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Das „WestfĂ€lische Literaturarchiv im WestfĂ€lischen Archivamt“.

Ein möglichst praktischer Leitfaden von Walter Gödden und Jochen Grywatsch

I.
Jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller sieht sich irgendwann mit der Frage konfrontiert: „Wohin mit meinem (literarischen) Nachlass?“ Autorinnen und Autoren, die mit den Strukturen des literarischen Lebens gut vertraut sind, knĂŒpfen deshalb bereits zu Lebzeiten Kontakte zu regionalen oder ĂŒberregionalen Literaturarchiven. Beispiele aus dem westfĂ€lischen Bezugsrahmen sind Max von der GrĂŒn, Josef Reding oder Hugo Ernst KĂ€ufer. Sie ĂŒbergeben in bestimmten Zeitintervallen Teile ihrer Arbeitsmaterialien an sammelnde Institutionen und stellen damit sicher, dass diese der Nachwelt erhalten bleiben und bestmöglichen konservatorischen Schutz bekommen. Dasselbe gilt fĂŒr den aus Dortmund gebĂŒrtigen Peter RĂŒhmkorf, der Teile seines „Vorlasses“ dem „Deutschen Literaturarchiv“ in Marbach ĂŒbergeben hat.

Die Materialien verbleiben im Eigentum des Autors, der jederzeit Zugriff auf „sein“ Archiv behĂ€lt. Dasselbe gilt fĂŒr seine Erben. Unter UmstĂ€nden kann er die Übergabe von Materialien auch an bestimmte Bedingungen knĂŒpfen, wobei – angesichts der knappen finanziellen Ausstattung der sammelnden Institutionen – nur in wenigen FĂ€llen von einem Ankauf ausgegangen werden kann. Die Vereinbarungen werden grundsĂ€tzlich in Form von DepositalvertrĂ€gen schriftlich fixiert.

In der Regel – aber nicht notwendigerweise – steht das ĂŒbernommene Material der Forschung und allgemeinen Benutzung zur VerfĂŒgung. Auf Wunsch können aber bestimmte Manuskripte und persönliche Dokumente (hauptsĂ€chlich Briefe) mit einer Sperrfrist belegt werden; sie werden dann erst nach einer bestimmten Zeitspanne (in der Regel nach 30 Jahren) allgemein zugĂ€nglich. Eine einschrĂ€nkende Klausel kann auch besagen, dass eine Benutzung erst nach RĂŒcksprache mit dem Autor oder seinen Erben möglich ist. Auch kann die Zustimmung zur Veröffentlichung grundsĂ€tzlich oder fĂŒr eine bestimmte Dauer verwehrt werden.

Autorinnen und Autoren tun gut daran, frĂŒhzeitig fĂŒr den Verbleib ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft zu sorgen. Auf diese Weise haben sie es selbst in der Hand, sich jenes Archiv auszuwĂ€hlen, das ihnen am besten geeignet erscheint. Sie sollten sich dabei bewusst sein, dass die Archive Serviceleistungen fĂŒr sie erbringen. Anfragen sammelnder Institutionen nach Arbeitsmaterialien oder Teilen des Vorlasses sollten deshalb nicht als pietĂ€tlos, sondern unter dem Gesichtspunkt „Sicherung von Kulturgut“ betrachtet werden. Nochmals sei erwĂ€hnt, dass es gĂ€ngige Praxis ist, dass Autorinnen und Autoren bereits in frĂŒhen Jahren Teile ihres Arbeitsarchivs an sammelnde Institutionen abgeben, um damit eine dauerhafte PrĂ€senz ihres Werkes sicherzustellen.

Wenn eine Initiative des Schriftstellers ausbleibt, regiert, was den Verbleib eines Nachlasses angeht, oft das Prinzip Zufall. Die Erfahrung zeigt, dass fĂŒr Nachfahren oft Hemmschwellen bestehen, mit Bibliotheken und Archiven in Kontakt zu treten, mit diesen zu verhandeln bzw. diese Institutionen ĂŒberhaupt fĂŒr einen Nachlass zu interessieren. Oft sind die Erben nicht mit den Gegebenheiten des literarischen Lebens vertraut oder wissen den Wert eines Nachlasses nicht einzuschĂ€tzen. NachlĂ€sse, die auf diese Weise statt in ein Archiv auf einen Dachboden oder gar in eine Altpapiersammlung wandern, sind irreparabele Verluste.

Die Zeitspanne bis zur Übergabe sollte nicht zu groß sein. Sind seit dem Tod eines Autors Jahre oder Jahrzehnte vergangen, ist es in der Regel schwierig, Projekte, die sich um die Aufarbeitung eines NachlĂ€sses ranken, zu initiieren. Oft ist dann das Engagement eines Literaturinstituts, einer (hĂ€ufig universitĂ€ren) Forschungsstelle oder auch einer literarischen Gesellschaften gefragt, die sich um die Bearbeitung und gegebenenfalls um eine Edition kĂŒmmern.


II.
In der Vergangenheit fanden Autorinnen und Autoren bei der Frage, wie sie langfristig mit ihren Arbeitsmaterialien verfahren sollten, kaum Hilfe. Nur wenigen sind „Anlaufstellen“ bekannt, an die sie sich wenden können. Die in Westfalen hierfĂŒr in erster Linie in Frage kommenden Institute – die Landesbibliotheken in MĂŒnster, Dortmund und Detmold sowie als weitere grĂ¶ĂŸere Sammelstelle das „Fritz-HĂŒser-Institut fĂŒr deutsche und auslĂ€ndische Arbeiterliteratur“ – betreiben in der Regel nur fĂŒr ihre speziellen Sammelschwerpunkte eine gezielte Nachlasserwerbspolitik. Im Falle der westfĂ€lischen Gegenwartsliteratur werden diese Archive nur in AusnahmefĂ€llen aktiv. Ausschlaggebend fĂŒr die diesbezĂŒgliche ZurĂŒckhaltung sind mangelnde personelle und finanzielle Ressourcen, aber auch fehlende PlatzkapazitĂ€ten.

In der Regel pflegen diese Archive keine nĂ€heren Beziehungen zu Autoren/innen, die ihrerseits keinerlei Bindung zu den oft als anonym empfundenen Institutionen verspĂŒren. Es wird befĂŒrchtet, dass die großen Bibliotheken das Archivmaterial lediglich „verwalten“ und in Archivkellern „einmotten“. Dementsprechend gering ist die Hoffnung der Autorinnen und Autoren, dass ihre Arbeitsmaterialien „gepflegt“ und der Forschung zugĂ€nglich gemacht werden – eine Aufgabe, die Archivare sicher nicht als ureigene Aufgabe ansehen. Hier wĂ€re die Literaturwissenschaft gefragt, die im gĂŒnstigsten Fall den Archivar bei der Auswahl und Bewertung des Materials unterstĂŒtzen wird.

Wie fruchtbar eine solche Allianz ausfallen kann, zeigt das Beispiel des Dortmunder Literaturmultiplikators Fritz HĂŒser (1908-1979), der ĂŒber ein beispielhaftes Organisationstalent verfĂŒgte. HĂŒser war mit Leib und Seele Bibliothekar, Archivar, Literaturliebhaber und Literaturvermittler. Er begann 1928, damals noch im Bergbau tĂ€tig, systematisch Arbeiterliteratur (Erstausgaben, Briefe, Manuskripte) zu sammeln. Nach einem Betriebsunfall schulte er zum Bibliothekar um. 1945 wurde er Leiter der Dortmunder VolksbĂŒchereien, deren Bestand er von 12.000 auf 300.000 BĂ€nde ausbaute. Außerdem begrĂŒndete er eine Dokumentation zur proletarischen Kultur in Dortmund und im Ruhrgebiet. HĂŒsers Autorenförderung fĂŒhrte unter anderem zur GrĂŒndung der Dortmunder „Gruppe 61“, die durch ihre neue Form der Industriedichtung (Max von der GrĂŒn, GĂŒnter Wallraf, Josef Reding) bundesweit von sich reden machte. Das von HĂŒser begrĂŒndete Autorenzentrum fĂŒhrte zu einer Archivstelle fĂŒr Arbeiterliteratur, aus der das heutige „Fritz-HĂŒser-Institut fĂŒr deutsche und internationale Arbeiterliteratur“ hervorging – eine fĂŒr Europa einzigartige Sammelstelle dieser Literaturrichtung.


III.
Die unbefriedigende Situation literarischer Nachlasspflege wird in NRW bereits seit den 1970er Jahren beklagt. In einer 1978 vom Land NRW in Auftrag gegebenen Studie „Literarische NachlĂ€sse in Nordrhein-Westfalen. Erhebung und Gutachten“ (Köln 1979) konstatiert Johannes Rogalla von Bieberstein folgende MissstĂ€nde:

- das Fehlen geregelter ZustĂ€ndigkeiten beim Nachlaßerwerb; es regiere noch immer das Zufallsprinzip oder eine unproduktive Konkurrenzsituation
- fehlende bzw. unzutreffende MaßstĂ€be bei der EinschĂ€tzung des Wertes eines Nachlasses
- das Fehlen einer aktiven Nachlasserwerbspolitik, die eine Beratung von Autoren und Erben einschließt
- keine oder nur geringe Abstimmung bei AutographenankÀufen
- mangelnde germanistische Kompetenz der Archivstellen
- mangelnde Möglichkeiten zur Erschließung von NachlĂ€ssen
- das Fehlen einer Zentralkartei westfÀlischer Autographen
- mangelnde Kommunikation der Archive untereinander.

Die beschriebenen MĂ€ngel sind bis heute nicht beseitigt. Sie haben sich – so Bernd KortlĂ€nder 1998 in seinem Beitrag „Zu einigen Problemen literarischer Nachlaßpflege“ – „eher noch potenziert“.

Die Defizite fallen um so mehr ins Gewicht, als das Interesse an regionaler Literatur kontinuierlich angewachsen ist. Bereits Rogalla von Bieberstein konstatierte, dass die Zahl der Besucher von Literaturarchiven kontinuierlich gestiegen und ein hoher Grad an Auslastung zu beobachten sei. Dieser Sachverhalt gilt heute in weit höherem Maße. Die regionale Literaturforschung erlebte bundes-, ja europaweit einen beispiellosen Aufschwung. Im Laufe der siebziger Jahre gelangte die Forschung im Kontext sozialgeschichtlich-soziologischer Fragestellungen zu einer Neubewertung des Heimatbegriffs und mithin zu neuen, kritischen Perspektivierungen. Seit den 1980er Jahren kann in Westfalen von einer lebendigen Regionalliteraturforschung gesprochen werden. In den 1980er und beginnenden 1990er Jahren kam es zur NeugrĂŒndung von literarischen Gesellschaften und der Neukonzeption bzw. Wiederbelebung literarischer JahrbĂŒcher (Droste-Jahrbuch, Grabbe-Jahrbuch, Hille-BlĂ€tter, Wibbelt-Jahrbuch, Ernst-Meister-Jahrbuch). Die Veranstaltungsprogramme wurden ausgedehnt, es fanden zunehmend Kongresse und Tagungen statt. Hinzu kamen Forschungsvorhaben (z.B. durch angegliederte AB-Maßnahmen) sowie die Verwirklichung großer EditionsplĂ€ne (bis zu Gesamtausgaben) wie bei der Thomas-Valentin-Gesellschaft oder der Wibbelt-Gesellschaft. Im Laufe der 1990er Jahre entstanden mehrere Kompendien, die das Ziel verfolgten, die westfĂ€lischen Autoren der Vergangenheit und Gegenwart neu vorzustellen und zu entdecken. Zu nennen sind folgende Publikationen: „Literarische PortrĂ€ts. 163 Autoren aus Nordrhein-Westfalen“ (1991) , „Literatur-Atlas NRW. Ein Adreßbuch zur Literaturszene“ (1992) , „Schreiben, Lesen, Hören. Namen, Rezensionen, Werke. Ein Autorenreader“ (6 BĂ€nde seit 1991) , „WestfĂ€lisches Autorenverzeichnis. Autorinnen und Autoren in und aus Westfalen“ (1993) und „Literatur von nebenan. 61 Portraits von Autoren aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen“ (1995) . Ferner entstanden mehrere westfĂ€lische Anthologien und LesebĂŒcher. Stellvertretend sei hier das vierbĂ€ndige Kompendium „Literatur in Nordrhein-Westfalen 1871-1994“ (1995-1998) genannt. Herausgeber und Mitarbeiter sichteten dabei die Werke von ĂŒber 2.000 Autoren, von denen etwa 260 in die engere Auswahl einbezogen wurden.


IV.
All diese AktivitĂ€ten haben auch ein verstĂ€rktes Interesse an literarischen NachlĂ€ssen mit sich gebracht, dem auf der anderen Seite eine Stagnation im Archivwesen gegenĂŒber steht. Diese unbefriedigende Situation hat auf NRW-Ebene aktuell zu intensiven Diskussionen gefĂŒhrt. Es fanden Tagungen und Sitzungen im Heine-Institut (DĂŒsseldorf), im LiteraturRat NRW (DĂŒsseldorf) und im Bereich des Schriftstellerverbandes NRW (Köln) statt. Auf Bundesebene wurden sie auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum im Mai 1999 vertiefend diskutiert.

Ein erster Schritt zur Verbesserung der Informationslage ĂŒber literarische NachlĂ€sse stellt die von Dagmar Rohnke-Rostalski erarbeitete Dokumentation „Literarische NachlĂ€sse in Nordrhein-Westfalen“ (1995) dar. Das fast 500-seitige Kompendium wurde 1994 vom Kultusministerium des Landes NRW in Auftrag gegeben und listet auf der Basis einer Fragebogenaktion 650 NachlassbestĂ€nde auf, die in 113 Institutionen lagern. Die Studie weist einen hohen praktischen Wert auf, insbesondere weil sie auf NachlassbestĂ€nde von Autoren/innen hinweist, deren Werk nicht zum allgemeinen LektĂŒrekanon zĂ€hlen.

Bei allen Verdiensten kann nicht verschwiegen werden, dass die Untersuchung eine Reihe von Ungereimtheiten beinhaltet, die dem Insider schnell auffallen. Insgesamt weist die Dokumentation der Ă€ußerst komplexen nordrhein-westfĂ€lischen Literaturarchivlandschaft in puncto Genauigkeit und Detailliertheit der Angaben einige Defizite auf. Da sich zudem in den sechs Jahren seit Erscheinen des Kompendiumsin Bezug auf literarische NachlĂ€sse in NRW grĂ¶ĂŸere VerĂ€nderungen ergeben haben, wurde in letzter Zeit mehrfach der Ruf nach einer ĂŒberarbeiteten Version des Handbuchs möglichst in Form eines virtuellen, ergĂ€nzbaren Nachlasskatasters laut. Ein solches ĂŒbergeordnetes Internet-Portal, das die fortwĂ€hrend aktualisierten BestandsĂŒbersichten bĂŒndelt, könnte, so die aktuellen Diskussionen auf Landesebene, bei einer Institution wie dem LiteraturRat NRW angesiedelt sein.


V.
Bei den erwĂ€hnten Diskussionen auf Bundes- und LĂ€nderebene wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, wie ein Literaturarchiv im Idealfall auszusehen habe und in wessen TrĂ€gerschaft es fallen solle. In einer ErklĂ€rung vom 18. August 1999 stellte der NRW-Landesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller einen Forderungskatalog auf, in dem es heißt:

„Der Zustand vieler Archive ist mangelhaft <...>. die Unterbringung in einem dafĂŒr geeigneten Haus – auf dem neuesten Stand der Technik und mit qualifiziertem Personal <...>. Viele NachlĂ€sse <...> mĂŒssen mit modernen Mitteln dauerhaft erhalten werden. Dazu ist es nötig, auf Verfahren wie die Mikroverfilmung zurĂŒckzugreifen. Diese Aufgabe kann nur gemeistert werden, wenn eine systematische Zusammenarbeit vieler Institutionen erfolgt.“ Bei der Frage, „wer wo was“ sammele, sei der Blick „auch auf zeitgenössische Literatur“ zu richten, „schon jetzt soll ein Archivsystem fĂŒr die lebenden Autorinnen und Autoren angelegt werden. Diese Aufgabe ist Sache von Stiftungen, Kultusbehörden und in AusnahmefĂ€llen auch von privaten Sammlern.“

Die gelegentliche Forderung nach einem Zentralinstitut fĂŒr literarische NachlĂ€sse wurde in den geschilderten Debatten verworfen. Gegen ein solches Institut (NRW-Literaturarchiv), wie auf bundesdeutscher Ebene das „Deutsche Literaturarchiv“ in Marbach, wurde wiederholt vorgebracht, dass in der dortigen Vielzahl hochkarĂ€tiger LiteraturnachlĂ€sse BestĂ€nde mittlerer Wertigkeit untergehen wĂŒrden. Der Vorteil kleinerer Archive liege darin, dass sie „nĂ€her am Autor“ seien und auch unter regionalen Gesichtspunkten eher motiviert sind, sich fĂŒr ihre Autoren einzusetzen. Besonders Regionalarchive erfreuten sich eines regen Zulaufs. Man schloss sich stattdessen der Argumentation Rogalla von Biebersteins an, der bereits dafĂŒr plĂ€diert hatte, literarisch wertvolle NachlĂ€sse in den „historischen Landesteilen“ Rheinland und Westfalen zu belassen. Dort sei das Interesse an einer Aufbewahrung und Aufarbeitung grĂ¶ĂŸer als in einem ĂŒbergeordneten Großinstitut. Eine TrĂ€gerschaft durch eine StĂ€dte komme, wie vom StĂ€dtetag bereits in den 1970er Jahren konstatiert wurde, nicht in Frage. Die StĂ€dte verfĂŒgen weder ĂŒber ausreichende Mittel, um literarische Archive personell und organisatorisch auszustatten, noch können sie darĂŒber hinaus eine fachgerechte Lagerung der Materialien garantieren. GrundsĂ€tzlich sei, so das ResĂŒmee Rogalla von Biebersteins, eine ZustĂ€ndigkeitserweiterung der LandschaftsverbĂ€nde zu erörtern.

Josef A. Kruse, Vorsitzender des Literatur Rats NRW, prĂ€gte in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionenen den Begriff eines „gestaffelten Zentralismus“. Dieser sei durch die GrĂŒndung von Institutionen, die sich auf dem Bereich der regionalen Literaturforschung engagierten (das Heine-Institut fĂŒr die rheinische Seite, die Literaturkommission fĂŒr Westfalen fĂŒr die westfĂ€lische) bereits weitgehend vorbereitet. Es fehle jedoch an einer verbesserten finanziellen und personellen Ausstattung, die es den genannten Institutionen ermögliche, die Aufgaben umfassender wahrzunehmen.


VI.
Die Basis fĂŒr eine wirksame Aufarbeitung der regionalen Literatur im westfĂ€lischen Bereich hat der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) bereits Ende der 1980er Jahre gelegt. 1989 wurde im LWL ein eigenes „Referat Literatur“ eingerichtet, das in der Folgezeit zahlreiche Projekte zur westfĂ€lischen Literaturforschung realisierte. Die Arbeit des Referats wird seit 1998 in der neu gegrĂŒndeten Literaturkommission fĂŒr Westfalen, einer von sechs wissenschaftlichen Kommissionen des LWL, fortgesetzt, wo Literaturwissenschaftlern und Literaturvermittlern nunmehr eine Arbeitsplattform und ein Diskussionsforum geboten wird. FĂŒr die Realisierung von Forschungsvorhaben, deren breit angelegtes Spektrum vom Mittelalter bis zur Gegenwart reicht, stellt der LWL einen jĂ€hrlichen Etat zur VerfĂŒgung. FĂŒr die Publikation von Arbeitsergebnissen verfĂŒgt die Kommission ĂŒber eine eigene Schriftenreihe und ein eigenes Periodikum („Literatur in Westfalen. BeitrĂ€ge zur Forschung“). Außerdem fĂŒhrt sie eigenstĂ€ndig oder mit Kooperationspartnern wissenschaftliche Tagungen und Workshops durch und beteiligt sich an Forschungsvorhaben Dritter. In einer virtuellen „Bibliothek Westfalica“ werden ‚vergessene‘ Texte westfĂ€lischer Autorinnen und Autoren wieder zugĂ€nglich gemacht. Die Kommission verfĂŒgt weiterhin ĂŒber den Sonderforschungsbereich „Annette von Droste-HĂŒlshoff“ mit einer Spezialbibliothek und -archiv. Außerdem obliegt ihr die Konzeption und wissenschaftliche Leitung des im Juni 2001 eröffneten „Museums fĂŒr WestfĂ€lische Literatur“ in Oelde-Stromberg.

Die Literaturkommission vertritt einen „offenen“ Literaturbegriff. Sie bezieht interdisziplinĂ€re Fragestellungen, neue Medien, die Gegenwartsliteratur und Gattungen wie Hörspiel, Feature usw. in ihre Arbeit ein, ohne die Grundlagenforschung zu vernachlĂ€ssigen. Sie sucht nach neuen Formen der Forschung und Vermittlung, wobei sie das Internet in weitem Maße als Arbeitsplattform nutzt (www.literaturkommission.de).

Die oben genannten Defizite im Bereich der literarischen Nachlasspflege waren fĂŒr die Literaturkommission von Anfang an ein zentrales Thema. In zahlreichen Diskussionen – auch mit Vertretern aus dem Archivwesen – wurden die Rahmenbedingungen fĂŒr die GrĂŒndung eines „WestfĂ€lischen Literaturarchivs“ ausgelotet. Dieses sollte, wie immer wieder deutlich gemacht wurde, nicht in Konkurrenz treten zu den großen Landesbibliotheken, sondern deren Aufgabenspektrum ergĂ€nzen. Die Zielsetzung war nicht, historische BestĂ€nde zu erwerben, sondern Gegenwartsautoren/innen eine Möglichkeit fĂŒr die Unterbringung ihrer Materialien anzubieten.

Außerdem sollte das Literaturarchiv lĂ€ngerfristig die Rolle einer Anlauf- und Clearing-Stelle fĂŒr Fragen rund um das Thema „Literarische NachlĂ€sse“ ĂŒbernehmen, was eine Beraterfunktion fĂŒr kleinere kommunale Archive einschließt. Als weiteres Ziel wurde der Aufbau einer vollstĂ€ndigen Übersichtskartei fĂŒr westfĂ€lische DichternachlĂ€sse formuliert, die auf den Internetseiten der Kommission abrufbar sein sollte. Hierbei kann auf die Ergebnisse des „WestfĂ€lischen Autorenlexikons“ zurĂŒckgegriffen werden, das fĂŒr jede Schriftstellerin und jeden Schriftsteller Angaben ĂŒber den Nachlass bereithĂ€lt.

Seit Beginn der Planungen war eine konzeptionelle Konstante, dass ein „WestfĂ€lisches Literaturarchiv“ literaturwissenschaftliches und archivarisches Fachwissen gleichermaßen bĂŒndeln sollte. In dieser Hinsicht konnten Synergieeffekte innerhalb des Landschaftsverbandes produktiv genutzt werden. Mit dem WestfĂ€lischen Archivamt konnte ein idealer Kooperationspartner gefunden werden, der ĂŒber jahrzehntelange Erfahrung in der regionalen Archivpflege zurĂŒckgreifen kann. Das Archivamt verfĂŒgt außerdem mit dem 1998 errichteten Archivzweckbau ĂŒber ideale Möglichkeiten der Magazinierung. Damit ist ein grĂ¶ĂŸtmöglicher konservatorischer Schutz von Archivgut verbunden. Das Amt verfĂŒgt zudem ĂŒber eine optimale technische Ausstattung (vom Kopierer ĂŒber MikrofichelesegerĂ€te bis zu digitalen DatentrĂ€gern), ĂŒber eine eigene Restaurierungswerkstatt und kann ganztĂ€gig geregelte Benutzerzeiten garantieren.

Die Diskussionen innerhalb der Literaturkommission flossen in eine Parlamentsvorlage zur „GrĂŒndung eines WestfĂ€lischen Literaturarchivs im WestfĂ€lischen Archivamt“ ein, die vom Kulturausschuss und vom Landschaftsausschuss im FrĂŒhjahr des Jahres 2001 befĂŒrwortet wurde. Die offizielle Eröffnung erfolgte am 3. September 2001 mit einer zweitĂ€gigen Veranstaltung anlĂ€sslich des 90. Geburtstages des Hagener Autors und vielfachen LiteraturpreistrĂ€gers Ernst Meister (1911-1979). Zu diesem Anlass wurde der vom Landschaftsverband und der NRW-Stiftung angekaufte Meister-Nachlass als erster bedeutender Bestand dem Archiv ĂŒbergeben.

Die Reaktionen auf die GrĂŒndung waren sehr positiv. Es wurde westfalenweit und auch in der ĂŒberregionalen Presse berichtet. Zahlreiche Autoren setzten sich unmittelbar mit der Literaturkommission in Verbindung, Ă€ußerten Beratungsbedarf oder boten gleich ihren Vorlass zur Übernahme an. Es wurde einmal mehr deutlich, dass ein gravierender Informationsbedarf hinsichtlich der Frage bestand, wie man mit NachlĂ€ssen verfahren solle. Der Schriftstellerverband NRW und die westfĂ€lischen LiteraturbĂŒros boten ihrerseits weitreichende Kooperationen an.

Das „WestfĂ€lische Literaturarchiv“ kann bereits wenige Monate nach seiner Eröffnung mehrere bedeutende BestĂ€nde sein eigen nennen. Hierzu gehören TeilnachlĂ€sse bzw. TeilvorlĂ€sse von:

- Mechthild Curtius
- Rainer Horbelt
- Arnold Leifert
- Herbert Somplatzki
- Ralf Thenior
- JĂŒrgen P. Wallmann
- Werner Warsinsky (EuropÀischer LiteraturpreistrÀger 1953).

Zahlreiche weitere Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben dem Archiv ihr Interesse bekundet und ihre UnterstĂŒtzung zugesagt. Der Nachlass des preisgekrönten Stadtlohner Autors Erich Jansen wurde dem Literaturarchiv lĂ€ngerfristig zugesichert. Alle Zusagen erfolgten, ohne dass bisher eine aktive Sammelpolitik betrieben wurde.

Ähnlich positive Erfahrungen zeitigte die fast parallel erfolgte GrĂŒndung eines „Rheinischen Literaturarchivs“ als Bestandteil des DĂŒsseldorfer Heine-Instituts. Dort werden inzwischen NachlĂ€sse rheinischer Autoren systematisch erfasst und möglichst auch aufgearbeitet.


VII.
Bei alledem stellt sich die grundlegende Frage, wie und wo in sinnvoller Weise Grenzen gezogen werden mĂŒssen? Wo beginnt und wo endet die ÜberlieferungswĂŒrdigkeit von archivalischem Material? Es wurde bereits oben angefĂŒhrt, dass die Etablierung der regionalen Literaturforschung seit den 1970er Jahren zu einer Umorientierung hinsichtlich des Wertekanons gefĂŒhrt hat. Der Literaturbegriff wird heute offener und weiter definiert. Nicht mehr allein und ausschließlich die Ă€sthetisch anspruchsvolle „Höhenkamm-Literatur“ oder „Höhenkunst“ steht im Blickfeld der Forschung, auch die vermeintlichen poetae minores haben das Interesse auf sich gezogen.

Eine Untersuchung, die eine solch breit angelegte Forschung paradigmatisch in die Praxis umsetzte, war Renate von Heydebrands wegweisende Studie „Literatur in der Provinz Westfalen 1815-1945“ aus dem Jahre 1983. Die Verfasserin verfolgte das Ziel, „einmal ohne vorausgehende Ă€sthetische Wertung alle Erscheinungen des literarischen Lebens gleichermaßen zu beobachten und ganz konkret den Zusammenhang von Literatur und Leben in allen Schichten und mit allen Funktionen zu erforschen“. Dabei wurde Literatur „nicht (nur) als Kunst verstanden <...>. Literatur erscheint vielmehr als eine Form sozialen Handelns, die auch unter ganz bestimmten regional-historischen Bedingungen ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen und Handlungsnormen folgt und auf diese zurĂŒckwirkt.

Die Verfasserin nahm die Region Westfalen als Modell, um die Wechselwirkung von Literatur und Gesellschaft auf der Grundlage des „ganzen literarischen Lebens in seiner Vielfalt“ und, wie sie schreibt, „oft auch TrivialitĂ€t“ zu untersuchen. So entstand eine „Literaturgeschichte des kommunikativen Handelns“, in der ĂŒber das ‚Literatursystem Provinz‘ literarische PhĂ€nomene innerhalb eines komplexen historischen Bezugsfeldes dargestellt und interpretiert werden. Dem Medium Literatur wurde dabei verstĂ€rkt die Funktion zugeschrieben, gesellschaftliche und historische ZusammenhĂ€nge zu erschließen. Schriftsteller werden zu Kronzeugen ihrer Zeit. Indem sie Geschichte aus ihrem Blickwinkel perspektivieren, wird Subjektives im Objektiven sichtbar. In dieser Hinsicht gewinnen, wie neuere Forschungen gezeigt haben, selbst vermeintliche TrivialnachlĂ€sse von Heimatdichtern, LokalgrĂ¶ĂŸen, Kitschliteraten und NS-Schriftstellern an Bedeutung.

Von Heydebrands Studie stellte eindringlich unter Beweis, wie effizient es sein kann, wenn Literaturgeschichte aus einem solchen, erweiterten Blickwinkel betrieben wird. Die Ergebnisse waren nicht nur in literarischer, sondern auch in historischer und kultur- und mentalitÀtsgeschichtlicher Hinsicht von Relevanz. Die Untersuchung hat wie keine andere die westfÀlische Literaturforschung der letzten beiden Jahrzehnte belebt.

Die Arbeit der Literaturkommission ist, wie bereits angedeutet, einem sehr weit gefassten Literaturbegriff verpflichtet. Alle Schattierungen des literarischen Lebens werden in die Arbeit mit einbezogen, auch die Gegenwartsliteratur, neue Medien, interdisziplinĂ€re Fragestellungen und Gattungen wie Hörspiel, Feature usw. Im Rahmen des vierbĂ€ndigen Projektes „WestfĂ€lisches Autorenlexikon“ wurden ĂŒber 2.000 Autorinnen und Autoren der GeburtsjahrgĂ€nge 1750 bis 1950 erfasst und umfassend aufgearbeitet. Die Materialbasis der im Autorenlexikon gesammelten Daten impliziert, dass der Kreis derjenigen, deren Nachlass potentiell im „WestfĂ€lischen Literaturarchiv“ eine Bleibe finden könnte, groß ist. Dahinter verbirgt sich ein breitgefĂ€chertes Spektrum an Aufarbeitungsmöglichkeiten.

Wieviel NachlĂ€sse aufgenommen werden können, ist letztlich von den – noch nicht endgĂŒltig definierten – Rahmenbedingungen des Archivs abhĂ€ngig. In diesem Zusammenhang spielt die Frage der finanziellen und personellen Ausstattung eine entscheidende Rolle. Von ihr ist auch abhĂ€ngig, wie gut NachlĂ€sse aufgearbeitet und der Öffentlichkeit – etwa in der Form von Ausstellungen – vorgestellt werden können.


VIII.
Es ist das erklĂ€rte Ziel des „WestfĂ€lischen Literaturarchivs“, NachlĂ€sse nicht „verstauben“ zu lassen. Um den Archivfundus sollen sich möglichst vielfĂ€ltige, intermediale Aktionen ranken. Dabei ist vor allem an Ausstellungen gedacht, die im WestfĂ€lischen Archivamt oder im WestfĂ€lischen Literaturmuseum Haus Nottbeck stattfinden können. Begleitend zur Übergabe des Ernst-Meister-Nachlasses an das WestfĂ€lische Literaturarchiv wurde beispielsweise in Kooperation mit der Bonner Ernst-Meister-Arbeitsstelle eine Kabinettausstellung mit dem Titel „Ernst Meister – zum 90. Geburtstag. PrĂ€sentation von 100 ausgewĂ€hlten Exponaten aus dem Ernst-Meister-Nachlass“ gezeigt, zu der auch ein kleiner Begleitkatalog erschien. FĂŒr das Jahr 2002 plant die Literaturkommission eine Ausstellung sowie zwei Projekttage zum 80. Geburtstag des Warendorfer Autors Paul SchallĂŒck (1922-1976).

Auch die von der Literaturkommission herausgegebene Reihe „Tonzeugnisse zur westfĂ€lischen Literatur“ basiert auf Archivmaterialien. Bisher sind zwei Publikationen erschienen: die CDs „Der Schmallenberger Dichterstreit 1956. Die OriginalredebeitrĂ€ge und Diskussionen.“ (MĂŒnster 2000) sowie „Fern liegt Eleusis. Ernst Meister liest eigene Gedichte“ (MĂŒnster 2001). Die erstgenannte CD geht auf einen privaten Tonband-Mitschnitt im Nachlass des westfĂ€lischen Schriftstellers Erwin Sylvanus in der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek zurĂŒck, wĂ€hrend bei der zweiten Veröffentlichung private Tonbandmitschnitte von Lesungen Ernst Meisters ausgewĂ€hlt und durch Verfahren der modernen Tontechnik digital aufbereitet wurden. Beide Produktionen sind mit ausfĂŒhrlichen Booklets versehen. Die CDs wurden in Kooperation mit der Landesbildstelle Westfalen, einer weiteren Dienststelle des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, realisiert. Das „WestfĂ€lische Literaturarchiv“ möchte auf solchen und weiteren Partnerschaften aufbauen und diese weiter intensivieren. Auch auf diesem Wege verfolgt die Literaturkommission durch die GrĂŒndung des „WestfĂ€lischen Literaturarchivs“ das Ziel verfolgen, als AnwĂ€ltin der Autorinnen und Autoren aufzutreten.

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