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Kulturelle Überlieferungen. Vereine, Verbände, Gesellschaften

Tagungsbericht von Daniela Schilling

In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Verschiebung des Dokumentationsschwerpunktes von der staatlichen und kommunalen auf die private Überlieferung ergeben. Von Einzelpersönlichkeiten, Vereinen oder Verbänden strukturierte Überlieferungen werden immer wichtiger für die historische und kulturwissenschaftliche Forschung.

Um diesem Bedeutungswandel Rechnung zu tragen, veranstaltete das Rheinische Literaturarchiv (RLA) des Heinrich-Heine-Instituts vom 25. bis 26. Oktober 2006 eine interdisziplinäre Tagung zum Thema ”Kulturelle Überlieferungen”. Gefördert vom Landschaftsverband Rheinland trafen sich Germanisten, Archivare und Historiker, um über die Zukunft der kulturellen Überlieferung zu diskutieren. Der Schwerpunkt, konzentriert auf den Untersuchungszeitraum der Jahre 1850 bis 1950, lag dabei auf der Geschichte von kulturellen Vereinigungen im Rheinland, Fragen der Bürgertumsgeschichte sowie der Vermittlung von Literatur und Kultur in rheinischen Städten.

Eingeteilt war die Tagung in drei Sektionen: Sektion I – Kulturelle Überlieferung und Sozialgeschichte. Ein theoretischer Ausblick; Sektion II – Literarische Vereine und Instanzen im Rheinland; Sektion III – Zensur und Volksbildung. Die einzelnen Blöcke beschäftigten sich mit Fragen nach der spezifischen Ausprägung literarischer Infrastruktur. Wer waren im städtischen oder regionalen Raum die Akteure, die solche Infrastrukturen erzeugten? Welche Organisationsformen existierten? Wie und aufgrund welcher Quellen lassen sich sozialgeschichtliche Zusammenhänge rekonstruieren?


Seine Begrüßungsrede begann Joseph A. Kruse damit, dass er von der Entstehung des Heinrich-Heine-Institutes und dessen Funktion als rheinisches Literaturarchiv berichtete. Bezug nehmend darauf unterstrich er die Wichtigkeit von privaten Überlieferungen im Allgemeinen und im Besonderen für das RLA.

Als Leiter der ersten Sektion begann Georg Mölich vom Landschaftsverband Rheinland (LVR), indem er Beispiele aus dem aktuellen kulturpolitischen Kontext beschrieb. Er sprach über die enge Verbindung von Literatur- und Sozialgeschichte und betonte die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit beider Disziplinen. Seiner Ansicht nach könnte nur eine flächendeckende Analyse der Literaturgeschichte auf Quellenbasis dazu beitragen, Sozialgeschichte im Detail zu analysieren.



Unter der Überschrift “Zum Stellenwert von Vereins- und Verbandsarchiven als Quellen für die Kultur- und Sozialgeschichte” gab Daniel Schläppi aus Bern nicht nur eine Einführung in aktuelle Fragestellung, sondern auch einen “Crashkurs” in Überlieferungsbildung und einen Einblick in zukunftsweisende sozialgeschichtliche Forschungsansätze. Dabei war es Daniel Schläppi - und hier bestand eine Parallele zu Georg Mölich - wichtig, den Sinn und die Bedeutung der Zusammenarbeit der geisteswissenschaftlichen Disziplinen heraus zu stellen. Daniel Schläppi schuf mit seinem Vortrag eine theoretische Analysebasis, auf die viele der folgenden Referenten verwiesen.


Enno Stahl aus dem Rheinischen Literaturarchiv (RLA) im Heinrich-Heine-Institut gab einen Überblick über die theoretischen Fundamente, die Theorie und Praxis einer Sozialgeschichte der Literatur. In seinem Vortrag “Methodische und quellenkundliche Voraussetzungen für eine Sozialgeschichte der Literatur” vertrat er die Ansicht, dass die klassische Hermeneutik nicht zwingend in eine Sozialgeschichte der Literatur einbezogen werden müsse. Bisherige Ansätze der Münchner Forschergruppe greifen seiner Meinung nach zu kurz und versuchen immer noch die ästhetische Dimension der Texte heraus zu arbeiten, anstelle konkrete Funktionszusammenhänge von Literatur auf der Basis von archivischen Quellen zu analysieren. Diese These wurde kontrovers diskutiert.


Nun folgten die Referenten der Sektion II unter der Sektionsleitung von Sabine Brenner-Wilczek (Rheinisches Literaturarchiv im Heinrich-Heine-Institut).

Beispiele der kulturellen Überlieferung auf der Grundlage archivischer Quellen aus dem Stadtarchiv Düsseldorf gab Susanne Schwabach-Albrecht. In ihrem Vortrag mit dem Thema “Literarisches Leben in Düsseldorf im Spiegel von Presse und Vereinsakten 1850-1950” erläuterte sie die Funktion einzelner Vereine für die Stadt, betonte aber, dass es sich bei den vorliegenden Ergebnissen nur um eine vorläufige Bestandsaufnahme handele und längst noch nicht alle Aspekte erschlossen wären. Eine weiterführende Auswertung der hiesigen Zeitungs- und Zeitschriftenbestände, ergänzt um weitere Recherchen in Verbands- und Vereinsarchiven sowie in Nachlässen von Funktionsträgern wird sie im Rahmen des Projekts “Literarisches Leben am Rhein” folgen lassen.


Daniela Anna Frickel aus Bonn lieferte konkrete Beispiele dafür, wie Einzelpersönlichkeiten profilgebend für Institutionen sein können. Unter der Überschrift “Kritikerbonzen? Institutionalisierte Literaturpolitik zwischen Köln und Bonn in den 1920er Jahren. Das Beispiel Adele Gerhard” stellte sie führende Kritiker des Rheinlands wie Carl Enders. Dettmar Heinrich Sarnetzki und Otto Brües vor. Das Augenmerk legte Frickel dabei vor allem auf die Intention der Kritiker beim Verfassen ihre Rezensionen und auf ihren Einfluss in der Literaturlandschaft.


Den Abschluss der Sektion II bildete Daniel Mühlenfeld aus Mühlheim, der über die “Wahrung und Wandlung eines bildungsbürgerlichen Habitus im “Revier der großen Dörfer”- Das Beispiel des Literarischen Vereins zu Mühlheim an der Ruhr 1854-1940” referierte. Nachdem Mühlenfeld zunächst über die vorhandene Quellenlage berichtete, stellte er die Besonderheiten des Vereins und seine Auswirkungen für Mühlheim an der Ruhr dar. Der Verein trug zur Ausbildung und Stärkung einer regionalen bzw. lokalen Identität bei. Die Vereinsgründung geschah jedoch durch externe Impulse von zugezogenen Lehrern aus dem örtlichen Lehrerseminar. Eine eigentliche Bürgerschicht wie sie von der Bürgertumsforschung verstanden wird, existierte in Mühlheim Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht und bildete sich erst allmählich unter Einflussnahme des Wirtschaftsbürgertums heraus. Obwohl der Verein offiziell bis 1940 bestand, war das Vereins- und Vortragsleben aufgrund geringer Mitgliederzahl nur noch ein schwacher Abglanz aus den Gründerjahren.


Den zweiten Tag des Kolloquiums eröffnete Benedikt Mauer, Stellv. Leiter des Stadtarchivs Düsseldorf. Als Leiter der Sektion III kündigte er Jürgen Herres aus Berlin und dessen Vortrag “Zensur Akte(n). Die bürokratische Hinterlassenschaft preußischer Presse- und Vereinspolitik am Rhein im 19. Jahrhundert.” an. Jürgen Herres lieferte auf der Basis der komplizierten Überlieferungsbildung im Preußischen Staatsapparat Beispiele für Zensurakten, darunter auch aus der Zensur für die berühmte und regional populäre Kölnische Zeitung.


Norbert Friedrich aus Düsseldorf verlagerte in seinem Vortrag “Mit Herz und Verstand gegen den Katholizismus. Protestantische Bildungsarbeit am Beispiel des Gustav-Adolf-Vereins” die Perspektive. Er berichtete aus organisationsgeschichtlicher Sicht über die Gustav-Adolf-Vereine. Einen besonderen Schwerpunkt legte er auf ihre Gründungsgeschichte und die damit verbundenen spezifischen Erinnerungsleistungen.


Das Schlusswort sprach Bernd Kortländer, Stellv. Leiter des Heinrich-Heine-Instituts. Er beschrieb die Tagung als ergebnisreich, auch für die Weiterführung der Projekte im “Rheinisches Literatur Archiv” des Heinrich-Heine-Instituts. Zudem sprach er die Ambivalenz von Zensur und Bespitzelung des 19. Jahrhunderts an und stellte heraus, dass diese im Grunde zwar negativ zu bewerten seien, im Rückblick aber den Effekt gehabt hätten, genau das zu bewahren, was ursprünglich verhindert werden sollte. Interessant sei während der Tagung auch die immer wiederkehrende Frage danach gewesen, wie sich “Rheinisch” überhaupt definiere. Schließlich bemerkte Bernd Kortländer, dass es sich gezeigt habe, dass die Spannbreite dessen, was ein Verein sein kann, groß sei, aber alle Vereine eins gemein hätten: Alle produzieren Überlieferungen.


Weiterhin positiv hervorgehoben werden sollte die auf der Tagung fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Weder Historiker noch Germanisten versteckten sich hinter ihren fachspezifischen Ansichten und es zeigte eine hohe Bereitschaft, neue Erkenntnisse zu diskutieren und mit den eigenen Theorien zu vergleichen.


Ein zweiter Teil der Tagung ist für Oktober 2007 geplant. Beide Kolloquien werden in einem Tagungsband publiziert.