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Steffen Stadthaus/Walter Gödden: Regionale Literaturforschung in der Praxis am Beispiel des expressionistischen Schriftstellers Gustav Sack

Die Situation

Ausgangspunkt unserer mehrjährigen Beschäftigung mit Gustav war die Tatsache, dass der Frühexpressionist Gustav Sack 2010, an seinem 125. Geburtstag, fast ganz aus dem Blickfeld der Literaturwelt und Forschung verschwunden war. Schenkt man dem Eintrag im Westfälischen Autorenlexikon Glauben, ist in den letzten Jahren gar nicht über ihn gearbeitet worden.

Sack hatte keine Lobby. Den einen war er zu modern, den anderen zu konservativ. Auch die editorische Situation war im Falle dieses Autors ein einziges Dilemma. Die letzte umfangreiche Ausgabe „Gustav Sack. Prosa – Briefe – Verse“, die der Werkausgabe von 1920 folgte, ist fast fünfzig Jahre alt. Sie weist zudem gravierende Mängel auf:  Wichtige Texte wie das Romanfragment „Paralyse“, das Sack als eines seiner Hauptwerke ansah sowie Erzählungen und Gedichte des Autors fehlen.

Betrachtet man das sinuskurvige Auf und Ab der Wirkungsgeschichte Sacks, war es längst Zeit für eine Wiederentdeckung oder doch zumindest: für neuerliche Hinweise auf diesen so eminent spannenden Avantgarde-Autor. Der erste Anlaufpunkt war das Deutsche Literatur Archiv in Marbach, dem Paula Sack, die Autorenwitwe, den Nachlass kurz vor ihrem Tod, Mitte der 1970er Jahre vermachte. Die Geschichte des Nachlasses ist ähnlich abenteuerlich wie das Leben Sacks: Sacks Manuskripte und Briefe waren in einem großen Überseekoffer verwahrt, den Paula Sack nach dem Ersten Weltkrieg an sich nahm. Die Schriftstellergattin, die schon zu Lebzeiten des Autors auch als seine Lektorin gewirkt hatte, realisierte auf Basis der erhaltenen Manuskriptversionen, die bis ins Jahr 1902 zurückreichen, die erste Gesamtausgabe, die 1920 im Fischer-Verlag erschien. Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm sie einige erfolglose Versuche einer Neuausgabe, entwickelte schließlich in Eigenregie textkritische Neueditionen der Werke. In den 1950er und 1960er Jahren begann sie zudem damit, den Nachlass zu ordnen, in dem sich Sacks früheste literarische Versuche, unzählige Manuskriptversionen sowie Korrespondenz (mehr als 600 Briefe) und Tagebücher befinden. Da eine Neuerschließung des Nachlasses durch das Deutsche Literaturarchiv unterblieben war, stand der Sack-Nachlass über Jahrzehnte im Verdacht, nicht benutzbar zu sein.

Ein vierwöchiger Arbeitsaufenthalt in Marbach im Frühjahr 2010 widerlegte dies. Die fehlende Erschließung durch das Archiv erschwerte zwar das Auffinden mancher Archivalien, ermöglichte aber auch manchen Zufallsfund. Aus den tausenden Manuskriptseiten, Briefen und Bildern wurden für die Ausstellung Fundstücke ausgewählt, die wie Schlaglichter die Lebenswege und Werkphasen des Dichters erhellten. Dabei wurde versucht, mögliche neue Perspektiven auf die Literatur und das Denken des Autors auszuloten. Das Archiv bildete den Ausgangspunkt der Überlegungen zur Konzeption der Gustav-Sack-Ausstellung: zum einen, weil Sacks Werke zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt worden sind, zum anderen weil die Materialität der Manuskripte bei Sack eine ganz eigene Faszination ausübte. Das Museum für Westfälische Literatur verwandelte sich deshalb anlässlich seiner großen Gustav-Sack Retrospektive in ein begehbares Archiv – der packpapiernen Innenwelt eines großen hölzernen Überseekoffers, dem ursprünglichen Aufbewahrungsortes des Nachlasses, nachempfunden. Hier waren sie nun versammelt, Sacks Skizzen, Manuskripte und Briefe. So, als hätte sie der Dichter gerade dort verstaut, um – zeitlebens blieb ihm das versagt – irgendwann doch noch mal einen Verleger für sie zu finden. Der Besucher tauchte in die intime Welt eines papiernen Archivkörper ein. Die Ausstellung führte den Besucher mithilfe eines Zeitstrahls durch die verschiedenen, durch Nachlassobjekte illustrierten, Lebensphasen des Dichters: von seiner Schermbecker Kindheit und Jugend über sein literarisches Intermezzo in München bis zu seinem Tod auf den Schlachtfeldern des Weltkriegs. Die zum ersten Mal in der Ausstellung präsentierten Tagebücher, Werkskizzen und Zeichnungen zeigten, wie intensiv Sack seine eigene Situation – ob als „verbummelter“ sinnsuchender Student oder als verfolgter Refraktär – verstofflichte. Objekte wie Sacks Tabakpfeife und lehmverschmierte Feldpostbriefe von der Westfront wurden ebenfalls ausgestellt. Ein von Thomas Strauch und Carsten Engelke von der Medienfakultät der Universität Paderborn entwickelter experimenteller Kurzfilm sorgte für ein zusätzliches Element. In einem aufwändig gestalteten Katalog wurden alle Exponate der Ausstellung großformatig abgebildet.

Auch die im Frühjahr 2011 erschiene Neuedition der Gesammelten Werke des Autors verdankt sich einer Entdeckung im Gustav-Sack-Archiv. Aufgrund der Unvollständigkeit und an editorischen Mängeln reichen 1962er Werkausgabe, musste auf die von Paula Sack herausgegebene Werkausgabe von 1920 zurückgegangen werden, da dort die Eigenheiten des Dichters in Orthographie und Interpunktion respektiert worden waren. Paula Sack hat den Textkorpus dieser Ausgabe mit Gustav Sack zusammen, größtenteils während dessen Lazarettaufenthalt in Deutschland 1916, ediert. Einen Glücksfall für das vorliegende Editionsprojekt stellte aber der Umstand dar, dass Paula Sack –  wie oben schon erwähnt –die 1920er Werkausgabe einer kritischen Revision unterzog. Ihr Ziel war: „eine vollständige Neuausgabe der von mir inzwischen textkritisch überarbeiteten Fischer-Ausgabe von 1920. Es ist mir klar, daß ich sie nicht mehr erleben werde. Das Langen-Buch wird selbstverständlich kaum gekauft; nur Eingeweihte wissen von seiner Existenz.“[3]

Im Falle des Romanfragments „Paralyse“ und des Dramas „Der Refraktär“ legte Paula Sack 1971 zusammen mit Karl Eibl eine textkritisch modifizierte Neuedition vor. Sie begründete diese damit, dass eminent wichtige Werke Sacks nicht nur in der Langen-Müller Ausgabe fehlten, sondern auch in der 1920er Ausgabe unbefriedigend ediert worden seien. Die Druckfassung jener Werke  sei „im Juli 1916 im Eiltempo“ nach einem Manuskript hergestellt worden, dass für Sack nur eine editorische Vorstufe dargestellt habe:

„Das derart unter Zeitdruck entstandene Typoskript würde den Ansprüchen eines Autors kaum genügt haben, der eine gründliche Überarbeitung und Niederschrift seines Schauspiels geplant hatte [...]. In Kenntnis dieser Sachlage nahm ich die Gelegenheit der zweiten [vorliegenden] Drucklegung wahr, um eine letzte gründliche Durchforschung sowohl der Handschriften der Handschrift als der auf etlichen beigefügten notierten (nur von mir entzifferbaren) Änderungen vorzunehmen. Das Ergebnis dieser peinlichen Untersuchungen des dürftigen Materials sind ein paar, letzten Endes geringfügige, Veränderungen [...].“[4]

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