Das Rheinische Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts beschäftigt sich seit seiner Gründung intensiv damit, die Geschichte des literarischen Lebens im Rheinland zu dokumentieren. Ein wichtiger Schritt war dabei die Erarbeitung des Internet-Portals ”Literarische Nachlässe in rheinischen Archiven” (www.rheinische-literaturnachlaesse.de), das eine große Zahl von Autorennachlässen für eine breitere Öffentlichkeit zusammenfasste. Im Zuge dieser Recherchen stellte sich heraus, dass außer Personennachlässen auch andere Überlieferungsformen in Archiven existieren, die für Rekonstruktion und Beschreibung der regionalen Literaturgeschichte von erheblicher Bedeutung sind. Denn es lag auf der Hand, dass es neben der konkreten schriftstellerischen Betätigung von Autoren natürlich auch weitere öffentliche Vermittlungsarten von Literatur gegeben haben muss.
Wir dachten dabei etwa an Literarische Vereine und Lesegesellschaften, die sich im Zuge des großen Booms an Vereinsgründungen nach 1850 in vielen rheinischen Städten herausbildeten (vgl. dazu etwa die Arbeiten des Historiker Otto Dann). So hatten die Vorarbeiten zum Beispiel einen Bestand des Literarischen Vereins Mülheim an der Ruhr zu Tage gefördert. Hier und anderswo gab es Hinweise dafür, dass solche bürgerlichen Korporationen eine rege Veranstaltungsaktivität entwickelt hatten, diese wollten wir aus den Quellen rekonstruieren, um so etwa wie eine rheinische Lesungsgeschichte zu skizzieren.
Mit dem Aufkommen von Rundfunk und Fernsehen trat ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich die Möglichkeit, literarische Präsentationen in diesen Medien zu verbreiten. Nicht nur die riesigen Archive von WDR und Deutschlandfunk schienen hier ergiebige Arsenale zu bieten, sondern auch private Nachlässe: seit elektro-akustische Medien der Bevölkerung leicht zugänglich sind, gibt es auch hier Personen, die eigene Mitschnitte anfertigen, was für die literaturhistorische Forschung von ganz erheblichem Wert sein kann. Man denke etwa an die umfangreiche Tonbandsammlung des Buchhändlers Gerhard Ludwig im Historischen Archiv der Stadt Köln. Ludwig hatte in den frühen 50er Jahren weit über 200 Diskussions- und Vortragsveranstaltungen organisiert, die so genannten ”Mittwochsgespräche”. Unter diesen Tonbändern existieren so bedeutende Relikte wie Heinrich Bölls erster öffentlicher Kommentar zur ”Trümmerliteratur”, eine Veranstaltung mit Hans Henny Jahnn oder der legendäre Abend mit Ernst von Salomon, bei dem eine heftige Diskussion um die nationalsozialistische Verstrickung des Autors entbrannte.
Das Ziel dieses Projekts war also in der Ausgangslage, ein sachthematisches Inventar zu erstellen, das Quellen zu öffentlichen und medialen Vermittlungsformen von Literatur im Rheinland zusammenführt. Das Vorgehen war zweigleisig angelegt, nämlich empirisch und theoretisch:
1. wurde eine flächendeckende Archivanfrage gestartet.
2. wurde diese in eine literaturwissenschaftliche Methodenrecherche eingebettet.
Die Anfrage war, da wir noch nicht wirklich zielgenau einschätzen konnten, wo sich die relevanten Materialien befinden könnten, relativ global ausgerichtet. Wir fragten nach Daten über kulturelle Zusammenschlüsse, bürgerliche Vereinigungen, Arbeiterkulturvereine, Leseringe. Außerdem wollten wir wissen, ob es ggf. Nachlässe von wohlsituierten Bürgern oder Unternehmern gebe, die zum Beispiel private Soiréen mit Lesungen u.ä. veranstalteten. Auch Unterlagen über die Entstehung ortsansässiger Leihbibliotheken und Buchhandlungen waren für uns interessant, da wir diese als potenzielle Lesungsveranstalter einschätzten und uns davon zudem Aufschlüsse über die Lesepraktiken der Bevölkerung versprachen.
Die einlaufenden Ergebnisse waren allerdings nur teilweise befriedigend, was uns in der Überzeugung bestärkte, dass unsere Anfrage zu allgemein gehalten war, um wirklich die Detailinformationen, auf die wir abzielten, hervorzubringen.
Wir mussten erkennen, dass der Mülheimer Literaturverein eher ein Einzelfall als die Regel ist, dass solche Gesellschaften nur selten echte körperschaftliche Bestände gebildet haben, sondern dass sich diese Materialien eher in den Nachlassakten von Privatpersonen verbergen, die involviert waren. Was die Archive meldeten, war zudem sehr punktuell und heterogen, sowohl was die Laufzeiten anging als auch die Informationen selbst: Rückschlüsse auf öffentliche Veranstaltungen gab es nahezu keine, zumeist betrafen die Angaben das Bibliothekswesen sowie Einzelpersonen oder Vereinigungen, die sich in weitestem Sinne literarisch betätigten. Alles in allem ergab sich hier ein ausgesprochen disparates und diskontinuierliches Bild.
Dieses Anfrageresultat war jedoch kein Zufall, deckte es sich doch mit den Ergebnissen der literaturwissenschaftlichen Studie. Hier verfolgten wir zunächst eine komparatistische Linie, indem ein Strukturvergleich mit Literaturgeschichten anderer Städte und Regionen gezogen wurde. Schnell wurde dabei klar, dass die inhaltliche Zuspitzung auf die ”öffentlichen und medialen Vermittlungsformen von Literatur” thematisch eine zu starke Verengung bedeutete, bzw. umgekehrt - quellenkundlich gesehen - eine zu große Verallgemeinerung, da es schlichtweg nicht möglich ist, die einzelnen literarischen Aktivitätsbereiche auseinanderzuhalten. Denn natürlich hängen Aspekte wie Buchhandel, Bibliotheken, Literarische Gruppierungen, Lesegesellschaften, Vortragswesen, Zeitschriften etc. - alle miteinander zusammen.
In dieser riesigen Datenmenge verlieren und verästeln sich die minimalen Detailinformationen zu Lesungen u.ä. notwendig. Es geht bei solchen Ansätzen also naturgemäß um eine ganze ”literarische Infrastruktur”.
Die methodologisch-theoretische Perspektive unterstrich diesen Befund - gerade auch angesichts unserer erklärten Aufgabenstellung, forschungsinitiativ zu wirken. Demnach sollte sich die Quellenrecherche an den Bedürfnissen der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ausrichten. Deren primäres Interesse bei einer solchen Inventarisierung kann aber nur ein literatursoziologisches sein. Das heißt ganz konkret: Literatur selbst, also der faktische Text, ist dabei nachrangig, vielmehr will man zeigen, welche ”Interaktionen der an Literatur beteiligten Personen und Institutionen” (1) sich nachweisen lassen. Eine klassische Perspektive der Literatursoziologie, nämlich die Frage nach dem spezifischen ”zwischenmenschlichen Verhalten, das die Herstellung, Tradition, Diffusion und Rezeption fiktionalen Schrifttums und seiner Inhalte betreibt” (2), dem wie Hans Norbert Fügen es daher nennt ”literarischen Verhalten”, bietet den geeigneten Rahmen, um den Begriff ”Literarisches Leben” kontextuell zu verorten.
Die Themenpalette umfasst die Erforschung des Lesepublikums, Analysen des Verlags- und Bibliothekswesen, sie reicht ”von empirischen Untersuchungen des literarischen Marktes, vornehmlich der Produktions- und Rezeptionsweisen, über Erhebungen der sozialen Herkunft und der Lebensbedingungen von Autoren und Autorinnen bis zu Analysen, in denen elaborierte Gesellschaftstheorien die interpretative Richtung vorgeben.” (3)
Vor diesem Hintergrund wird klar, wie vielgestaltig die dementsprechenden Quellen sein können, bei den privaten Nachlässen kann es sich um solche von normalen Bürgern, Veranstaltern, Multiplikatoren oder ganz allgemein: Gestalten des öffentlichen Kulturlebens handeln. Genauso spielen aber auch Materialien und Überlieferungen aus dem Bereich der Wirtschaft, der Verwaltung, der Politikmit hinein.
Der Neuansatz der Recherche bezog nun folgerichtig Schriften aus dem Gebiet der Bürgertumsforschung, der Stadt- und Vereinsgeschichte mit ein, einfach um ein Geflecht ökonomischer und politischer Interdependenzen im Rheinland oder einzelner rheinischer Städte zu konturieren.
Gerade das so genannte ”Wirtschaftsbürgertum” (vgl. u.a. Klara van Eyll [4]) ist im Rheinland bemüht gewesen, auch das kulturelle und geistige Leben der Region zu gestalten und zu strukturieren. Nicht zuletzt, um das Volk gegen sozialistische Versuchungen zu immunisieren, engagierte es sich bei der Gründung von Lesegesellschaften, Volksbildungsvereinen oder widmete sich - in oft großzügiger Weise - der Förderung zahlreicher kultureller Unternehmungen.
Je mehr sich das Bild einer spezifischen Sphäre städtischer oder regionaler Bürgerkultur verdichtet, desto deutlicher kristallisieren sich entscheidende Protagonisten heraus. In ihren Nachlässen lassen sich dann häufig Hinweise über die literarischen und geistigen Aktivitäten am Ort finden.
Ein gutes Beispiel dafür ist Gustav Mevissen, unter anderem Präsident der Rheinischen Eisenbahngesellschaft, dessen Nachlass im Historischen Archiv der Stadt Köln liegt. Beziehungen zur Kultur hatte Mevissen nicht nur durch seine Mitarbeit bei der ”Rheinischen Zeitung”, sondern auch dadurch, dass er in herausragender Weise an den kulturellen Belangen in Köln Anteil nahm. In seinem Nachlass finden sich Statuten und Programmatik des Lesevereins 1861, des Volksbildungsvereins 1871, der Lesegesellschaft 1876. Er war Mitglied wissen-schaftlicher Vereinigungen und historischer Gesellschaften, unterstützte Bibliotheken und Stiftungen, machte sich für Dichter-Denkmäler stark. Mevissen mag zwar ein Sonderfall sein, jedoch demonstriert er exemplarisch, wie man in der Praxis an derartige Akten gelangen kann.
Auch eine neuerliche, verfeinerte Archivanfrage, die sich nun mehr auf Vereins-wesen, Buchhandel und Bibliotheken konzentrierte, trug Früchte. Aber insbesondere die Befragung der staatlichen Überlieferung, zunächst des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, verdeutlichte schnell, welche Aktenzusammen-hänge die gewünschten Informationen zur literarischen Infrastruktur bergen. Da es erst nach dem 2. Weltkrieg eine explizite Förderung von Literatur von Seiten des Staates aus gab, sind Belege literarischer Aktivitäten zu dieser Zeit vor allem im Bereich der Überwachung zu suchen, also bei den Oberpräsidien, den Regierungen Aachen, Düsseldorf, Köln sowie bei den Polizeibehörden verschiedener Hierarchiestufen.
Hier wurde - je nach politischem Klima der Zeit - das gesamte literarische Feld genauestens in den Blick genommen: das betrifft die Zensur, Verbot und Genehmi-gung von Schriften ebenso wie die Beobachtung von Vereinsaktivitäten, die Überwa-chung von Buchhandel und Bibliotheksbeständen. Allein im Hauptstaatsarchiv harrt ein riesiger Aktenbestand seiner sachthematischen Erschließung, der einen großen Teil der rheinischen Literatur- und Regionalgeschichte abdeckt. Die digitalisierten Findbücher des Landeshauptarchivs Koblenz ergänzen und bestätigen dieses Bild: auch die dortigen Bestände 402 (Oberpräsidium des Großherzogtums Niederrhein) und 403 (Oberpräsidium der Rheinprovinz) liefern diesbezüglich mannigfaltige Daten.
Auf der kommunalen Ebene setzt dieser Eindruck sich fort, Städte und Gemeinden, die über eine eigene Pressepolizei verfügten, haben auch deren Akten in ihren Beständen, aus denen sich zumindest ex negativo ein literarisches Leben erschließen lässt.
Das belegt im übrigen ebenso die umfangreiche Online-Datenbank ”Inventar archivarischer Quellen zur Geschichte des deutschen Buchhandels- und Verlagswesens”(http://tamino.ddb.de:1900/ddbarchiv/index.htm). Hier sind Quellen von wohl über 1000 Archiven in Deutschland zusammen getragen, die für unser Projekt ein wertvolles Fundament bieten, wenngleich die ”Enthält”-Vermerke dort zumeist nur sehr dürftig ausfallen und auch nur wenige Archive des Rheinlands Berücksichtigung fanden.
Um einer weiter gehenden wissenschaftlichen Forschung zu nützen, sind aber etwas detailliertere Angaben unabdingbar. Der interessierte Kulturwissenschaftler kann sich nicht selbst durch Hunderte von Akten wühlen, es ist wünschenswert, dass man ihm im Vorfeld signalisiert, ob er nutzbringende Informationen in einer Akte finden kann oder nicht. Gerade das Verwaltungsmaterial ist aber recht heterogen, mal finden sich darin hochinteressante Fakten, mal nur relativ belanglose, sich wiederholende Behördenkorrespondenz.
In einer Akte des Hauptstaatsarchivs, Reg. Aachen, Nr. 23187: ”Überwachung der Leihbibliotheken und der dort angebotenen Bücher und Zeitschriften” fand ich eine Anfrage des preußischen Ministers des Inneren und der Polizei von Schuckmann an die Landratsämter des Regierungsbezirks Aachen, mittels derer er sich Aufschluss über die Situation der dortigen Leihbibliotheken erbat. In der Folge meldeten die Landräte alle bekannten Leihbibliotheken in ihrem Verwaltungsbezirk, zumeist mit genauer zahlenmäßiger Angabe des Buchbestands, zum Teil sogar mit Informationen über die Art der Literatur, die geführt wird, inklusive Nennung von Autorennamen. Das heißt, anhand dieser einen Akte (und vermutlich gibt es Hunderte davon) lässt sich sehr genau sagen, welche Bibliotheken 1853 im Regierungsbezirk Aachen existierten, welche Lesemöglichkeiten die Landbevölkerung also zu dieser Zeit überhaupt hatte.
Die weiteren Schritte werden jetzt sein, das vorhandene Inventar der Deutschen Bibliothek zu vertiefen, vor allem durch knappe, aber aussagekräftige ”Enthält”-Vermerke und Ergänzung fehlender Archive, um ein möglichst lückenloses Kompendium literarischer Quellen zu liefern. Diese werden - wie in der vorliegenden Fassung - zunächst nach Archivbeständen aufgeführt. Wir versuchen zusätzlich aber noch, diese bloße Aneinanderreihung von Aktentiteln im zweiten Teil sachthematisch umzubrechen und inhaltlich zu ordnen, sie also begrifflichen Kategorien wie Lesungen und Vorträgen, Vereinen und Gesellschaften, Zensur, Buchhandel, Bibliotheken, Literaturpreisen o.ä. zuzuschlagen.
Abschließend noch ein paar Worte zum wissenschaftlichen Wert eines solchen Projekts. Die Literatursoziologie, deren allgemeine Ausrichtung ich oben knapp skizziert habe, hat unter dem Begriff ”Sozialgeschichte der Literatur” in den frühen 1980er Jahren eine stärker quellenbasierte, historisch konkrete Aktualisierung erfahren. Besonders im Anschluss an Renate von Heydebrands wirkungsreiche Studie ”Literatur in der Provinz Westfalen 1815-1945" ist der Focus schon aus materialökonomischen Gründen verstärkt auf den regionalen Bereich reduziert worden. Kleinere geografische Einheiten gestatten besser, die komplexen Austauschprozesse nachzuvollziehen, die hier eine Rolle spielen. Diese Forschungsrichtung, die zunächst vielversprechend begann(5), ist inzwischen ins Stocken geraten, so dass bereits erste Abgesänge darauf erklingen.
Es mehren sich jedoch die Stimmen, die nicht das Forschungsziel ”Sozialgeschichte” selbst, sondern eine unzureichende Aufbereitung der Quellen dafür verantwortlich machen. Eine unlängst erschienene Studie zum ”Expressionismus in Dresden” zum Beispiel kommt zu dem Schluss:
”Die hierfür notwendige archivalische Forschung ist noch keineswegs geleistet, und so können die bislang erschienenen Sozialgeschichten der Literatur (...) lediglich ein defizitäres Bild solcher Zusammenhänge liefern.”(6)
An dieser Stelle können Projekte wie dieses Inventar zur literarischen Infrastruktur der Wissenschaft vermittelnd zur Seite treten und ihr zielgenau ”harte Fakten” in Form von konkreten archivarischen Quellen zuliefern.
(1) Joachim Bark, Vorbemerkung zum von ihm herausgegebenen Band: Literatursoziologie, Bd. 1, Begriff und Methodik, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974, S. 7
(2) Hans Norbert Fügen, Wege der Literatursoziologie. Einleitung, in: ebd., S. 147
(3) Helmut Kuzmics/ Gerald Mozetic, Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis
von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz: UVK 2003, S. 35
(4) Klara van Eyll, Kölns Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert. in: Karl Möckl (Hg.), Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, München 1996, S. 251-279
(5) Unter anderem mit der Einrichtung der Münchener Forschergruppe ”Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1700-1900" und der Schriftenreihe ”Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur”
(6) Frank Almai, Expressionsmus in Dresden. Zentrenbildung der literarischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Dresden: w.e.b. Universitätsverlag 2005, 23