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Jochen Grywatsch: Die Balance von Strategie und Zufall

Überlegungen zum Dokumentationsprofil des WestfĂ€lischen Literaturarchivs

4. Voraussetzungen und Ausgangsbedingungen

Im Folgenden werden als Bedingungsfaktoren der im Weiteren angestellten Überlegungen einige grundlegende gesellschaftlich-kulturelle Wandelprozesse unserer Gegenwart grob skizziert. Aktuelle Tendenzen der Umorientierung in Archiven sind maßgeblich durch diese VerĂ€nderungen beeinflusst.

4.1. Wechselwirkung von Literatur und Gesellschaft / Sozialgeschichte der Literatur
Die Hinwendung zu sozialhistorischen und soziologischen Fragestellungen seit den 1970er Jahren fĂŒhrte im literaturwissenschaftlichen Diskurs zu einer Verschiebung und Erweiterung des Interesses. Neben Ă€sthetischen Spitzenleistungen rĂŒckten vermehrt Strukturen, Netzwerke und Systeme des gesamten literarischen Lebens in das Blickfeld. Das VerhĂ€ltnis von Literatur und Gesellschaft und deren vielfĂ€ltige Wechselwirkung bestimmten zunehmend das Forschungsinteresse. Die zeitgenössischen sozialen VerhĂ€ltnisse und ihre Entwicklung wurden thematisch, gerade auch im Hinblick auf die Situation der Autorinnen und Autoren und das KrĂ€ftefeld der Entstehung, Verbreitung und Vermittlung von Literatur.

4.2. Die Aufwertung der Region als Kategorie
Das neue, kulturgeschichtlich und soziologisch orientierte Interesse an Literatur ist eng verbunden mit der Aufwertung und BedeutungsstĂ€rkung der Region, die sich vor allem auch im Kontext der globalen geopolitischen Neuordnungsprozesse im ausgehenden 20. Jahrhundert ausprĂ€gte (Stichwort Globalisierung /Regionalisierung). Damit einher ging die Etablierung der regionalen Literaturforschung, die neben der Ă€sthetisch anspruchsvollen „Höhenkamm-Literatur“ auch die vermeintlichen poetae minores zum Gegenstand der Forschungen machte.
Zentral zu nennen an dieser Stelle (auch ĂŒber den westfĂ€lischen Bereich hinausweisend) sind die Forschungen der kĂŒrzlich verstorbenen MĂŒnchener Literaturwissenschaftlerin Renate von Heydebrand, die am Beispiel Westfalen die literaturgeschichtliche Aufwertung der Region mustergĂŒltig vorfĂŒhrte [10]. Auf einem sozialhistorischen Boden beobachtete sie in einem â€žĂŒberschaubaren Raum alle Erscheinungen des literarischen Lebens gleichermaßen“ und erforschte „ganz konkret der Zusammenhang von Literatur und Leben in allen Schichten und mit allen Funktionen“. Ein VerstĂ€ndnis von Literatur also nicht mehr „(nur) als Kunst“, sondern „als eine Form sozialen Handelns“, die auch unter ganz bestimmten regional-historischen Bedingungen ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen und Handlungsnormen folgt und auf diese zurĂŒckwirkt. So entstand eine „Literaturgeschichte des kommunikativen Handelns“, in der ĂŒber das „Literatursystem Provinz“, literarische PhĂ€nomene als Prozess innerhalb eines komplexen historischen Bezugsfeldes dargestellt und interpretiert werden. Dem Medium Literatur kommt dabei verstĂ€rkt die Funktion zu, gesellschaftliche und historische ZusammenhĂ€nge zu erschließen und zu perspektivieren.

4.3. Regionalliteratur als Literatur in der Region – Perspektive Raum
Diese Sichtweise und Interessenstruktur erhielt zuletzt im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende zum Raum (des „topographical turns“) zusĂ€tzliche Impulse. WĂ€hrend Prozesse der Globalisierung sowie die geopolitische Neuordnung des europĂ€ischen Kontinents die Bindungen zu einst dominanten Nationalstaaten relativieren, rĂŒcken VerhĂ€ltnisse und Beziehungen in und zu unter-, aber auch neben-, zwischen- und ĂŒbernationalen Regionen als identitĂ€tsvermittelnde Erfahrungswelten in zunehmendem Maße in das Blickfeld. Man kann davon sprechen, dass im Hinblick auf geopolitische und -kulturelle Orientierungen dem Prozess der Globalisierung eine KomplementĂ€rentwicklung zugeordnet ist, die kleinere, ĂŒberschaubare und damit eher der Identifikation dienende BezugsgrĂ¶ĂŸen betont. Eine nachhaltige Tendenz zur Orientierung an subnationalen (kulturellen) Kontexten und Bezugsfeldern ist auch fĂŒr den Bereich der Literatur zu konstatieren, wobei dies sowohl fĂŒr die Produktionsseite als fĂŒr den Bereich der wissenschaftlichen Forschung gilt. [11]
Die heutige, dem Regionalen verpflichtete Literaturforschung stellt die Vielschichtigkeit und das Zusammenwirken geographischer, sprachlicher und sozio-kultureller Faktoren im Bezug auf eine Region ins Zentrum ihres Interesses. Es geht darum, die Gesamtheit des in einem unter rĂ€umlich-regionalen Kontexten zu fassenden Literaturbetriebs in seiner historischen Spezifik und Dynamik zu untersuchen. Ein so abzusteckender Forschungsgegenstand ist treffend in der Bezeichnung ‚Literatur in der Region’ charakterisiert, der dem Begriff ‚Regionalliteratur’ vorzuziehen ist, wird damit doch weniger stark die Vorstellung einer regionalen Geschlossenheit mit aufgerufen. Entsprechend definiert die Literaturkommission fĂŒr Westfalen ihren Forschungsgegenstand: „‚Literatur in einer Region’ [...] beschreibt die KomplexitĂ€t des literarischen Geschehens in einem subnationalen und auch unterhalb bzw. jenseits der Verwaltungseinheit der BundeslĂ€nder rĂ€umlich bestimmbaren Gebiet zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt“. [12]

4.4. Erinnerungsdiskurs / kollektives GedÀchtnis
Als ein weiterer Bedingungsfaktor aktueller Umwertungsprozesse (auch im Archivsystem) ist weiter der Erinnerungsdiskurs, des kulturellen GedĂ€chtnisses zu nennen, der insbesondere in den 1990er Jahren, ausgehend vor allem durch die Forschungen Aleida Assmanns, gefĂŒhrt wurde. „Kultur und damit auch Literatur brauchen die VergegenwĂ€rtigung des Vergangenen als Grundlage dafĂŒr, dass eine Gesellschaft stĂ€ndig in Beziehung zu ihrer Geschichte bleibt und sich gleichzeitig immer wieder ĂŒber Werte, Zukunft, ĂŒber IdentitĂ€t verstĂ€ndigen kann. Vergangenheit existiert aber nicht ‚per se‘, sondern wird konstruiert – gegenwĂ€rtig oder als Rekonstruktion des Vergangenen durch eine spĂ€tere Generation.“ [13] Die Frage, wie wir erinnern, ist also mindestens so virulent, wie die Frage, was wir erinnern. An diesem Prozess nimmt das Archiv entscheidenden Anteil – das Sammeln, Archivieren, Erschießen und PrĂ€sentieren gehört im Kern dazu. Die Aufmerksamkeit fĂŒr Prozesse der Erinnerung wuchs zuletzt stark an auch aufgrund der Ergebnisse der stetig an öffentlicher Resonanz gewinnenden Neurowissenschaften.

4.5. Neue Medien – neue ÜberlieferungstrĂ€ger
Mit den neuen Medien, und noch einmal verstĂ€rkt im Zuge der digitalen Revolution haben es Archive mit inhaltlich und strukturell stark verĂ€nderten BestĂ€nden zu tun. Nicht mehr allein BĂŒcher, Manuskripte, Korrespondenzen – heute findet sich das ganze Spektrum der neuen Speichermedien im Bestandsangebot: CDs, TonbĂ€nder, Cassetten, Filme, Fotos, das Ganze auch digital, in Form von kompletten Festplatten. Hinzu kommen Plakate, Flyer, Programmhefte, ja sogar Plattensammlungen, die reichhaltigen Fundus an Informationen bergen und als ÜberlieferungstrĂ€ger relevant und hochinteressant sind.


4.6. Neue Vielfalt, neue UmfĂ€nge – KapazitĂ€tsprobleme
Zuletzt sei in dieser Auflistung  auf das PhĂ€nomen der mit der digitalen Revolution und der Entwicklung des Internets greifbar werdenden Tendenz hin zu einer auf VollstĂ€ndigkeit zielenden Archivierung hinzuweisen. „Die Epoche der herkömmlichen Archive geht zu Ende. Archivierung im herkömmlichen Stil wird von permanenter Übertragung abgelöst“, schreibt Thomas Degener. [14] Das Archiv Internet mag unendlich sein, die Archivbauten sind es definitiv nicht. Nicht nur die Überlieferungsflut in den heutigen Massenakten stellt ein erhebliches Problem dar. Um der Materialschwemme schon von einer pragmatischen Warte her begegnen zu können, werden Konzepte der Auswahl benötigt, ebenso wie Kriterien der sinnvollen Strukturierung und der Bewertung.

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