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Gertrude Cepl-Kaufmann: Entwürfe von »Heimat« bei Autoren des Rheinlandes

Hermann Hesse und das Rheinland

Aus dem Katalog: "Beiden Rheinufern angehörig". Hermann Hesse und das Rheinland (hrsg. v. Sabine Brenner, Kerstin Glasow und Bernd Kortländer), Düsseldorf 2002 (Reihe: Ausstellungskataloge des Heinrich-Heine-Instituts, hrsg v. Joseph A. Kruse) - vgl. dort: alle Fußnoten und Quellenangaben, die hier aus technischen Gründen entfallen!)



Heimat und Heimatverlust als Signum der Moderne


Im Jahre 1884 hat Friedrich Nietzsche das unübersehbar heraufdämmernde Entfremdungsgefühl der Schriftsteller und Intellektuellen seiner Generation bündig formuliert. Es erstaunt nicht, daß er es an den Topos ›Heimat‹ gebunden hat. Das Gefühl der Ausweglosigkeit, das ihn angesichts einer in den Metaphern von Winter und Wüste kenntlich gemachten Heimatlosigkeit ergriff, wird im Gedicht »Vereinsamt« im Spannungsfeld von Noch-Haben und Verlust, der Bruchstelle zwischen Existenz und Passion verortet. Er unterlegt damit der Zeitdiagnose ein Moment des Unaufhaltsamen, in dem der Übergang von der Sicherheit einer stabilen Identität in die geistige Obdachlosigkeit, festgemacht an einer den Heimatverlust signalisierenden Unbehaustheit, bereits mental vollzogen ist.

Vereinsamt

Die Krähen schrei‘n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei‘n
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehts Du starr,
Schaust rückwärts, ach! Wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor winters in die Welt entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei‘n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
– Bald wird es schnei‘n,
Weh dem, der keine Heimat hat!


In Rainer Maria Rilkes Gedicht »Herbsttag« heißt es »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.« Auch hier ist es die Diagnose der Heimatlosigkeit, die den Tenor des Gedichtes bestimmt. Im Denkbild »Haus« manifestiert sich dieses Bedürfnis nach Geborgenheit und Wärme einerseits, Abgeschlossenheit gegenüber einer als bedrohlich empfundenen Welt andererseits. Hans Egon Holthusen diagnostizierte 1951 die Übriggebliebenen der Nachkriegszeit im Typ des »unbehausten«, heimatlosen Menschen, und Günter Eich sinnierte bei seiner Inventur im Schlammloch des Kriegsgefangenenlagers »Camp 16« mit Blick auf den nun endgültig entromantisierten Rhein:

Durch den Stacheldraht schau ich
Grad auf das Fließen des Rheins.
Ein Erdloch daneben bau ich,
Ein Zelt habe ich keins.

Bis in die Gegenwart durchziehen Erfahrungen der Heimatlosigkeit die Literatur, etwa in Christa Wolfs Erzählung »Kein Ort. Nirgends« , in der die Heimatlosigkeit eines Heinrich von Kleists und einer Karoline von Günderode gebündelt wird und in einem fiktiven Treffen am Rhein kulminiert. Beide haben ihre Heimatlosigkeit mit einem Selbstmord beantwortet. Der Verlust existentieller Sicherheit ist zweifelsfrei synonym mit dem Begriff ›Heimat‹. Ina Maria Greverus hat entsprechend diesen Heimatbegriff anthropologisch fundiert. Aber gibt es Heimat überhaupt? Ist Heimat nicht immer gebunden an ihr Gegenteil, die Erfahrung ihrer Abwesenheit? Ist sie nicht überhaupt nur eine Konstruktion, im besten Fall eine nur im Negativ zu fassende Utopie, wie dies Ernst Bloch in seiner klassischen Definition von Heimat versucht? Gebunden an ein politisches Denkbild zählt »Heimat« zum »Prinzip Hoffnung«, denn wenn der Mensch »sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: ›Heimat‹.«
Warum war der Topos ›Heimat‹ für Autoren vor Beginn des Ersten Weltkrieges wichtig? Noch schien man in einer »Welt der Sicherheit« zu leben, wie Stefan Zweig sie im ersten Kapitel seiner Autobiographie »Die Welt von gestern« beschrieben hat. Was bedeutete sie den Autoren des Rheinlandes, von denen hier im Kontext einer Ausstellung zu Hermann Hesse die Rede sein soll? Heimat war auch in der Zeit um die Jahrhundertwende ein vielbeschworener Mythos. Friedrich Lienhard hatte mit der Devise »Los von Berlin« den Gegner markiert: die Großstadt, gekennzeichnet durch Anonymität und Masse. Sie ließ dem Einzelnen keinen Raum der Identität, verwehrte ihm eine seelische Heimat. Wilhelm Schäfer, der wie Lienhard seine Erfahrungen der Berliner Großstadtwelt als negativ resümierte und in seiner Autobiographie »Rechenschaft« unter der Rubrik »Das verhehlte Leben« abgebucht hatte, begab sich ins Rheinland, wurde, wie die Ausstellung zeigt, Herausgeber einer für das Rheinland identitätsstiftenden Zeitschrift und entfernte sich letztlich mit seinen immer weiter den Rhein heraufwandernden Wohnsitzen so weit von jeder städtischen Kultur, daß er mit der »Sommerhalde« am Bodensee in einen gegenwartsfreien Raum geriet, auf dessen Hintergrund ihm mit dem Entwurf »der deutschen Seele« ein heimatversprechendes Gegenmodell zur aktuellen Nachkriegskrise gelungen schien. Doch davon war der Schäfer der Vorkriegszeit noch weit entfernt. Erst das Versagen der Eliten in diesem Krieg und danach, zu dem man auch den unermüdlich streitenden Schäfer, nicht aber den bereits in den ersten Kriegstagen andere »Töne« anmahnenden Hesse zählen muß, veränderte die politische und literarische Landschaft fundamental. Zwischen einem Schäfer und einem Lienhard, Initiator der ›Heimatkunstbewegung‹, und deren spezifischer Option für einen Heimat-Diskurs, bestand durchaus noch ein wesentlicher Unterschied. Dies ist bei der Charakterisierung ›heimatverdächtiger‹ Denkbilder bei Schriftstellern am Rhein festzuhalten. Programm solcher Denkbilder war die Restitution anachronistischer lebensweltlicher Strukturen, wie sie idealtypisch in Gustav Frenssens norddeutsch angesiedeltem Roman »Jörn Uhl« literarische Gestalt gewinnen. Die Rückbesinnung auf die Rheinregion, wie sie die Zeitschrift »Die Rheinlande« prägte, stand zwar unter dem Motto einer antizivilisatorischen Entrüstung, doch war dahinter keinesfalls die Sehnsucht nach der Restitution einer bäuerlich agrarischen Gesellschaft zu sehen. Der umfangreiche Katalog zu der 2001/02 in Darmstadt gezeigten Ausstellung zur Lebensreform hat das breite Spektrum dieser Bewegung vom Anarchismus bis zum Wandervogel erstmals deutlich gemacht. In der Architektur und im Kunstgewerbe etwa ging es nicht um die Verherrlichung von Fachwerk oder Dorfkultur, sondern um die Überwindung des unerträglichen Stileklektizismus eines Historismus und der Gründerzeit. Hier meldete sich, dies zeigt vor allem die Kunstgewerbebewegung, der auch »Die Rheinlande« nahe standen, ein durchaus moderner Anspruch.
Blickt man auf die Schriftsteller dieser Zeit, so zeigt sich, daß die Autoren der Region sich in besonderer Weise auf ihre Heimat besonnen haben, aber daß auch hier von Blut und Boden nicht die Rede sein kann. Genannt seien die aus dem Gros des Mittelfeldes herausragenden Autoren Josef Winckler und Josef Ponten.


Josef Wincklers Hymnen an die moderne Arbeitswelt am Rhein


Als sich Ostern 1912 der Homberger Zahnarzt Josef Winckler mit dem Syndikus der »Thüringischen Porzellanmanukfakturen« Wilhelm Vershofen im Kölner »Gasthof zur Ewigen Lampe« traf, um den Bund der »Werkleute auf Haus Nyland« zu begründen, dem sich Autoren wie Gerrit Engelke, Jakob Kneip, Heinrich Lersch und Carl Maria Weber, aber auch Maler wie Carlo Mense und Franz M. Jansen anschlossen, war dies keineswegs ein ungewöhnlicher Schritt in eine künstlerische Gemeinschaft. Allenthalben hatten sich seit dem Ende des gerade vergangenen Jahrhunderts vor allem im akademischen Umfeld alternative Ideen durchsetzen und in sozialen Formen eines neuen Gemeinschaftsdenkens manifestieren können. Der gemeinsame Gegner war die moderne Industriegesellschaft mit ihrer zumeist großstädtisch geprägten Zivilisation und Gesellschaft, der man sich durch bewußte Abkehr und bekennerische Zusammenschlüsse zu entziehen versuchte. Als »Sezessionismus« ist uns dieses Heraustreten aus den Zwängen der Kunstakademien bekannt, bindet sich an die Berliner, Wiener, Münchner oder Darmstädter Sezession, dürfte aber mit dem kleinen, bis dahin gänzlich unbekannten Heideort Worpswede oder der schweizerischen Monistenenklave auf dem »Monte Verità« bei Ascona eine topographisch besonders nachhaltige, auch noch heute spürbare Präsenz gewonnen haben. Der Nylandbund forderte, entgegen seiner eigenen Vorbehalte gegenüber Berlin, eine Hinwendung zur modernen Arbeitswelt, sagte der in dieser Zeit symptomatischen Literatur der Dekadenz und eines weltfremden Ästhetizismus den Kampf an. Die 1914 in Buchform erschienenen »Eisernen Sonette« konfrontieren den Leser mit einer durch Bergwerke und Industrie geprägten Niederrheinlandschaft. Auch die Winklersche »Rhapsodie« auf einen »Rheinbagger« stand jeder romantischen Instrumentalisierung des Flusses entgegen.
Wir erleben einen Kreis von Nixen in sentimentaler Rückschau in die romantischen Zeiten des Rheins, von denen seit den Zeiten von »Kodak, Fernglas und Baedeker« nichts übrig geblieben ist. Herzstück dieser Beschwörung der Vergangenheit ist die alte Idee des »großen, heiligen, deutschen Reiches« , die Zeit der Kathedralen und der geistigen Zeugen wie Cäsarius von Heisterbach und die großen Mystiker Albertus Magnus, Meister Eckhart und Suso, die aus »tiefster Pantheisten-Mystik Geistergrund« den Rhein belebten. Als Garant dieser Reichseinheit aus dem Geist des rheinischen Westens erscheint Karl der Große. Doch nun sind Stärke und Schönheit verblichen, »alles vorbei« . Der evozierten Idylle folgt der Verzweiflungsschrei aller Nixen »durcheinander, die Augen zuhaltend« , wie es in der Regieanweisung heißt. Anklagend weisen sie auf das zerschundene Rheinland, aufbereitet mit zivilisationskritischer Metaphorik:

Hundertköpfig rauscht es
An Giebeln, Kuppeln, grell elektrisch besonnten,
Krampfhaft taumelt’s wie Veitstanzjagd,
Staube flattern, grausig kreiselt Qualm-Schein,
Fabriken, Mietskasernen, Stapelhöfe bersten
Menschenklumpen nach allen Horizonten,
Aus der Gassen lebendigen Schindangern
Dampft Gestank,
Häfen starr‘n wie finstre Wälder
Voll nackter Bäume, dunstschwer, sausend, schaukelnd
Wie Totenstege ächzen die Ponten.

Es sind die »Erkenntnis-Wut, Genuß-Besessenheit«, die dies bewirkten. Kaum erwartet erscheint nach dieser antizivilisatorischen Philippika aber niemand anderes als der alte Vater Rhein, um den verstörten Nixen diesen Ton auszutreiben und sie heranzuführen an ihre heutige Aufgabe. Er verkündet ihnen das neue Rheinland, in dem die Städte, die die Ufer des Flusses säumen, nicht Zerstörer sind, sondern Teil dieser von Industrie geprägten Landschaft. »Weltwende« ist da, ruft er ihnen »begeistert« zu und fordert sie auf, ihren Part in dieser modernen Heimat zu spielen. Nach anfänglichem Zögern bekennen sich die Nixen zu ihrer neuen Aufgabe entlang der »Pfaffengasse«, um zur »schöneren Welt, zur freieren Welt!« vorzudringen. Rhenus‘ Bekenntnis zum neuen rheinländischen Gefühl nimmt Denkbilder vorweg, die nach dem Krieg das Programm des »Bundes rheinischer Dichter«, in dem sich das Gros der Schriftsteller der Region zusammenfand, prägte: Aufgabe der Dichter ist es, den Rhein als Arbeitslandschaft zu sehen und in der Arbeit um den Rhein in einem Engagement für ein pazifistisches Europa voranzugehen.

Länder-ausgebreitet, mit tausend Fluß-Freunden verbunden,
Hab‘ ich nun die Krone der Werk-Gemeinschaft gefunden
Bis London, Paris, Wien, Stambul, Rom,
Vater der Mitte, Mutter-Strom,
Und vermische mit den Wassern die Geister der Welt,
Das neue Europa trag ich auf schimmernder Bahn,
Von den Fahnen aller meiner Brüder sausend geschwellt
Vom Schwarzen Meer zum Atlantischen Ozean!

Die Nixen, nun begeistert von ihrem Auftrag, rufen die »Sänger der Zukunft« , die Schriftsteller des Rheinlandes, zur gemeinsamen Aufgabe, »Zeuge« zu sein und »Kunde« zu geben von der weltoffenen Heimat am Rhein, einer der wichtigsten Industrieregionen des 20. Jahrhunderts. In einer Apotheose, die die Erfüllung des künftigen Schicksals vorwegnimmt, endet die expressionistische Hymne an die neue Identität am Rhein:

Rhenus:
Hier muß er allen Völkern künden
Am Strom, der nicht West Ost mehr trennt,
Hier muß das Lied der Freiheit zünden,
Das unsers Erdteils Namen nennt!
O heiliger Rhein –
Dann läuten all‘ deine Glocken den Menschheits-Sonntag ein!

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