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Huub Sanders: Das Internationale Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam: Kontinuität und neue Aussichten im Sammlungsprofil

Neue Organisation

 

Um das zu realisieren, wird auch die Organisation gründlich auf den Kopf gestellt. Waren in den letzten zwanzig Jahre Forscher und Sammler separate Jobs, jetzt werden diese zwei Funktionen nun wieder in einer Stelle vereint. Davon gibt es sechs, regional verteilt: Russland/Osteuropa, Lateinamerika, Afrika, Südasien, Südostasien und der Mittlere Osten. Für jede diesen Regionen gibt es in Amsterdam einen ‚Senior Researcher‘, der zugleich verantwortlich ist für das Sammeln. In der Region arbeitet ein regionaler Vertreter direkt unter ihm/ihr. Daneben gibt es noch einen Mitarbeiter für die Niederlande und mich selbst für die internationalen Organisationen.


Diese Gruppe hat im letzten Jahr, zusammen mit dem Direktor, ein offizielles Profil diskutiert, das Resultat war:

The collection profile of the IISH, January 2011 The International Institute of Social History collects archives, documentation, publications, objects, images and datasets pertaining to, on the one hand, individuals and organizations belonging to movements that address important social issues, and on the other, labour relations and living conditions of working people. The social issues that constitute the focus of the institute are: poverty, exploitation, human rights violations, political oppression, war, labour migration, housing and land ownership.

The IISH actively seeks out and acquires material that fits its collection profile in Russia, South- and Southeast Asia, the Middle East and Central Asia, Africa, Latin-America and the Netherlands. It also actively collects material from international organizations without a clear regional base. The IISH does not actively acquire material from the countries of Western Europe, North America, East Asia, Australia/New Zealand and Oceania, but it is ready to accept material originating in these regions that is offered if it fits the collection profile and if there is no local alternative.

The collection profile is the primary criterion for decisions on the acquisition or rejection of material, but the IISH recognizes that it has a duty to rescue material of great historical significance if it is in immediate danger of destruction, even if the material does not fit the profile. In these cases the acquisition on principle has a temporary character.

Schlussbemerkungen

1)
Es ist gut, dass es ein Profil gibt. Aber Probleme dadurch auch entstehen: Es zu einem Gesetzbuch mutieren. Das brächte das Risiko mit sich, dass alle Energie der Interpretation dieses Textes gilt und dass man so Möglichkeiten in der Wirklichkeit übersieht.

2) Zugleich muss es beim Sammeln Kontinuität gewährleistet sein. Archivare finden es fast unerträglich, eine bestehende Sammlung wissentlich nicht weiter zu führen.

3) Die wichtigste Änderung im Profil ist die Verringerung der Priorität europäischer Sammlungen. Die Argumentation dafür ist vielleicht logisch, aber auch in Europa gibt es noch immer Menschen und Gruppen, die meinen dass sie bedroht sind. Oder die sich vernachlässigt fühlen. Oder sich vom eigenen Nationalstaat weit entfernt halten. Ihre Archive finden noch immer einen Platz in Amsterdam.

4) Viel durchgreifender sind die Folgen zweier ineinander verschlungener Phänomene. Das sind erstens die digitale Revolution und zweitens der Durchbruch der Netzwerkorganisation im Bereich des Aktivismus. Das heißt, das Sekretariate schwächer sind; das Archive mehr zerstreut sind über Personen; dass die Archive oft nur aus Emails bestehen oder jetzt sogar aus Berichten innerhalb Facebook.

5) Die nächsten komplizierenden Faktoren sind Globalisierung und Migration. Das bedeutet, dass Herkunftprinzipien, also Provenienzen, weniger klar sind als früher. Für meinen eigenen Bereich, internationale Organisationen, kommt noch dazu, dass manche internationale Organisationen tiefe Wurzeln in nationalen oder regionalen Bewegungen und Situationen haben. Diese sind oft wichtiger und die dazugehörige Archive informationsreicher als die internationalen kleinen Büros.

6) Wenn man an ein Profil denkt, gibt es zugleich ungreifbare Fakten, die für Personen mit langer Erfahrung in den Fachgebieten des Instituts sofort klar sind. Man fühlt sozusagen, was dazu gehört und was nicht.

7) Der letzte Punkt, den ich im Zusammenhang mit Dokumentationsprofilen ansprechen möchte, ist vielleicht ein wenig philosophisch. Ein Profil setzt eine Wahl voraus. Ich kann wählen zwischen A und B, nehme das Profil und dann wähle ich zum Beispiel A. Weil A im Vergleich besser ins Profil passt als B. Aber so ist es nicht in der Praxis. Auf Grund des Profils habe ich eine Wunschliste und ich bin beschäftigt, diese Archive zu erwerben. Das ist ein langwieriger Prozess. Die andere Weise des Erwerbens ist, dass jemand etwas anbietet. Dann hat man keinen Vergleich und es geht um die Interpretation des Profils in Bezug auf die angebotene Sammlung. Sieht man es zu eng oder zu weit? Sind die Kosten zum Zwecke Katalogisierung hoch oder niedrig? Wie verbessert die Wahl die strategische Position des Instituts usw.

8) Diese Wahl macht man tastend. Wir sind uns bewusst dass so eine Wahl auch eine ökonomische ist. Ich zitiere Dario Gamboni: ‘”Heritage” results from a continuous process of interpretation and selection that attributes to certain objects (rather than to others) resources that postpone their degradation.” (Dario Gamboni, ’World Heritage: Shield or target’,  Conservation. The Getty Conservation Institute Newsletter Vol.16, Nr.2 [2001] S. 8.) Historiker, Archivare, Konservatoren sind Menschen des Inhalts. Wir können lang reden über ein Profil. Aber es sind die kumulativen ökonomischen Effekte unserer Entscheidungen, welche uns letztlich einschränken und das Profil realistisch machen.

Huub Sanders 27.Juni 2011

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