Gutachten“ (Köln 1979) konstatiert Johannes Rogalla von Bieberstein folgende Missstände:

- das Fehlen geregelter Zuständigkeiten beim Nachlaßerwerb; es regiere noch immer das Zufallsprinzip oder eine unproduktive Konkurrenzsituation
- fehlende bzw. unzutreffende Maßstäbe bei der Einschätzung des Wertes eines Nachlasses
- das Fehlen einer aktiven Nachlasserwerbspolitik, die eine Beratung von Autoren und Erben einschließt
- keine oder nur geringe Abstimmung bei Autographenankäufen
- mangelnde germanistische Kompetenz der Archivstellen
- mangelnde Möglichkeiten zur Erschließung von Nachlässen
- das Fehlen einer Zentralkartei westfälischer Autographen
- mangelnde Kommunikation der Archive untereinander.

Die beschriebenen Mängel sind bis heute nicht beseitigt. Sie haben sich – so Bernd Kortländer 1998 in seinem Beitrag „Zu einigen Problemen literarischer Nachlaßpflege“ – „eher noch potenziert“.

Die Defizite fallen um so mehr ins Gewicht, als das Interesse an regionaler Literatur kontinuierlich angewachsen ist. Bereits Rogalla von Bieberstein konstatierte, dass die Zahl der Besucher von Literaturarchiven kontinuierlich gestiegen und ein hoher Grad an Auslastung zu beobachten sei. Dieser Sachverhalt gilt heute in weit höherem Maße. Die regionale Literaturforschung erlebte bundes-, ja europaweit einen beispiellosen Aufschwung. Im Laufe der siebziger Jahre gelangte die Forschung im Kontext sozialgeschichtlich-soziologischer Fragestellungen zu einer Neubewertung des Heimatbegriffs und mithin zu neuen, kritischen Perspektivierungen. Seit den 1980er Jahren kann in Westfalen von einer lebendigen Regionalliteraturforschung gesprochen werden. In den 1980er und beginnenden 1990er Jahren kam es zur Neugründung von literarischen Gesellschaften und der Neukonzeption bzw. Wiederbelebung literarischer Jahrbücher (Droste-Jahrbuch, Grabbe-Jahrbuch, Hille-Blätter, Wibbelt-Jahrbuch, Ernst-Meister-Jahrbuch). Die Veranstaltungsprogramme wurden ausgedehnt, es fanden zunehmend Kongresse und Tagungen statt. Hinzu kamen Forschungsvorhaben (z.B. durch angegliederte AB-Maßnahmen) sowie die Verwirklichung großer Editionspläne (bis zu Gesamtausgaben) wie bei der Thomas-Valentin-Gesellschaft oder der Wibbelt-Gesellschaft. Im Laufe der 1990er Jahre entstanden mehrere Kompendien, die das Ziel verfolgten, die westfälischen Autoren der Vergangenheit und Gegenwart neu vorzustellen und zu entdecken. Zu nennen sind folgende Publikationen: „Literarische Porträts. 163 Autoren aus Nordrhein-Westfalen“ (1991) , „Literatur-Atlas NRW. Ein Adreßbuch zur Literaturszene“ (1992) , „Schreiben, Lesen, Hören. Namen, Rezensionen, Werke. Ein Autorenreader“ (6 Bände seit 1991) , „Westfälisches Autorenverzeichnis. Autorinnen und Autoren in und aus Westfalen“ (1993) und „Literatur von nebenan. 61 Portraits von Autoren aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen“ (1995) . Ferner entstanden mehrere westfälische Anthologien und Lesebücher. Stellvertretend sei hier das vierbändige Kompendium „Literatur in Nordrhein-Westfalen 1871-1994“ (1995-1998) genannt. Herausgeber und Mitarbeiter sichteten dabei die Werke von über 2.000 Autoren, von denen etwa 260 in die engere Auswahl einbezogen wurden.


IV.
All diese Aktivitäten haben auch ein verstärktes Interesse an literarischen Nachlässen mit sich gebracht, dem auf der anderen Seite eine Stagnation im Archivwesen gegenüber steht. Diese unbefriedigende Situation hat auf NRW-Ebene aktuell zu intensiven Diskussionen geführt. Es fanden Tagungen und Sitzungen im Heine-Institut (Düsseldorf), im LiteraturRat NRW (Düsseldorf) und im Bereich des Schriftstellerverbandes NRW (Köln) statt. Auf Bundesebene wurden sie auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum im Mai 1999 vertiefend diskutiert.

Ein erster Schritt zur Verbesserung der Informationslage über literarische Nachlässe stellt die von Dagmar Rohnke-Rostalski erarbeitete Dokumentation „Literarische Nachlässe in Nordrhein-Westfalen“ (1995) dar. Das fast 500-seitige Kompendium wurde 1994 vom Kultusministerium des Landes NRW in Auftrag gegeben und listet auf der Basis einer Fragebogenaktion 650 Nachlassbestände auf, die in 113 Institutionen lagern. Die Studie weist einen hohen praktischen Wert auf, insbesondere weil sie auf Nachlassbestände von Autoren/innen hinweist, deren Werk nicht zum allgemeinen Lektürekanon zählen.

Bei allen Verdiensten kann nicht verschwiegen werden, dass die Untersuchung eine Reihe von Ungereimtheiten beinhaltet, die dem Insider schnell auffallen. Insgesamt weist die Dokumentation der äußerst komplexen nordrhein-westfälischen Literaturarchivlandschaft in puncto Genauigkeit und Detailliertheit der Angaben einige Defizite auf. Da sich zudem in den sechs Jahren seit Erscheinen des Kompendiumsin Bezug auf literarische Nachlässe in NRW größere Veränderungen ergeben haben, wurde in letzter Zeit mehrfach der Ruf nach einer überarbeiteten Version des Handbuchs möglichst in Form eines virtuellen, ergänzbaren Nachlasskatasters laut. Ein solches übergeordnetes Internet-Portal, das die fortwährend aktualisierten Bestandsübersichten bündelt, könnte, so die aktuellen Diskussionen auf Landesebene, bei einer Institution wie dem LiteraturRat NRW angesiedelt sein.


V.
Bei den erwähnten Diskussionen auf Bundes- und Länderebene wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, wie ein Literaturarchiv im Idealfall auszusehen habe und in wessen Trägerschaft es fallen solle. In einer Erklärung vom 18. August 1999 stellte der NRW-Landesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller einen Forderungskatalog auf, in dem es heißt:

„Der Zustand vieler Archive ist mangelhaft <...>. die Unterbringung in einem dafür geeigneten Haus – auf dem neuesten Stand der Technik und mit qualifiziertem Personal <...>. Viele Nachlässe <...> müssen mit modernen Mitteln dauerhaft erhalten werden. Dazu ist es nötig, auf Verfahren wie die Mikroverfilmung zurückzugreifen. Diese Aufgabe kann nur gemeistert werden, wenn eine systematische Zusammenarbeit vieler Institutionen erfolgt.“ Bei der Frage, „wer wo was“ sammele, sei der Blick „auch auf zeitgenössische Literatur“ zu richten, „schon jetzt soll ein Archivsystem für die lebenden Autorinnen und Autoren angelegt werden. Diese Aufgabe ist Sache von Stiftungen, Kultusbehörden und in Ausnahmefällen auch von privaten Sammlern.“

Die gelegentliche Forderung nach einem Zentralinstitut für literarische Nachlässe wurde in den geschilderten Debatten verworfen. Gegen ein solches Institut (NRW-Literaturarchiv), wie auf bundesdeutscher Ebene das „Deutsche Literaturarchiv“ in Marbach, wurde wiederholt vorgebracht, dass in der dortigen Vielzahl hochkarätiger Literaturnachlässe Bestände mittlerer Wertigkeit untergehen würden. Der Vorteil kleinerer Archive liege darin, dass sie „näher am Autor“ seien und auch unter regionalen Gesichtspunkten eher motiviert sind, sich für ihre Autoren einzusetzen. Besonders Regionalarchive erfreuten sich eines regen Zulaufs. Man schloss sich stattdessen der Argumentation Rogalla von Biebersteins an, der bereits dafür plädiert hatte, literarisch wertvolle Nachlässe in den „historischen Landesteilen“ Rheinland und Westfalen zu belassen. Dort sei das Interesse an einer Aufbewahrung und Aufarbeitung größer als in einem übergeordneten Großinstitut. Eine Trägerschaft durch eine Städte komme, wie vom Städtetag bereits in den 1970er Jahren konstatiert wurde, nicht in Frage. Die Städte verfügen weder über ausreichende Mittel, um literarische Archive personell und organisatorisch auszustatten, noch können sie darüber hinaus eine fachgerechte Lagerung der Materialien garantieren. Grundsätzlich sei, so das Resümee Rogalla von Biebersteins, eine Zuständigkeitserweiterung der Landschaftsverbände zu erörtern.

Josef A. Kruse, Vorsitzender des Literatur Rats NRW, prägte in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionenen den Begriff eines „gestaffelten Zentralismus“. Dieser sei durch die Gründung von Institutionen, die sich auf dem Bereich der regionalen Literaturforschung engagierten (das Heine-Institut für die rheinische Seite, die Literaturkommission für Westfalen für die westfälische) bereits weitgehend vorbereitet. Es fehle jedoch an einer verbesserten finanziellen und personellen Ausstattung, die es den genannten Institutionen ermögliche, die Aufgaben umfassender wahrzunehmen.


VI.
Die Basis für eine wirksame Aufarbeitung der regionalen Literatur im westfälischen Bereich hat der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) bereits Ende der 1980er Jahre gelegt. 1989 wurde im LWL ein eigenes „Referat Literatur“ eingerichtet, das in der Folgezeit zahlreiche Projekte zur westfälischen Literaturforschung realisierte. Die Arbeit des Referats wird seit 1998 in der neu gegründeten Literaturkommission für Westfalen, einer von sechs wissenschaftlichen Kommissionen des LWL, fortgesetzt, wo Literaturwissenschaftlern und Literaturvermittlern nunmehr eine Arbeitsplattform und ein Diskussionsforum geboten wird. Für die Realisierung von Forschungsvorhaben, deren breit angelegtes Spektrum vom Mittelalter bis zur Gegenwart reicht, stellt der LWL einen jährlichen Etat zur Verfügung. Für die Publikation von Arbeitsergebnissen verfügt die Kommission über eine eigene Schriftenreihe und ein eigenes Periodikum („Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung“). Außerdem führt sie eigenständig oder mit Kooperationspartnern wissenschaftliche Tagungen und Workshops durch und beteiligt sich an Forschungsvorhaben Dritter. In einer virtuellen „Bibliothek Westfalica“ werden ‚vergessene‘ Texte westfälischer Autorinnen und Autoren wieder zugänglich gemacht. Die Kommission verfügt weiterhin über den Sonderforschungsbereich „Annette von Droste-Hülshoff“ mit einer Spezialbibliothek und -archiv. Außerdem obliegt ihr die Konzeption und wissenschaftliche Leitung des im Juni 2001 eröffneten „Museums für Westfälische Literatur“ in Oelde-Stromberg.

Die Literaturkommission vertritt einen „offenen“ Literaturbegriff. Sie bezieht interdisziplinäre Fragestellungen, neue Medien, die Gegenwartsliteratur und Gattungen wie Hörspiel, Feature usw. in ihre Arbeit ein, ohne die Grundlagenforschung zu vernachlässigen. Sie sucht nach neuen Formen der Forschung und Vermittlung, wobei sie das Internet in weitem Maße als Arbeitsplattform nutzt (www.literaturkommission.de).

Die oben genannten Defizite im Bereich der literarischen Nachlasspflege waren für die Literaturkommission von Anfang an ein zentrales Thema. In zahlreichen Diskussionen – auch mit Vertretern aus dem Archivwesen – wurden die Rahmenbedingungen für die Gründung eines „Westfälischen Literaturarchivs“ ausgelotet. Dieses sollte, wie immer wieder deutlich gemacht wurde, nicht in Konkurrenz treten zu den großen Landesbibliotheken, sondern deren Aufgabenspektrum ergänzen. Die Zielsetzung war nicht, historische Bestände zu erwerben, sondern Gegenwartsautoren/innen eine Möglichkeit für die Unterbringung ihrer Materialien anzubieten.

Außerdem sollte das Literaturarchiv längerfristig die Rolle einer Anlauf- und Clearing-Stelle für Fragen rund um das Thema „Literarische Nachlässe“ übernehmen, was eine Beraterfunktion für kleinere kommunale Archive einschließt. Als weiteres Ziel wurde der Aufbau einer vollständigen Übersichtskartei für westfälische Dichternachlässe formuliert, die auf den Internetseiten der Kommission abrufbar sein sollte. Hierbei kann auf die Ergebnisse des „Westfälischen Autorenlexikons“ zurückgegriffen werden, das für jede Schriftstellerin und jeden Schriftsteller Angaben über den Nachlass bereithält.

Seit Beginn der Planungen war eine konzeptionelle Konstante, dass ein „Westfälisches Literaturarchiv“ literaturwissenschaftliches und archivarisches Fachwissen gleichermaßen bündeln sollte. In dieser Hinsicht konnten Synergieeffekte innerhalb des Landschaftsverbandes produktiv genutzt werden. Mit dem Westfälischen Archivamt konnte ein idealer Kooperationspartner gefunden werden, der über jahrzehntelange Erfahrung in der regionalen Archivpflege zurückgreifen kann. Das Archivamt verfügt außerdem mit dem 1998 errichteten Archivzweckbau über ideale Möglichkeiten der Magazinierung. Damit ist ein größtmöglicher konservatorischer Schutz von Archivgut verbunden. Das Amt verfügt zudem über eine optimale technische Ausstattung (vom Kopierer über Mikrofichelesegeräte bis zu digitalen Datenträgern), über eine eigene Restaurierungswerkstatt und kann ganztägig geregelte Benutzerzeiten garantieren.

Die Diskussionen innerhalb der Literaturkommission flossen in eine Parlamentsvorlage zur „Gründung eines Westfälischen Literaturarchivs im Westfälischen Archivamt“ ein, die vom Kulturausschuss und vom Landschaftsausschuss im Frühjahr des Jahres 2001 befürwortet wurde. Die offizielle Eröffnung erfolgte am 3. September 2001 mit einer zweitägigen Veranstaltung anlässlich des 90. Geburtstages des Hagener Autors und vielfachen Literaturpreisträgers Ernst Meister (1911-1979). Zu diesem Anlass wurde der vom Landschaftsverband und der NRW-Stiftung angekaufte Meister-Nachlass als erster bedeutender Bestand dem Archiv übergeben.

Die Reaktionen auf die Gründung waren sehr positiv. Es wurde westfalenweit und auch in der überregionalen Presse berichtet. Zahlreiche Autoren setzten sich unmittelbar mit der Literaturkommission in Verbindung, äußerten Beratungsbedarf oder boten gleich ihren Vorlass zur Übernahme an. Es wurde einmal mehr deutlich, dass ein gravierender Informationsbedarf hinsichtlich der Frage bestand, wie man mit Nachlässen verfahren solle. Der Schriftstellerverband NRW und die westfälischen Literaturbüros boten ihrerseits weitreichende Kooperationen an.

Das „Westfälische Literaturarchiv“ kann bereits wenige Monate nach seiner Eröffnung mehrere bedeutende Bestände sein eigen nennen. Hierzu gehören Teilnachlässe bzw. Teilvorlässe von:

- Mechthild Curtius
- Rainer Horbelt
- Arnold Leifert
- Herbert Somplatzki
- Ralf Thenior
- Jürgen P. Wallmann
- Werner Warsinsky (Europäischer Literaturpreisträger 1953).

Zahlreiche weitere Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben dem Archiv ihr Interesse bekundet und ihre Unterstützung zugesagt. Der Nachlass des preisgekrönten Stadtlohner Autors Erich Jansen wurde dem Literaturarchiv längerfristig zugesichert. Alle Zusagen erfolgten, ohne dass bisher eine aktive Sammelpolitik betrieben wurde.

Ähnlich positive Erfahrungen zeitigte die fast parallel erfolgte Gründung eines „Rheinischen Literaturarchivs“ als Bestandteil des Düsseldorfer Heine-Instituts. Dort werden inzwischen Nachlässe rheinischer Autoren systematisch erfasst und möglichst auch aufgearbeitet.


VII.
Bei alledem stellt sich die grundlegende Frage, wie und wo in sinnvoller Weise Grenzen gezogen werden müssen? Wo beginnt und wo endet die Überlieferungswürdigkeit von archivalischem Material? Es wurde bereits oben angeführt, dass die Etablierung der regionalen Literaturforschung seit den 1970er Jahren zu einer Umorientierung hinsichtlich des Wertekanons geführt hat. Der Literaturbegriff wird heute offener und weiter definiert. Nicht mehr allein und ausschließlich die ästhetisch anspruchsvolle „Höhenkamm-Literatur“ oder „Höhenkunst“ steht im Blickfeld der Forschung, auch die vermeintlichen poetae minores haben das Interesse auf sich gezogen.

Eine Untersuchung, die eine solch breit angelegte Forschung paradigmatisch in die Praxis umsetzte, war Renate von Heydebrands wegweisende Studie „Literatur in der Provinz Westfalen 1815-1945“ aus dem Jahre 1983. Die Verfasserin verfolgte das Ziel, „einmal ohne vorausgehende ästhetische Wertung alle Erscheinungen des literarischen Lebens gleichermaßen zu beobachten und ganz konkret den Zusammenhang von Literatur und Leben in allen Schichten und mit allen Funktionen zu erforschen“. Dabei wurde Literatur „nicht (nur) als Kunst verstanden <...>. Literatur erscheint vielmehr als eine Form sozialen Handelns, die auch unter ganz bestimmten regional-historischen Bedingungen ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen und Handlungsnormen folgt und auf diese zurückwirkt.

Die Verfasserin nahm die Region Westfalen als Modell, um die Wechselwirkung von Literatur und Gesellschaft auf der Grundlage des „ganzen literarischen Lebens in seiner Vielfalt“ und, wie sie schreibt, „oft auch Trivialität“ zu untersuchen. So entstand eine „Literaturgeschichte des kommunikativen Handelns“, in der über das ‚Literatursystem Provinz‘ literarische Phänomene innerhalb eines komplexen historischen Bezugsfeldes dargestellt und interpretiert werden. Dem Medium Literatur wurde dabei verstärkt die Funktion zugeschrieben, gesellschaftliche und historische Zusammenhänge zu erschließen. Schriftsteller werden zu Kronzeugen ihrer Zeit. Indem sie Geschichte aus ihrem Blickwinkel perspektivieren, wird Subjektives im Objektiven sichtbar. In dieser Hinsicht gewinnen, wie neuere Forschungen gezeigt haben, selbst vermeintliche Trivialnachlässe von Heimatdichtern, Lokalgrößen, Kitschliteraten und NS-Schriftstellern an Bedeutung.

Von Heydebrands Studie stellte eindringlich unter Beweis, wie effizient es sein kann, wenn Literaturgeschichte aus einem solchen, erweiterten Blickwinkel betrieben wird. Die Ergebnisse waren nicht nur in literarischer, sondern auch in historischer und kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht von Relevanz. Die Untersuchung hat wie keine andere die westfälische Literaturforschung der letzten beiden Jahrzehnte belebt.

Die Arbeit der Literaturkommission ist, wie bereits angedeutet, einem sehr weit gefassten Literaturbegriff verpflichtet. Alle Schattierungen des literarischen Lebens werden in die Arbeit mit einbezogen, auch die Gegenwartsliteratur, neue Medien, interdisziplinäre Fragestellungen und Gattungen wie Hörspiel, Feature usw. Im Rahmen des vierbändigen Projektes „Westfälisches Autorenlexikon“ wurden über 2.000 Autorinnen und Autoren der Geburtsjahrgänge 1750 bis 1950 erfasst und umfassend aufgearbeitet. Die Materialbasis der im Autorenlexikon gesammelten Daten impliziert, dass der Kreis derjenigen, deren Nachlass potentiell im „Westfälischen Literaturarchiv“ eine Bleibe finden könnte, groß ist. Dahinter verbirgt sich ein breitgefächertes Spektrum an Aufarbeitungsmöglichkeiten.

Wieviel Nachlässe aufgenommen werden können, ist letztlich von den – noch nicht endgültig definierten – Rahmenbedingungen des Archivs abhängig. In diesem Zusammenhang spielt die Frage der finanziellen und personellen Ausstattung eine entscheidende Rolle. Von ihr ist auch abhängig, wie gut Nachlässe aufgearbeitet und der Öffentlichkeit – etwa in der Form von Ausstellungen – vorgestellt werden können.


VIII.
Es ist das erklärte Ziel des „Westfälischen Literaturarchivs“, Nachlässe nicht „verstauben“ zu lassen. Um den Archivfundus sollen sich möglichst vielfältige, intermediale Aktionen ranken. Dabei ist vor allem an Ausstellungen gedacht, die im Westfälischen Archivamt oder im Westfälischen Literaturmuseum Haus Nottbeck stattfinden können. Begleitend zur Übergabe des Ernst-Meister-Nachlasses an das Westfälische Literaturarchiv wurde beispielsweise in Kooperation mit der Bonner Ernst-Meister-Arbeitsstelle eine Kabinettausstellung mit dem Titel „Ernst Meister – zum 90. Geburtstag. Präsentation von 100 ausgewählten Exponaten aus dem Ernst-Meister-Nachlass“ gezeigt, zu der auch ein kleiner Begleitkatalog erschien. Für das Jahr 2002 plant die Literaturkommission eine Ausstellung sowie zwei Projekttage zum 80. Geburtstag des Warendorfer Autors Paul Schallück (1922-1976).

Auch die von der Literaturkommission herausgegebene Reihe „Tonzeugnisse zur westfälischen Literatur“ basiert auf Archivmaterialien. Bisher sind zwei Publikationen erschienen: die CDs „Der Schmallenberger Dichterstreit 1956. Die Originalredebeiträge und Diskussionen.“ (Münster 2000) sowie „Fern liegt Eleusis. Ernst Meister liest eigene Gedichte“ (Münster 2001). Die erstgenannte CD geht auf einen privaten Tonband-Mitschnitt im Nachlass des westfälischen Schriftstellers Erwin Sylvanus in der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek zurück, während bei der zweiten Veröffentlichung private Tonbandmitschnitte von Lesungen Ernst Meisters ausgewählt und durch Verfahren der modernen Tontechnik digital aufbereitet wurden. Beide Produktionen sind mit ausführlichen Booklets versehen. Die CDs wurden in Kooperation mit der Landesbildstelle Westfalen, einer weiteren Dienststelle des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, realisiert. Das „Westfälische Literaturarchiv“ möchte auf solchen und weiteren Partnerschaften aufbauen und diese weiter intensivieren. Auch auf diesem Wege verfolgt die Literaturkommission durch die Gründung des „Westfälischen Literaturarchivs“ das Ziel verfolgen, als Anwältin der Autorinnen und Autoren aufzutreten.

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