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Lokal Hero Gustav Sack

Die Gemeinde Schermbeck erinnert sich in bemerkenswerter Offenheit ihres „verlorenen Sohnes“, dessen 125. Geburtstag in diesem Jahr ansteht.

Zur Eröffnung der Schermbecker „Local-Heroes“-Woche gab sich sogar Ruhr-2010-Intendant Fritz Pleitgen die Ehre. Und gab frank und frei zu, dass ihm der Name Gustav Sack, dem die erste Veranstaltung gewidmet war, bis dahin völlig unbekannt war. Ähnlich dürfte es auch den Schermbeckern selbst ergangen sein. Es gibt im Ort zwar eine Gustav-Sack-Straße, aber wie das mit Straßenbenennungen so ist... Und auch beim Festakt dürften die zahlreichen Besucher eher ins Grübeln gekommen sein. Denn vom „Sohn der Stadt“ und ähnlichen Floskeln war da – zum Glück – nicht die Rede. Dafür waren um so mehr kritische Äußerungen Sacks über die Schermbecker Pohlbürger zu vernehmen. Es war wohl eine Art Hassliebe. Gustav Sack war die Stadt zuwider, weil seinem literarischen Talent allerorts Missachtung entgegen gebracht wurde. Auf der anderen Seite schätzte er die ländliche Umgebung. Stundenlang war er unterwegs, um minutiöse biologische Studien zu betreiben. Vieles davon fand Eingang in sein bekanntestes Werk, den Roman „Ein verbummelter Student“ (1917).

Der radikale, exzentrische und dadurch auch sperrige Autor Gustav Sack (1885-1916) vereinigt alle Merkmale auf sich, kein Massenautor seiner oder heutiger Tage zu sein. Er war ein metaphysischer, um Erkenntnis ringender Vagant, der sich an philosophischen Fragen nach der letzten Erkenntnis geradezu abmarterte. Seine Romane „Ein verbummelter Student“, „Ein Namenloser“ und das Romanfragment „Paralyse“ bilden ins Leere laufende Trümmerfelder seiner Denkoperationen.

Schreiben war für ihn Selbsttherapie. Er schrieb wie im Rausch und in Ekstase. Gemeinsam ist seinen Weltentwürfen: Sie antworten auf eine vom Autor als hochgradig sinnlos eingestufte Gegenwart. Sack ließ keine Gelegenheit aus, seine Wut gleichsam heraus zu schreien. Zielscheibe waren dabei Staat, Militär, das ignorante Kleinbürgertum und die, seiner Meinung nach, bourgeoise Verlogenheit und indifferente Sentimentalität der Großstädter. Einem selbstgefälligen Intellektualismus schleudert Sack im Roman „Der Namenlose“ die Worte entgegen: „Ich pfeife auf das, was sich Geist nennt! Das ist Lug, Mittel, Dunst... Lieber verroht als vergeistigt.“ Er hingegen ersehnte sich unbelebte Landschaften, endlose Wüsten, das ewige Eis, Hochgebirgslandschaften und skandinavische Heidegegenden.

Unzählbar sind auch seine Invektiven gegen das in seinen Augen korrumpierbare und „feige“ „Literatengesindel“, gegen das er hochpolemisch zu Felde zog. Ebenso heftig sind seine Aversionen gegen einen Staat und eine Gesellschaft, die ihm den Zwang auferlegen, sich ein- und unterzuordnen und Kriegsdienst zu leisten. Eines von vielen repräsentativen Briefzeugnissen: „ich will über mein Leben selbst bestimmen und gebe einem imaginären Ding „Staat“ nicht das Recht dazu, einem Staat, von dem ich bisher nichts kenne als Polizeistrafen, Gerichtsvollzieherkosten und – Ablehnung von Novellen, weil sie das Bourgeois-Volk... in seinem Schamgefühl verletzen könnten.“

Sein literarisches Talent verschleuderte er, weil er nicht bereit war, Kompromisse einzugehen und sich mit dem damaligen Literaturbetrieb zu arrangieren. So konnte er zu Lebzeiten nur einige wenige Texte in Zeitschriften unterbringen. Seine Verzweiflung wuchs. Im selben Maße nahm sein wütendes Streben nach Erfolg und Anerkennung zu, das sich in einem unbändigen Fleiß entlud.

Im „wirklichen“ Leben legte Gustav Sack ein typisches Geniegebaren an den Tag, das freilich nichts mit einem dekadenten Dandytum gemein hat. Er ist eher pöbelhaft draufgängerisch, unzähmbar, gehetzt, triebhaft. Er suchte im Rausch, in der Betäubung und in der Geschlechterliebe Erfüllung – und wurde dabei immer wieder leidend auf sich selbst zurückgeworfen. Hinzu gesellten sich Selbstzweifel. Er verspottete, verhöhnte sich selbst. Immer wieder war er von der Angst erfüllt, selbst jenen „Kitsch“ zu schreiben, den er bei anderen so radikal ablehnte. Eine solche Zerrissenheit und abgrundtiefer Nihilismus vereint ihn mit dem existentiellen Lebensgefühl vieler damaliger Expressionisten.

In unbekümmerter Naivität frönte er einem genialen Dilettantismus. Und dann wieder begegnen in seinem Werk Stellen, die ein eruptives, fast brachiales Talent zum Ausdruck bringen: Eine Sprachmächtigkeit, Bildkraft und aggressive Gestaltungskraft, wie sie nur wenigen Autoren zu eigen ist. Seine Naturschilderungen sind an poetischer Präsenz kaum zu übertreffen. Unter den Autoren seiner Zeit gibt es kaum jemanden, der ihm in punkto Radikalität und Originalität gleichkommt.

All das sind gute Gründe, den „verlorenen Sohn“ der Gemeinde Schermbeck in den Mittelpunkt einer Ausstellung zu rücken und ihn auf diese Art und Weise neu zu entdecken. Und das geschieht alles andere als halbherzig. Der junge Literaturwissenschaftler Steffen Stadthaus widmete dem Autor gut ein Jahr akribischer Recherche. Und die war auch notwendig. Denn auch in archivalischen Zusammenhängen galt Gustav Sack als vermeintlich unbequemer Autor. Sein Nachlass stand in dem Ruch, ein Torso zu sein, unbenutzbar, ein Archivgrab.

Steffen Stadthaus konnte das Gegenteil beweisen. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach nahm er den Nachlass mehrere Wochen lang in Augenschein und förderte hochspannende Dokumente zutage, die nun erstmals in der Öffentlichkeit zu sehen sind. Dokumente zur Vita eines Autors, der nur 31 Jahre alt wurde, nie einen bürgerlichen Beruf ausübte, wiederholt vom ungeliebten Militärdienst desertierte und dann doch – als Soldat im Ersten Weltkrieg – in Rumänien, in der Nähe von Bukarest, fiel. Zu sehen sind Briefe, Lebenszeugnisse, Fotos sowie Dokumente zur Wirkungsgeschichte, die durch die Schermbecker Ausstellung um ein neues Kapitel bereichert wird. Die von Swenja Limke gestaltete Ausstellung und Begleitbroschüre bietet hinreichend Gelegenheit zur vertiefenden Lektüre. Sie macht geradezu Lust, den Spuren dieses einsamen Genies detailliert nachzugehen.

Walter Gödden