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Steffen Stadthaus/Walter Gödden: Regionale Literaturforschung in der Praxis am Beispiel des expressionistischen Schriftstellers Gustav Sack

Im Folgenden möchte ich über eine literarische Ausstellung „Gustav Sack. Enfant Terrible und Mythos der Moderne“ sowie über die im Frühjahr 2011 erschienene Neuedition der Gesammelten Werke des Autors durch die Literaturkommission für Westfalen berichten. Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die Bedeutung des Dichternachlasses, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert ist,  sowohl für die Ausstellung als auch die anschließende Neuedition. Zuvor aber soll eine kurze Einführung in Leben und Werk Sacks geboten werden. Abschließend wird die Bedeutung regionaler Literaturforschung und Archivkultur für die Erschließung, Erforschung und Vermittlung von Nachlässen von Autoren jenseits stark gemacht. 

Wer war Gustav Sack?

Am 28.10.1885 wird Gustav Sack in Schermbeck geboren. Schon Sacks Romandebut „Ein verbummelter Student“ – 1909 nach gescheitertem Studium in der elterlichen Dachkammer verfasst – war ein außergewöhnliches Buch. Endlose Tiraden gegen Wissenschaft und Gesellschaft, Gott und die Welt verschmolz Sack mit rauschhaft surrealen Schilderungen der niederrheinischen Landschaft. Der Romanheld Erich ist ein sinnsuchender Skeptiker, der in seitenfüllenden Monologen die Paradoxien menschlicher Erfahrung verhandelt.

Verleger wie Albert Langen schreckten vor Sacks Mischung aus Avantgarde und märchenhaften, manchmal in den Kitsch abgleitenden Romantizismus zurück. Zu philosophisch hieß es im Ablehnungsschreiben. Sack ließ sich aber nicht beirren und verfolgte seine radikal subjektivistischen Literaturvorstellungen weiter. Der Erzähler des zweiten Romans, „Ein Namenloser“, charakterisiert sich als „Höhlengrübeltier“ und monologisiert in Endlosschleifen – Stilmittel wie den Stream of Consciousness inkludierend – über die Sinnlosigkeit des Daseins in einer entzauberten Moderne.

Um der Enge der Provinz zu entfliehen, zog Sack 1913 mit seiner großen Liebe Paula Harbeck nach München. Der erhoffte literarische Erfolg wollte sich auch hier nicht einstellen. Der großstädtisch ironische Lebensstil der Münchener Boheme blieb ihm fremd. Allen Enttäuschungen zum Trotz folgte im Herbst 1913 die Arbeit an „Paralyse“, einem Roman über den Wahnsinn. Bar aller Zweifel über die Qualität des Werks brüstete er sich nun mit der Radikalität von Stoff und Form, eingedenk der „apodiktischen Gewißheit, dass keiner unserer Verlegernarren es druckt“.

Sacks persönliche Misere war ein harmloses lebensgeschichtliches Vorspiel gegenüber dem, was 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs folgen sollte. Auf einer Recherchereise ins Schweizer Hochgebirge wurde der Autor vom Kriegsausbruch überrascht. Wie wenige andere Literaten blieb er seinem anarchischen Individualismus treu und verweigerte sich als Fahnenflüchtiger der deutschen Kriegshysterie. Eines der frühesten Antikriegsdramen, „Der Refraktär“, entstand, in dem Sack seine marternden Sinnfragen im Schatten des Weltkriegs aktualisierte. Von Abschiebung bedroht, ließ sich Sack amnestieren und wurde an die Westfront versetzt.

Sack wurde zum Chronisten eines Alltags aus „Regen, Dreck, Hunger, Schlaflosigkeit“ und Tod. In seinen letzten Novellen weicht der nietzscheanisch-elitäre Ton seiner Romane einer zarten, einfühlenden Empathie mit dem Leben und Sterben einfacher Menschen. Für Erich Mühsam stand fest, dass aus Sack ein großer Humanist geworden wäre. Dem kam aber sein Tod zuvor; am 5. Dezember 1916 fiel Gustav Sack in Finta Mare, Rumänien.

Dem chronischen Misserfolg zu Lebzeiten folgte bald nach Gustav Sacks Tod (1916) eine erste Erfolgswelle. Sein „Verbummelter Student“ (1917) wurde ein Erfolgsbuch mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren in nur zwei Jahren.[1] Ähnlich große Resonanz hatte zwei Jahre später sein zweiter Roman „Der Namenlose“ (1919) und die erste Gesamtausgabe im Jahr darauf.[2] Auch diese löste eine Flut positiver Rezensionen aus.  Doch schon wenige Jahre später war Gustav Sack für viele Dekaden vergessen.
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