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Jochen Grywatsch: Die Balance von Strategie und Zufall

Überlegungen zum Dokumentationsprofil des WestfĂ€lischen Literaturarchivs

5. Zum Dokumentationsprofil des WestfÀlischen Literaturarchivs

5.1. Voraussetzungen, Ziele, Vorgehen
Die Bundeskonferenz der Kommunalarchive hat 2008 eine „Arbeitshilfe zur Erstellung eines Dokumentationsprofils fĂŒr Kommunalarchive“ verabschiedet, die durch die Stadtarchivarin SaarbrĂŒckens Irmgard Christa Becker in der Zeitschrift „Der Archivar“ vorgestellt wurde.[15] Die Anforderungen an ein Dokumentationsprofil benennt Becker einer dezidierten Folge von sechs Schritten. Analog dazu ist die Aufgabenstellung fĂŒr Literaturarchive wie folgt zu definieren:

  • 1. Kategorisierung der regionalen Literaturlandschaft
  • 2. Formulierung von Dokumentationszielen
  • 3. Bestimmung des angestrebten Dokumentationsgrades und des daraus  folgenden Quellenfundus
  • 4. Ermittlung und Zusammenstellung relevanter ArchivbestĂ€nde und    Registraturbildner
  • 5. Wertanalyse archivreifer Unterlagen unter qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten
  • 6. Gezielte dauerhafte Sicherung von Schriftgut durch Übernahme ins eigene Archiv oder die Verwahrung in anderen Archiven durch entsprechende Absprachen

Diese Liste weicht nur an einer Stelle von der fĂŒr die Kommunalarchive erstellte ab, und zwar bei Punkt eins. Analog zur „Kategorisierung der lokalen Lebenswelt“ in Kommunalarchiven, ist fĂŒr unsere Zwecke eine die Kategorisierung der „regionalen Literaturlandschaft“ vonnöten.
Auch wenn wir hier die Folge der Arbeitsschritte weitgehend analogisieren können, hören die Gemeinsamkeiten mit diesen Formulierungen fast wieder schon auf. Es ist wichtig, noch einmal zu gegenwĂ€rtigen, dass die Aufgabe der Erstellung eines Dokumentationsprofils fĂŒr eine staatliche oder eine nicht staatliche Überlieferung wesentlich voneinander abweichende Probleme mit sich bringen wird, dass unsere literaturarchivarische Aufgabe als Aufgabe ohne gesetzlichen Rahmen oder Vorschriften, die sich ausschließlich mit der sog. ‚ErsatzĂŒberlieferung‘ (NachlĂ€sse, Sammlungen etc.) beschĂ€ftigt, sich vor vielfĂ€ltig andere Probleme gestellt sehen wird.
In der Handreichung fĂŒr Kommunalarchive ist zu lesen, dass der Archivar sich nach der Erarbeitung dieses Profils darĂŒber im Klaren sein wird, „welche BestĂ€nde aus der eigenen Verwaltung noch ins Archiv ĂŒbernommen werden mĂŒssen und mit welchen Institutionen Absprachen zur Überlieferungsbildung getroffen werden mĂŒssen“. So einfach, wie sich das anhören mag, ist es in der Praxis sicher nicht immer – und bei uns Literaturarchivaren eben schon gar nicht. Denn diese direkte Verbindung von Archiv und potentiellem Bestandsbildner wie in einer Behörde gibt es in dem sich stĂ€ndigen VerĂ€nderungsprozessen unterworfenen Feld der Literatur keineswegs umfassend und nicht permanent. Hier gibt es ĂŒber die Verbindungen der Literaturkommission zwar umfangreiche, aber keine systematischen, d.h. somit eher ‚zufĂ€llige‘ Kontakte. Dieses Feld auszuweiten, muss ein Ziel sein.
Zu berĂŒcksichtigen ist in diesem Zusammenhang die Problematik der in der Regel doppelten Aufgabenstellung der Literaturarchive, ebenso synchronisch wie diachronisch tĂ€tig sein zu mĂŒssen. Sie sind fast immer gleichzeitig fĂŒr die gesamten Literaturgeschichte zustĂ€ndig, also literarhistorisch tĂ€tig und zur selben Zeit Archive fĂŒr die Gegenwartsliteratur. Gerade im letzteren Bereich war fĂŒr unsere Region das grĂ¶ĂŸte Defizit vorhanden, dem es durch die GrĂŒndung des WLA beizukommen galt. Das heißt in der Praxis, dass es im Literaturarchiv immer eine horizontale und eine vertikale Dokumentation geben wird. Was fĂŒr die Frage nach dem Dokumentationsprofil heißt, dass wir zwei verschiedene (oder sogar noch weitere) brauchen – eins, das die Situation der Gegenwart strukturiert, und eins, das die Literaturgeschichte im Blick hĂ€tte.


5.2.1. Kategorisierung der westfÀlischen Literaturlandschaft
Wenn wir nun ĂŒber eine Kategorisierung der regionalen Literaturlandschaft sprechen, so beziehen wir uns dabei auf unsere Gegenwart. Der vertikale Schnitt mĂŒsste sicher anders angelegt und mehrstufig differenzieren – dieses ist hier zu vernachlĂ€ssigen. (Zum GlĂŒck gibt es fĂŒr diesen Bereich einschlĂ€gige Arbeiten, auf die sich unser Archiv beziehen kann, zuvorderst die schon genannte Renate von Heydebrand mit ihrer musterhaften Untersuchung „Literatur in der Provinz Westfalen 1815-1945“, auf die sich die hiesige Literaturforschung grundlegend beziehen kann. Daran schließen weitere Arbeiten an, von denen die Literaturkommission fĂŒr Westfalen einige verantwortet, vor allem ihr stĂ€ndig erweitertes und permanent aktualisiertes „WestfĂ€lisches Autorenlexikon“. Wir haben also GlĂŒck, das die Region Westfalen im Hinblick auf die Literaturgeschichte – also diachronisch – sehr gut aufgearbeitet ist.)

FĂŒr den Bereich der Gegenwartsliteratur möchte ich Ihnen nun meinen Vorschlag zur Kategorisierung des literarischen Lebens (in der Region) vorstellen, auf dessen Basis die weitere Systematisierung vorgenommen werden kann. Er besteht in einer dreigliedrigen Struktur mit den großen Kategorien Produktion, Distribution und Rezeption. Ziel ist es, alle Bereiche, Spielarten, EigentĂŒmlichkeiten und Varianten des literarischen Lebens in der Region darin abbilden zu können. Klar sollte sein, dass die Kategorien nicht absolut gesetzt sind, sondern immer wieder ĂŒberarbeitet werden mĂŒssen – und dass z.T. auch andere Zuordnungen möglich sind. Die Kategorien sind nach Bedarf weiter sachthematisch aufzuschlĂŒsseln.
Im nĂ€chsten Schritt mĂŒssen die Kategorien fĂŒr unseren westfĂ€lischen Bezugsbereich nun mit „Leben“, d.h. mit Inhalt, gefĂŒllt werden. Welche Autorinnen und Autoren, welche Institutionen, Strukturen, Entwicklungen und Ereignisse sollen dokumentiert werden?

FĂŒr diese umfangreiche, aber unverzichtbare Arbeit können wir uns fĂŒr den Bereich des WestfĂ€lischen Literaturarchivs auf vielfĂ€ltige (Vor-)Arbeiten beziehen.
Grundlegend ist hier erneut das „WestfĂ€lische Autorenlexikon“, das ĂŒber 2200 bio-bibliographische AutoreneintrĂ€ge enthĂ€lt und in der Print-Fassung bis zum Geburtsjahrgang 1950 reicht, in der stĂ€ndig erweiterten Online-Variante aber in die Gegenwart erweitert wird.
Hinzu kommt das Online-Verzeichnis der heute in Archiven in Westfalen aufbewahrten „Literarischen NachlĂ€sse“, das eine Orientierung ermöglicht darĂŒber, in welchen Archiven welche Sammelpolitik betrieben wird. In dem verschrĂ€nkten Ausbau mit dem Autorenlexikon, das zu den Autoren jeweils Angaben ĂŒber deren NachlassbestĂ€nde macht, vollzieht sich ein großer Schritt hin zu einem umfassenden westfĂ€lischen Nachlasskataster.
Weitere ‚Hilfsmittel‘, die das Literarische Leben in der Region erfassen und darstellen sind das „Literaturportal-Westfalen“ (Literaturkommission), das Netzverzeichnis „NRW-Literatur im Netz“ (LiteraturbĂŒro Unna) und der „Kulturatlas Westfalen“ (Geographische Kommission). Ein weiteres Modul, was sich hilfreich nutzen lassen dĂŒrfte – aber das ist noch Zukunftsmusik – wird das virtuelle „Literaturhaus-Westfalen“ sein, eine Vernetzungs-Plattform fĂŒr Autoren, Leser, Literaturgesellschaften, Institutionen bis hin zu Buchhandlungen, die im Rahmen des Projekts „Kultur in Westfalen“ aufgebaut wird.


5.2.2. Die weiteren Schritte vollziehen sich analog zur genannten Beckerschen Arbeitshilfe der Kommunalarchive (s.o.). Im Weiteren gilt es, zunĂ€chst die konkreten Ziele der Dokumentation zu formulieren. Um dem Anspruch nachzukommen, die Abbildung des literarischen Lebens in der Region zu gewĂ€hrleisten, wofĂŒr ich plĂ€diere, haben wir in Schritt eins geklĂ€rt, was genau dazu gehört. Nun gilt es zu entscheiden, in welcher Weise und unter welcher Fragestellung diese Bereiche dokumentiert werden sollen. Es mĂŒssen Relevanzkriterien entwickelt werden, mit denen eine Entscheidung ĂŒber das Was und Wie der Dokumentation begrĂŒndbar ist. Sollen beispielsweise die Entwicklungen von literarischen Vereinigungen, Gesellschaften dokumentiert werden, dann ist festzulegen, ob es um ein reiner Nachweis der Existenz ausreichend ist, oder ob die ggf. in besonderen FĂ€llen vorhandenen wesentlichen oder richtungsweisenden AktivitĂ€ten dokumentiert werden. Diese Prozesse sind durch Absprachen der Fachleute immer wieder neu zu ĂŒberdenken und zu aktualisieren. 




5.2.3. Dies fĂŒhrt zur Festlegung eines Grades der jeweiligen DokumentationswĂŒrdigkeit. Reicht es bei der einen Institution aus, Mitgliederlisten, Programme, GeschĂ€ftsberichte und Sitzungsprotokolle zu ĂŒbernehmen (Dokumentationsgrad niedrig bis mittel), kann es bei der anderen angezeigt sein, Unterlagen zu Projektentwicklungen von ĂŒbergreifender Bedeutung archivisch zu sichern. Auch wenn BemĂŒhungen um die Sicherung von Handschriften und anderen Hinterlassenschaften einer Autorin / eines Autors von der literarischen Gesellschaft unternommen wurden, gilt es diese zu sichern, ebenso wie die AktivitĂ€ten rund um den Erhalt von DichterhĂ€usern. Bedeutsam kann auch die Überlieferung von Initiativen zu zentralen Gedenkveranstaltungen oder beispielsweise der Denkmalerrichtung sein. Das wĂŒrde bedeuten, dass große Teile der Aktenregistratur ĂŒbernommen wĂŒrden (hoher Dokumentationsgrad).

5.2.4. Im Zuge dieser Arbeiten wird man feststellen, ĂŒber was das eigene Archiv bereits verfĂŒgt, was in anderen Archiven aufgehoben wird und vor allem was eben nicht, d.h. um welche BestĂ€nde man sich verstĂ€rkt kĂŒmmern muss. Dabei ist vor allem auch die Frage zu beantworten, wie es ĂŒberhaupt gelingen kann, bestimmte PhĂ€nomene und Erscheinungen, die durch die Formulierung von Dokumentationszielen benannt worden sind, archivisch zu dokumentieren. Ganz wesentlich ist dabei, Kontakte herzustellen und zu pflegen sowie Absprachen zu treffen, mit anderen Archiven und mit potentiellen Bestandsbildnern. Bei diesen Arbeiten entsteht ein Kataster der ArchivbestĂ€nde und der Registraturbildner.

5.2.5. Ist all dies erfolgt, soll mittels positiver Wertanalyse ĂŒberprĂŒft werden, ob Ziele und Gewichtung der Dokumentation durch die nun ermittelte Quellenlage erreicht werden. Dies ist als stĂ€ndiger RĂŒckversicherungsprozess zu verstehen. – und allein angesichts der großen Anzahl von Autoren wird man natĂŒrlich nie fertig.

5.2.6. Anschließen werden sich Absprachen und Übernahmen ins eigene Archiv oder aber die Absprache mit den Kollegen, so dass eine Überlieferungsbildung im Verbund entsteht.

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