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Enno Stahl: Übernahme literarischer Bestände. Prolegomena zu einer Systematisierung

1.2 Bestandstypen


Mit den neuen Medien haben sich Nachlässe inhaltlich stark verändert, was zu einer Bewertungsverschiebung geführt hat. Für Kulturschaffende gilt das ganz besonders. Derartige Bestände vermitteln heute mehr und andere Daten, gerade die Beilagen, Tonband- und Cassettenmitschnitte, Plakate, Flyer, Programmhefte, ja sogar Plattensammlungen bergen einen reichhaltigen Fundus an Informationen. Daneben gerät ein zweiter, interdisziplinärer Gegenstands¬bereich in den Blick. Speziell seit den 60er Jahren spielt die Ästhetisierung der unmittelbaren Lebensumwelt eine immer stärkere Rolle, Stichwort Popkultur.

In städtischen oder staatlichen Überlieferungen finden sich solche Substrate nur rudimentär, private Bestände hingegen bieten oft eine Fülle von Materialien, in denen sich Alltagskultur, Mode und Trends sinnlich nachvollziehbar abprägen. Dadurch vermitteln sie wertvolle Daten für die Mentalitäts- und Kommunikationsgeschichte.
Die Dynamik der aktuellen Kulturlandschaft bewirkt zudem, dass inzwischen neue Arten von Beständen entstehen. Die kulturelle Szene wird heute zu einem nicht unbedeutenden Teil von kurzzeitig agierenden Künstlergruppen, Veranstaltungsreihen oder losen Zusammenschlüssen konstitutiert, wachsende personale Fluktuation geht mit beschleunigten Verfallszyklen künstlerischer Ausdrucksformen und Projekte einher.

Diese vibrierenden Netzwerke sind gerade aus regionalwissenschaftlicher Perspektive sehr interessant. Sie bilden sich allerdings nur zufällig in privaten Nachlässen ab.
Um eine konsequente Sichtung und Bewertung dieser hybriden Überlieferungen zu gewährleisten, muss ein Kulturarchiv den aktiven Kontakt mit solchen “Szenen” aufbauen, ja mit ihnen kooperieren. So verbessert das Archiv seine Kenntnisse über das, was im Kulturbereich aktuell vor sich geht, und rückt selbst mit seinen spezifischen Leistungen mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

1.3. Literaturarchive in Deutschland / gestaffelter Zentralismus


Bei der Sicherung kultureller Überlieferungen liegt in der Bundesrepublik Deutschland einiges im Argen. Die Staats- und Landesarchive begreifen das Sammeln solcher Nachlass- und Bestandsformen nicht als ihre Kernaufgabe, sondern beschränken sich weitgehend auf die gesetzlich vorgeschriebene Übernahmepflicht staatlicher Registraturen. Die Sichtung, Bergung und Bewahrung kultureller Nachlässe bleibt weitgehend Stadtarchivaren vorbehalten, die sich aus persönlichem Interesse für diese freiwillige Aufgabe engagieren. Das entbehrt also nicht eines gewissen Maßes an Zufälligkeit, zumal diese Aktivitäten durch die notorische Überlastung und Unterbesetzung der kommunalen Archive beeinträchtigt werden. Hinzu kommt, dass Archivare für gewöhnlich keine ausgebildeten Kulturwissenschaftler sind, eine Qualifikation, die für Bearbeitung und Bewertung kultureller Nachlässe wichtig wäre.

Dieses Szenario einer nicht-systematisch organisierten Nachlasspflege im Bereich Kultur ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die vom Grundgesetz begünstigte staatliche und kommunale Überlieferung immer redundanter geworden ist – mit einem Kassationsanteil von 99%. Bei Überlieferungen privater Bestandsbildner ist das Verhältnis genau umgekehrt.

Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die Bedeutung privater Bestände und Sammlungen für die (kultur-)historische Forschung erheblich gewachsen ist.
Was ist zu tun? Ein – in meinen Augen - vorbildliches Modell für die Sicherung kultureller Bestände, zumindest für den Bereich der Literatur, existiert in Österreich. Dort findet sich ein gewissermaßen „gestaffelter Zentralismus“, um einen Begriff unseres früheren Direktors Joseph A. Kruses zu verwenden, mit dem Österreichischen Literaturarchiv in Wien als Dachbehörde und eigenen, regionalen Literaturarchiven in jedem Bundesland, etwa dem Robert-Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv in Klagenfurt oder dem Steirischen Literaturarchiv der Steiermärkischen Landesbibliothek in Graz.

In Deutschland ist die Lage etwas verworren: Mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Akademie der Künste in Berlin existieren gleich zwei hervorragend funktionierende Zentralen. Eine Sichtung und Sicherung des literarischen Lebens bundesweit können und wollen diese Institutionen aber nicht gewährleisten. Schon der Aufwand, die Autoren von nationaler Bedeutung adäquat archivarisch abzubilden, ist immens, zudem kümmert sich Marbach noch um schwäbische, die AdK um Berliner Autoren und die DDR-Literatur.

Wie oben ausgeführt, sind aber für die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Forschung, für die Rekonstruktion selbst jüngst vergangener kultureller Milieus und Epochen gerade auch Autorinnen und Autoren der mittleren Ebene von Bedeutung, dazu Multiplikatoren und institutionelle und korporative Überlieferungen. Diese zu entdecken, ist eher aus einer regionalen Perspektive möglich.

Ein flächendeckendes Netz regionaler Literaturarchive existiert in Deutschland jedoch nicht. Bislang gibt es lediglich vereinzelte, unterschiedlich aufgestellte Institutionen mit stark differierenden Vertretungsansprüchen.
Nicht immer ist ein Haus, das den Begriff „Archiv“ im Namen trägt, tatsächlich eine professionell geführte Sammelstelle. Andere Archive beschränken sich allein auf die Nachlasspflege bedeutender historischer Autoren wie etwa das Goethe-Schiller-Archiv, das Kleistmuseum oder das Fontanearchiv.

Nun ist das Kulturleben der Bundesrepublik Deutschland vielgestaltiger und unübersichtlicher als das Österreichs. In jedem Bundesland gibt es mehrere Groß- und Mittelstädte mit je eigenen kulturellen Zentren. Gerade in den Flächenbundesländern dürfte ein einziges Literaturarchiv zu wenig sein, um hier den Überblick zu bewahren. Mentalitätsgeschichtlich, doch auch allgemein-historisch gesehen, bietet es sich daher an, gewachsene Regionen als Bezugspunkt zu nehmen, da sich auch die Geschichte der kulturellen Ereignisse häufig auf diese geschlossenen Territorien konzentrierte. Gerade durch solche Abgrenzungen sind Transfer- und Kommunikationsprozesse zwischen diesen Einheiten historisch dokumentierbar und diskutierbar. Die beiden Organisatoren-Institutionen dieser Tagung, das Rheinische und das Westfälische Literaturarchiv versuchen diese Aufgabe für das bevölkerungsreichste Bundesland zu übernehmen, ausgehend von den historisch gewachsenen Identifikationsräumen Rheinland und Westfalen.

Sowohl aufgrund der Masse kultureller Bestände, die Jahr für Jahr entstehen und der Bewahrung harren, als auch aufgrund der spezifischen Forschungsinteressen, die wir für kommende Wissenschaftler suggerieren dürfen, erscheint eine solche Staffelung, ausgehend von der lokalen Situation über die regionale hin zur nationalen Ebene, nicht nur sinnvoll, sondern sogar als einzig gangbarer Weg, um den Verlust wichtiger Daten über die historische Entwicklung unseres Landes zu verhindern. Soviel zur Ausgangslage, auf die Literatur- und auch ganz allgemein Kulturarchive heute stoßen, womit sie umzugehen, was sie zu bedenken haben.

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