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Louisa Schaefer: Embankment – Embark – Uferböschung – Ausufern

Prosa

Es hieß, die Familie stamme aus Essen. Die Geschichte wurde von der Großmutter überliefert. Die anderen Vorfahren aus einer südlichen Gegend am Rhein. Mir schienen die wenigen erfahrenen Tatsachen ein Witz zu sein, nachdem ich gelernt hatte, was die Wörter auf deutsch bedeuten: der Ur-, Ur-, Urgroßvater war Fleischer und kam aus Essen. Einer, der sich auf den Weg nach Amerika machte. Damals. Das Datum ungewiß.

Die Daten, mein Informationsdrang, meine Neugierde trieben mich, mehr zu erfahren. Historische Gesichter sehen zu wollen. Den Gang eines Körpers. Eine Handschrift. Den Klang eines Wortes, eines Akzents oder Dialekts ins Ohr zu bekommen. Alles, um mich irgendwo zu erkennen.

Das Aufgeben des Vorhabens als die Großmutter starb. Die Entwicklung der Familie, die Geschichte zu erkunden. Gleichzeitig entflammte eine andere Suche.

Die Tatsachen – der Ablauf der Chronologie – scheinen inzwischen überflüssig. Der Fluß nicht. Dieser Strom, egal ob im Ruhrgebiet oder im amerikanischen Midwesten (ein Zufluchtsort für viele Deutsche, damals) ist die einzige Tatsache. Die einzige Wahrheit. Das einzige Wahre. Der Ort, an dem ich mich erfahre. Erkenne.

Jede Stadt, in der ich bis jetzt gelebt habe, lag einem mächtigen Fluß nahe. Und wenn kein mächtiger Fluß, zumindest einer mit Charakter. Der Great Miami in Dayton. Der Ohio in Portsmouth. Der Ohio in Cincinnati. Das kreuz und quer des Miami mit dem Ohio bei Oxford. Die Wupper in Leichlingen. Und nun der Rhein. Köln. Seit inzwischen elf Jahren in dieser rheinischen Stadt. An dieser Stelle dürfte ich doch schon „Kölle“ sagen. Für mich als Ausländerin ist Kölle so selbstverständlich geworden wie der Spruch „Et kütt wie et kütt“.

Irgendwann muß ein Mensch sich fragen, was für vermeintliche Zufälle ihn zu einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit gebracht, geführt haben. Für viele Menschen sind solche Reflektionen ein wiederkehrenden Prozeß. Für andere ein andauernder. Für mich ist dieser Vorgang nirgendwo so intensiv gewesen wie in Köln. Im Laufe dieses Vorgangs fällt die Frage nach Zufall, Selbstbestimmung oder Schicksal weg. Damit offenbart sich die Überzeugung, daß der Weg dahin, hierhin – sowohl gedanklich als auch körperlich – in direkter Verbindung mit dem silber-blauen Fluß steht. Als wäre diese Überzeugung so ausschlaggebend wie ein Geistesblitz, der mit einem Wellenschlag besänftigt wird. Oder eher Feuer, das nicht mit Wasser gelöscht werden kann, sondern in der Kombination zur Elektrizität der Tiefenerkenntnis führt.

Nie zuvor wurde mir diese Überzeugung so klar, bis ich vor drei Jahren mit meinem Mann am Rheinufer stand. Wir hatten zwei Monate zuvor meinen Vater besucht, der schwerkrank in einem Krankenhaus in Dayton lag. Das war im Februar, nun war es ein Freitag Ende April und wir kamen nachmittags von der Arbeit, hatten uns – trotz grauen, bedrückenden Frühlingshimmels – für einen Spaziergang am Rhein verabredet. Vier Jahre schon verheiratet, sprachen wir und hörten noch mit Spannung und Neugierde zu, wie der Tag für den anderen abgelaufen war. Ein ständiger Nachholbedarf jedoch, der nicht immer mit Worten gefüllt werden konnte.

Mein Bruder hatte mich immer wieder über den Zustand meines Vaters informiert. Mein letzter Stand lag zwei Wochen zurück. Obwohl sich dieser Schwebezustand lose in meinem Hinterkopf abspielte, ging das Gespräch mit meinem Mann um die Tagesereignisse. Wir verabschiedeten uns irgendwann vom Betonweg und gingen runter, wo sich die Wiesen nördlich der Stadt ausbreiten. Als wir dem Fluß näher kamen, erreichte das Gespräch einen Punkt und kippte um. In Streit. Wir zankten, mein Mann entfernte sich ein paar Schritte von mir, so daß ich ihn in voller Länge anschauen konnte. Den Blick des leichten Zorns, oder eher das Unverständnis über das Geschehen, als Mienenspiel auf dem Gesicht geschrieben. Nach fünf Minuten Streitens wurde mir die Unwichtigkeit des Themas bewusst. Ich schnitt meine eigenen Worte ab, der letzte Laut eines dumpfen Echos. Das Gesicht meines Mannes plötzlich nicht mehr erstarrt, sondern sorgenvoll fragend. Ich spürte buchstäblich auf Schulter und Rücken den drückenden Aprilhimmel, der sehnte, sich zu öffnen und zu schütten, doch in Unentschlossenheit sich bezähmte und gelähmt blieb. Der Wind entwehte. Die darauffolgende Stille kletterte meinen Rücken hoch. Eine Stille, die mir bekannt war aus der vergangenen Zeit des Aprils 1974. Als Sechsjährige von einem Tornado getroffen zu werden. Genauer, von den Hagelsteinen, die noch vor dem Tornado aus dem Himmel donnerten, nachdem die Stille vorüber war und der Wirbelsturm noch am Horizont lauerte. Die Ruhe vor dem Sturm. Eine Totenstille.

Der Himmel am Rhein, eben noch weiß-grau, schien sich wie damals zu vergilben. Als würden die Konturen eines jeden Luftmoleküls durch die Stille sich gelblich vermalen. In jenem Moment drehte ich mich zum Rhein – langsam und versunken wie bei einer Tai Chi-Übung. Ruhig. Fließend. Mein Blick richtete sich nach oben als ein Vogel den Himmel durchstreifte. Ich spürte, daß mein Mann in gleiche Richtung blickte, fühlte wie sich seine Hand sanft auf meinem Rücken ansiedelte, als der Vogel nach Süden flog. In Richtung meiner Wohnung. Sein Weg, trotz der Jahreszeit, unbeirrt.

Eine Stunde später in meiner Wohnung angekommen, blinkte das Licht des Anrufbeantworters rot. Beim Abhören hörte ich im Hintergrund das leichte Pfeifen eines Zuges, der am Ohio River entlang fuhr, übertragen über Tausende Meilen. Die Stimme teilte mir die gleiche Botschaft mit wie der Zugvogel im Himmel. Der Sturm und Drang, das Leben meines Vaters beendet.

Ein Leben, das sich als Nebensatz bezeichnen ließe. Ein Zufluß. Ein Nebenfluß.
Während ich hier in Köln sitze, nah des Rheins, höre ich wieder das Pfeifen der Züge am Ohio River. Das Beben der Berge und Täler – mir bekannt, egal ob hier oder dort. Die Melodie der Landschaft im Blut wie jedes Molekül Sauerstoff. Der Zusammenfluß der Noten. Pat Methenys „My Road to You“ erklingt im Hintergrund.

Copyright A. Louisa Schaefer, Köln, März 2002


Zuerst erschienen in der Anthologie: „Die Töchter der Loreley: Romantik, Revolution und Feynsinn, Frauen am Rhein“, Anne Jüssen (Hsg.), Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus, 2004.