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Eberhard Illner: Sammlungen und private Archive - eine Aufgabe für kommunale Archive?

Vortrag, gehalten zur Tagung der Fachgruppe Kommunalarchive im Verband Deutscher Archivare, Augsburg 2004

Kommen wir zum nächsten Argument: dem historischen. Wer hat sich in der Vergangenheit um Dokumentensammlungen und (Brief)-Nachlässe gekümmert? Welche Aufgabenteilung hat sich dabei herausgebildet?

Während die Geschichte der Dokumentensammlungen weit in die Frühe Neuzeit ja in das Mittelalter zurückreicht (Predigtsammlungen, genealogische Sammlungen, militärtechnische Manuskripte, Karten und Pläne, nautische Aufzeichnungen) so setzt die große Zeit der Briefnachlässe erst mit der Aufklärung und einer individuellen Briefkultur (Gellert) ein. Insbesondere das 19. Jahrhundert gilt als Hochzeit historisch relevanter Privatkorrespondenzen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt dies bereits ab. Wie es einmal mit der Überlieferung der Elektro-Briefkultur des 21. Jahrhunderts aussehen wird, darüber läßt sich herrlich spekulieren.

Zurück ins 19. Jahrhundert: Die Anregung, eigene Archive für Nachlässe einzurichten, ging 1889 von Wilhelm Dilthey aus. Er schlug vor, mehrere Literaturarchive je nach den Perioden der Literaturgeschichte einzurichten: in Weimar für die Klassik, in Heidelberg für die Humanisten, in Stuttgart für die schwäbischen Dichter, in Tübingen für Theologie, Aufklärung in Hannover, die Historische Schule in Berlin. 1891 wurde die Literaturarchivgesellschaft gegründet. Die Sammlung wuchs und ist heute Teil des Archivs der Akademie der Künste, die aktuell rege Aktivitäten auf dem Gebiet der Nachlasspflege entwickelt. Ähnliches hat sich fortgesetzt und ist weitausgreifend ausgebaut worden in Marbach und Weimar. Wir haben es also in Deutschland mit einer Struktur von Spezialarchiven zu tun. Ähnliches läßt sich auch in anderen künstlerischen Sparten (Architektur, Musik, Theater, Film etc.) beobachten. Genauer betrachtet handelt es sich dabei vielfach um Einrichtungen mit Archivfunktionen, die zwischen Archiv, Bibliothek, Museum und Universitärem Institut changieren, je nach organisatorisch-institutioneller Trägerschaft.


Nun ist ja jedem Ministerialdirektor in Deutschland ein solcher Wildwuchs ein Dorn im Auge. Deshalb hatte man vor 25 Jahren versucht, eine formale Zuständigkeitsabgrenzungen zu treffen. Auf Empfehlung der Kultusministerkonferenz sollten Nachlässe von Schriftstellern, Gelehrten, Musikern und Künstlern in Bibliotheken gesammelt werden, Militärs, Politiker und politische Publizisten dagegen in Archiven. Daß dieser Schematismus nie funktioniert hat und auch nicht funktionieren konnte, liegt in der Natur der Sache. Nachlasspflege ist ein individuelles und sehr persönliches Geschäft, das sich allen bürokratischen Regelungen und theoretischen Systemen entzieht. Es beruht auf Vertrauen, ein Element, das z.T. über viele Jahre zwischen Archivdirektor und Vorlasser wächst, und es beruht auch auf gewissen Sentimentalitäten gegenüber der eigenen Heimatstadt wie wir es etwa in Köln bei Hans Mayer oder Heinrich Böll erfahren haben. Über eine Maßgabe der KMK in dieser Frage hätte Heinrich Böll vermutlich geschmunzelt und Hans Mayer einen Wutausbruch bekommen.

Beachtenswert erscheint mir auch, dass die Sammelintention von Spartenarchiven und Sprengelarchiven durchaus unterschiedlich gelagert ist. Während man bei den Spartenarchiven überwiegend Selekte von Spitzenwerken sammelt – im Bereich der Architektur ist dies besonders augenfällig – so bilden die Sprengelarchive eher die Breite der Ausprägungsmöglichkeiten auf einem thematischen Feld ab, um etwa einem stadtgeschichtlich ausgewogenem Überlieferungsprofil gerecht zu werden. So verwahrt z.B. das Kölner Stadtarchiv nicht nur die Nachlässe der großen Architekten der Stadt wie etwa Hittorf, Böhm oder Riphahn, sondern eben auch die Dokumente eines Baumeisters der dritten Reihe, der in den 50er Jahren Einfachwohnungsbau im Geschmack der Zeit mit bunten Glasbausteinen betrieben hat. Die Bewertungsentscheidung beruht auf der simplen Tatsache, dass in dieser Zeit ein erheblicher Teil der Einwohner Kölns genau in solchen Verhältnissen wohnten, so dass es geradezu zwingend war, beispielhaft solche Pläne und Photos zu verwahren. Über die Schwelle des Architekturmuseums Frankfurt würden solche Unterlagen keinesfalls kommen. Und so schließen sich die Archivierungstätigkeit von Sparten- und Sprengelarchiven nebeneinander nicht aus. Vielmehr kann sich aus den unterschiedlichen Ansatzpunkten ein durchaus kreativer Wettbewerb ergeben, dessen Ausgang in inhaltlicher Hinsicht allerdings erst in 100 oder 200 Jahren entschieden sein wird.

Wichtig für uns heute ist, dass dieser Wettbewerb in der Praxis unter allen Beteiligten, d.h. Archiven aller Ebenen und Sparten, Museen, Bibliotheken und Universitätsinstituten in kooperativen Formen ausgetragen wird. Ich meine damit nicht nur kollegiale Fairness, sondern auch die Unterstützung koordinativer Instrumente – ich denke z.B. an zentralen Nachweise – Standortverzeichnis von Nachlässen des Bundesarchivs sowie Zentralkartei der Autographen der Staatsbibilothek Berlin (http://staatsbibliothek.kalliope.de), aber auch an zahlreiche regionale Nachweissysteme wie den jüngst ins Netz gestellte Portal des Rheinischen Literaturarchivs (http://www.rheinische-literaturnachlaesse.de). Denn darauf kommt es bei aller wünschenswerten Dezentralität an: Kooperation auf dem Bereich zentraler Nachweise und zentraler Informationssysteme, Kooperation hinsichtlich des fachlichen Austausches. Wir müssen zu einer Transparenz und Abstimmung beim Erwerb kommen, wenn dieser mit finanziellem Einsatz verbunden ist. Aber das ist ja ein auf jedem Archivtag stets wiederkehrendes Thema, das ich jetzt nicht vertiefen möchte.

Ich möchte nun noch zwei Argumente nennen, die so gar nicht aus archivtheoretischen Überlegungen abgeleitet sind, wo uns die Argumente ja nicht ausgehen, sondern ganz und gar aus der Praxis und aus einer ökonomischen Kosten- Nutzen Überlegung heraus:

Zum einen ist das Historische Archiv z.B. vor dem Hintergrund eines immer kleiner werdenden Personalbestandes – sozusagen aus der Not heraus – dazu übergegangen, mehr und mehr geschlossene Sammlungen Privater als Gesamtbestand zu übernehmen und die eigene aktive Sammeltätigkeit von Einzeldokumenten oder Konvoluten zurückzunehmen. Eigene Pressedokumentationen hat das Archiv ohnehin nur in zwei Sonderfällen (Böll und Porz) betrieben. Pressedienste zu städtischen Ereignissen produzierte das Presseamt. Fotodokumentationen zur Stadttopographie und zum Gebäudebestand werden durch andere Dienststellen betrieben. Und so kann sich das Archiv darauf konzentrieren, Spezialia von jenen Organisationen zu akquirieren, die auf ihrem eigenen Feld sammelnd tätig geworden sind. Hier reicht die Bandbreite von Plakatsammlungen der Ostermarschbewegung und der autonomen Hausbesetzerszene bis hin zu kompletten Sammlungen der Programmdokumentation des Kölnischen Kunstvereins oder der Kölner Philharmonie. Der Vorteil liegt nicht nur in der Arbeitsentlastung, sondern auch in der durch eigene Sammeltätigkeit nie erreichbaren Dichte und Qualität der Dokumente. Man könnte sagen: das Archiv lässt sammeln und zwar nach alter römischer Taktik durch Einsatz von Hilfstruppen, die die Bundesgenossen stellen. Entscheidend dabei ist, dass die Anbindung dieser Sammler und Gewährsleute in den einzelnen Sparten an das Archiv funktioniert und ständig gepflegt wird, dass sozusagen "vorarchivische Registraturpflege" bei Privaten betrieben wird. Dies erfordert hohen persönlichen Einsatz, zahlt sich aber erfahrungsgemäß mittel- und langfristig durch den Heimfall z.T. wertvoller Sammlungen an das Archiv aus.

Damit sind wir beim finanziellen Argument, das lautet: Sammeln schafft Werte, frühzeitiges Sammeln spart Geld, nachträgliches Sammeln wird teuer.

Im Historischen Archiv konnten in rund 200 Jahren Sammeltätigkeit über 700 Nachlässe und Sammlungen mit den Schwerpunkten Musik, Literatur, Architektur und Photographie für die Stadt Köln erworben werden. Der Regelfall war die Stiftung oder der Eigentumsübergang nach einer zeitlich definierten Depositalzeit. Ankäufe von Nachlässen sind selten und fanden nur bei bedeutenden Komponisten und Autoren statt und konnten auch nur mit Sponsoren sowie Bund/Land Zuschüssen getätigt werden. Das inzwischen versammelte Volumen und die Wertigkeit dieser Bestände ist erheblich und würde mit Leichtigkeit ein eigenständiges Kulturarchiv füllen wie das Verzeichnis der Nachlässe und Sammlungen im Stadtarchiv Köln, Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln Heft 95, Köln 2003 ausweist.

Nun nutzt diese Tatsache dem Kölner Archiv selbst herzlich wenig, denn der Wert steht nur auf dem Papier und kann, darf und soll auch nicht realisiert werden. Doch dieser Wert kann sich langfristig verzinsen. In geringerem Maße über Nutzungsentgelte. So hat das Archiv eine von Jahr zu Jahr steigende Nachfrage von Exponaten durch auswärtige Ausstellungsprojekten zu verzeichnen, nicht nur für im engeren Sinne historische Themen, sondern aus der gesamten Breite der Kultursparten. Für diese Ausleihen werden Entgelte erhoben. Als ein weiteres Projekt zur Erzielung von Einnahmen aus Sammlungsbeständen verfolge ich z.Zt. das Projekt "10.000 Bilder die Köln bewegten", eine digitale Bildagentur zur Vermarktung einer Auswahl zeitgeschichtlicher Fotos aus unserem ca 300.000 Bilder umfassenden Bildbestand. Das Projekt ist eine PPP (public privat partnerschip) mit einer professionellen Agentur, die auch das Bildmanagement der dpa in Frankfurt betreibt und auf diesem Gebiet Erfahrung hat. Ohne eine Anschubfinanzierung geht es nicht, wenn die ganze Sache professionell aufgezogen werden soll. Die Entscheidung liegt derzeit bei einem Sponsor. Rückflüsse verspreche ich mir nicht von heute auf morgen, aber mittel- und langfristig sind Einnahmen zu erwarten.

In weit höherem Maße verzinst sich die Wertigkeit der Bestände aber durch den Reflex wissenschaftlicher Forschungsarbeiten. Natürlich nicht im unmittelbaren finanziellen Rückfluß; doch der wissenschaftliche Wert von Archiven insbesondere von wertvollen Einzelfonds wird in kulturpolitischen Diskussionen und Entscheidungen zu einem wichtigen Argument. Allerdings zieht dieses Argument bei den Kulturpolitikern nur dann, wenn es sich um bekannte Namen handelt. Die Masse der vor allem für die historische Überlieferung wichtigen Sammlungsbestände haben die Archivare selbst auszuwählen, durchzusetzen und zu verantworten.

Damit bin ich am Ende doch noch zur Frage der archivischen Bewertung gekommen. Doch diese Diskussion müssen wir uns verkneifen, denn dies ist ein eigenes Thema, bei dem die Archivare letztlich auf sich allein gestellt sind und nach meinem Eindruck von der archivwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre letztlich immer wieder zurückgeworfen werden auf ganz einfache und handhabbare Bewertungskategorien.

Wenn mir bei Bewertungs- und Kassationsentscheidungen Zweifel aufkommen, dann denke ich an zukünftige Historiker, die sich vielleicht ihr Thema ähnlich wie seinerzeit der Philosoph Voltaire suchen werden. Dieser erwiderte auf die Frage, warum er eine Biographie über Karl XII. geschrieben habe, der König sei groß, rätselhaft und verrückt gewesen; das sei der Stoff, aus dem Geschichte gemacht werde. Diesen Stoff bieten – liebe Kolleginnen und Kollegen - die Sammlungen und Nachlässe in reichem Maße.

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