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Wilfried Reininghaus: Zukunft für die Vergangenheit. Archive als „Gedächtnis der Menschheit“.

Eröffnungsvortrag zum Tag der Archive, gehalten in der Kunstsammlung NRW „K 20“, Düsseldorf, 5.5.2006

Verehrter Graf Looz,
meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,


ich darf mich herzlich für die Einladung bedanken, zum Tag der Archive 2006 zu Ihnen sprechen zu dürfen. Graf Looz hat ja soeben die Einbindung dieser Veranstaltung in Düsseldorf in die bundesweite Aktion des Verbands deutscher Archivare und Archivarinnen, kurz: der VdA, erklärt.

Düsseldorf und das Archivwesen in Deutschland

Ich finde es gut, dass trotz dieser für die Landeshauptstadt ungünstigen Terminlage mit der Nacht der Museen morgen und dem Düsseldorf-Marathon der Verbund Düsseldorfer Archive sich entschlossen, an der gleichzeitigen Aktion in ganz Deutschland mitzuwirken. Düsseldorf und die deutsche Archivlandschaft ist nämlich ein besonderes Thema. Der VdA ist von dieser Stadt in seiner Nachkriegsentwicklung ganz entscheidend mitgeprägt worden. Bernhard Vollmer, der Leiter des ehemaligen preußischen Staatsarchivs Düsseldorf, hat schon direkt nach Kriegsende 1945 entschiedene und erfolgreiche Versuche angestellt, die Gesamtheit der deutsche Archive unter einen Hut zu bringen und sie aus den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit in eine bessere Zukunft zu führen. Beinahe zwangsläufig wurde er schon 1946 der erste Vorsitzende des VdA. In dieser Funktion ist ihm später Helmut Dahm gefolgt, der im nordrhein-westfälischen Kultusministerium als zuständiger Referent für das Archivwesen von den späten 1950er bis in die frühen 1970er Jahre wichtige Akzente weit über NRW hinaus gesetzt hat. Auf Vollmer und Dahm geht auch zurück, dass die bis heute zentrale Fachzeitschrift für das deutsche Archivwesen, „Der Archivar“, in Düsseldorf, jetzt vom Landesarchiv, Abteilung 2, redigiert und herausgegeben wird.

Im Chor der deutschen Archive hätte also Düsseldorf nicht fehlen dürfen. Wenn man sieht, wie viele Archive in Düsseldorf mitmachen, und dann Vergleiche zieht, dann stellt man schnell fest, dass kaum eine andere Stadt, weder in Nordrhein-Westfalen noch in der ganzen Bundesrepublik, so viele teilnehmende Institutionen wie Düsseldorf aufweist. Hieraus wird eins deutlich: die Landeshauptstadt stellt einen der am dichtesten belegten und wichtigsten Archivstandorte in Deutschland überhaupt dar, hier gibt es an reiches Angebot von Archiven öffentlicher wie privater Träger. Ohne all die anderen Einrichtungen übergehen zu wollen, dürfen doch als charmante Besonderheit Düsseldorfs zum einen die Heimatarchive in Benrath und Bilk, zum anderen Archive der Künste im weitesten Sinne hervorgehoben werden.

Themen des Vortrags

Die Grundidee des archivischen Berufsverbandes, gebündelt an einem Wochenende in möglichst vielen Städten und Gemeinde in Deutschland Archive zu öffnen, verlangt nach Reflexion darüber, was Archive leisten, welche Rolle sie in unserer Gesellschaft spielen, wie sie ihrem Auftrag, „Gedächtnis der Menschheit“ zu sein, nachkommen. In einer Zeit raschen technologischen Wandels und damit verbundener gigantischer Herausforderungen ist es notwendig, solche Momente der Selbstvergewisserung einzulegen. Dies macht den ersten Teil meines Vortrags aus, in dem ich den Bogen schlagen will von der besonderen Rolle der Archive im Rahmen der Gedächtnisinstitutionen zu ihrer speziellen Aufgabe, das kulturelle Erbe zu erhalten.

Im zweiten Teil des Vortrags möchte ich mich dem Sonderthema des diesjährigen „Tages des Archive“ zuwenden. Wie Sie schon von Graf Looz hörten, ist das Motto „Der Ball ist rund“. Der Ball steht hier als Synonym für den Sport schlechthin, der nicht nur die Ballsportarten umfasst. Anläßlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, einem globalen Medienereignis, das in Milliarden Zuschauern berechnet wird, wollte der VdA deutlich zu machen, dass Sport als wesentlicher, unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft vielfach nicht angemessen dokumentiert ist. Gewiß mag mancher die Nase gerümpft haben, dass nun auch noch Sport als Teil des kulturellen Erbes angesehen wird. Auch in Düsseldorf, da verrate ich kein Geheimnis, war das Leitthema nicht unumstritten. Als jemand, dessen Biographie von Kindesbeinen vielfältig vom Sport geprägt war und noch ist, freut mich die Initiative des VdA außerordentlich, weil sie mir Gelegenheit gibt, gründlicher über „Sport und Archive“ in ihren Wechselbeziehungen nachzudenken und Handlungsfelder aufzuzeigen.

Die Gedächtnisinstitutionen Archive, Bibliotheken und Museen

Wer das Feuilleton der deutschen Tageszeitungen aufmerksam studiert, wird in jüngster Zeit immer wieder auf den Begriff „Gedächtnisinstitutionen“ stoßen. Zu ihnen gehören Archive wie Bibliotheken und Museen. Ihr gemeinsamer Auftrag besteht darin sicherzustellen, dass die Zeugnisse der entfernteren Vergangenheit wie die unserer aktuellen Gegenwart für kommende Generationen aufbewahrt und zur Verfügung gestellt werden.

In dieser Aussage, die drei Zeitebenen miteinander verbindet, kommt natürlich indirekt Schillers Gedicht „Sprüche des Confucius“ zum Vorschein, das – wie Sie schnell feststellen – geschichtstheoretisch mit nicht wenigen Implikationen behaftet ist: Ich zitiere die erste Strophe:

„Dreifach ist der Schritt der Zeit:/
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
ewig still steht die Vergangenheit.“

Keine Sorge - ich werde Sie jetzt nicht mit einer Ableitung archivtheoretischer Konzepte aus dem Geist des deutschen Idealismus langweilen. Im Gegenteil – Schiller ist zu widerlegen, denn die Zukunft kommt nicht zögernd, sie ist absehbar schon heute da, drängt und fordert uns, hält uns im Atem und verlangt nach raschen Lösungen. Auch steht die Vergangenheit nicht ewig still. Zwar sind die „tempi passati“ abgeschlossen, nicht mehr revidierbar. Aber sie sind gegenwärtig, weil sich Erinnerungen wieder einstellen und die Folgen früherer Handlungen nicht wirklich verdrängt werden können.

Dass dies möglich sei, mögen diejenigen gedacht haben, die nach 1945 die vorausgegangenen, grauenvollen „tausend Jahre“ am liebsten vergessen machen wollten. Die verspätete, aber dafür umso heftigere Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus im Großen wie im Kleinen bis in unsere Gegenwart hinein mit all’ ihren Memoiren und beinahe täglichen Fernseh-Dokus zeigt deutlich, dass Vergangenheit nicht still gestellt werden kann, sondern dass Erinnerung hervor- und sich Bahn bricht. Ohne die Fähigkeit, sich zu erinnern, drohen bleibende Schäden, droht Anamnese, Gedächtnisverlust. Erinnert wird aber aus dem Gedächtnis heraus, das im Gehirn der Einzelnen ebenso organisiert werden muß wie in der Gesellschaft.

Archive als Gedächtnisorte im Zeitalter der Informationstechnik

Bei der kollektiven Erinnerung an den Nationalsozialismus und bei der kritischen Auseinandersetzung mit ihm spielen die Archive eine herausragende Rolle. Ohne sie würden keine Materialien über Täter, Opfer oder auch nur einfache Zeitzeugenschaft zur Verfügung stehen, ohne sie hätten die Ansprüche der ehemaligen Zwangsarbeiter aus Osteuropa in den vergangenen Jahren nicht erfüllt werden können. Daß es in vielen Fällen möglich war, noch nach mehr als 50 Jahren Nachweise zu erbringen, hat den Archiven großen Respekt eingetragen. An diesem Beispiel haben sie zeigen, dass sie ganz konkrete Hilfe für einzelne leisten, dass sie gesellschaftlichen Nutzen stiften können. Aus ihrem Fundus heraus ist es möglich, Vergangenheit für Aufgaben in der Gegenwart zu rekonstruieren. Was und wie im einzelnen dieser Prozess der Rekonstruktion erfolgen kann und wird, ist nicht leicht vorherzusehen, deswegen gehört es zu den schwierigsten Aufgaben der Archive, aus der Überfülle der gegenwärtigen Überlieferungen das Erhaltenswerte für die dauerhafte Aufbewahrung auszuwählen. Wie wird sichergestellt, dass nichts wirklich Wichtiges verloren geht?

Bekanntlich leben wir in einer Zeit, die Informationen im Überfluß erzeugt. Wir drohen an ihnen zu ersticken. Die neuen Medien, aber die Vervielfältigungsmaschinen haben schon vor den 1990er Jahren zu einer Multiplizierung der überkommenen, papiergebundenen Schriftlichkeit geführt. Durch den Übergang von den Großrechnern, die nur Experten bedienen konnten, zu den Personalcomputern in den 1980er Jahren und der netzgebundenen schnellen Informationsübertragung ist dann eine weitere Beschleunigung eingetreten. Grob vereinfacht sind es zwei Entwicklungen: Erstens hat sich die Geschwindigkeit, mit der kommuniziert wird, vervielfacht. Denken Sie nur an den Tempo-Unterschied zwischen der Korrespondenz per E-mails und der Korrespondenz per Brief über die „Schneckenpost“! Zweitens entstehen immer neue Mengen an Informationen, durch angehängte Attachments, durch Mailing-Listen, aber auch durch die Webauftritte von Institutionen und Personen.

Sicherung des allgemeinen kulturellen Erbes, individuelle Rechte und
Geschichten in Archiven

Die Menge der Informationen wächst exponentiell, in einer steil ansteigenden Kurve. Doch wächst gleichzeitig auch die Fähigkeit, wenigstens einen Bruchteil dieser Informationen so zu sichern, dass unsere Enkelkinder sie noch lesen können? Wie wollen Archive, Bibliotheken und Museen garantieren, dass im Jahr 2056 die Geschichte des Jahres 2006 geschrieben werden kann? Wenn Sie aus diesen Fragen besorgte Untertöne herausgehört haben, irren Sie nicht. Denn angesichts aktuelle Geschwindigkeit der Informationsvermittlung wird allzu leicht außer acht gelassen, was überhaupt und wie es erhalten bleiben soll. Wir sichern zum einen Informationen darüber, was unsere Gesellschaft der Gegenwart im Allgemeinen und im Besonderen prägt. Diese Überlieferung halten wir offen für künftige Fragen. Jenseits des gesellschaftlichen Anliegens gibt es viele Gründe, über den Tag hinaus etwas aufzubewahren. Rechts- und Rechtesicherung ist ein großes Stichwort in diesem Zusammenhang, das Recht am Eigentum im weitesten Sinne zu sichern und damit ein zentraler Auftrag des Grundgesetzes nach Artikel 14 (Schutz des Eigentums) zu erfüllen, ist eine der vorrangigen Aufgaben der Archive. Jeder, der ein Haus kaufen will, ist davon betroffen.

Er braucht Grundbücher und die werden dauerhaft in den Archiven, in diesem Fall in denen des Landesarchivs NRW, aufbewahrt. Wer seine Vorfahren sucht, ist angewiesen auf archivische Dokumente in den Kirchen-, Kommunal- und Personenstandsarchiven. Nebenbei bemerkt haben wir gelernt, diese Art von Archivbenutzung ernst zu nehmen und Familienforschung nicht unter den Verdacht einer rassischen ausgerichteten Ahnenforschung zu stellen, sondern als legitimes Nachfragen nach den eigenen Wurzeln. Alltagsgeschichte, Mikrohistorie und Familienforschung schliessen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Im Landesarchiv dürfen wir uns über den hohen Anteil von Familienforschern freuen, für alle anderen Archiven gilt gleiches.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Archiven, Bibliotheken und Museen

Den Auftrag, die jeweils aktuelle Überlieferung für eine spätere Benutzung zu sichern und dann bereitzustellen, teilen die Archive vom Grundsatz her mit Bibliotheken und Museen. Gleichwohl gab es bisher gravierende Unterschiede zwischen diesen drei Gedächtnisinstitutionen. Um es knapp zu sagen: Bibliotheken übernehmen insbesondere gedruckte Medien, die mehrfach vorhanden sind, Archive Unterlagen von Verwaltungen und Einzelpersonen, die nur einmal vorhanden sind. Museen sammeln mehrdimensionale Objekte. Von diesen grundsätzlichen Unterschieden her haben Archive, Bibliotheken und Museen sehr unterschiedliche Strategien entwickelt, um das von ihnen betreute Kulturgut zu erschließen. Die Standardisierung der Erschließung, die bei Büchern möglich ist, fiel den Archiven schwer, die Unikate in Gesamtzusammenhänge einzuordnen hatten.

Archive können sich dabei auf einen gesetzlichen Auftrag stützen, der bei den meisten Bibliotheken und Museen fehlt. Das Aufkommen neuer Überlieferungsträger (Fotos, Filme usw.) oder auch das verbreitete Sichern von Nachlässen ließ die Gedächtnisinstitutionen näher zusammenrücken, erst recht sind sie durch das digitale Zeitalter aneinandergerückt. Zwar sind weiterhin die Unterschiede nicht trivial, wenn es um Sicherung elektronischer Texte durch eine Bibliothek, einer elektronische Akte durch ein Archiv oder eines Video-Objektes durch ein Museum geht. Doch gemeinsam ist ihnen, dass die dauerhafte Speicherung von Bits und Bytes höchst fragil ist und dass im Moment niemand zu 100% garantieren kann, ob und wie ein digitales Objekt die technischen Sprünge der nächsten Jahre überstehen wird. Gemeinsam ist allen Gedächtnisinstutionen auch die Erkenntnis, dass nicht alles aufbewahrt werden kann.

Selbst die Aussicht, gigantische Speichermengen zur Verfügung zu haben, hilft nicht darüber hinweg, dass nur eine höchst bescheidene Teilmenge dessen, was täglich an Informationen erzeugt wird, aufbewahrt werden kann. Die Archive haben dafür das methodische Instrument der Bewertung entwickelt, mit dem sie Entscheidungen darüber treffen, was aufbewahrt oder vernichtet („kassiert“) wird. Schon im analogen Zeitalter war der Ansatz höchst anspruchsvoll, jetzt ist es recht eine große Herausforderung, genau das auszuwählen, was künftigen Generationen wichtig sein könnte. Bibliotheken, so habe ich gelernt, fällt diese Aufgabe nicht leicht, weil sie je nach Auftrag Vollständigkeit angestrebt haben. Museen haben schon immer selektiv, häufig nach ästhetischen Kriterien gesammelt.

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